Materialien 1976

Dankesrede

Walter Adler dankt denen, die durch ihre Mitarbeit und Unterstützung die Grundlage für sein Stück und seine Auszeichnung geschaffen haben, und er versteht das in einem sehr weiten Sinn. Er erinnert sich der Vietnam-, Anti-Springer- und Notstands-Demonstrationen, die ihn zunächst mehr irritierten als zur „Straße“ hinzogen. Voller Ideen, Pläne und Illusionen begann er die Arbeit in einer Rundfunkanstalt; er musste schnell und unmissverständlich feststellen, dass die Argumente, Theorien und Ideale, die er „auf der Straße“ gehört hatte, hier genau wie auf der Straße auf Gegendruck stießen:

… Wenn auch damals verschleierter und indirekter als heute. Wieder wurde meine Existenzangst bestimmender für mein Verhalten als politische Einsicht. Dafür lieferten, als Entschädigung, Industrie und Subkultur Ablenkung und neue Träume. Doch die Argumente der Straße quengelten weiter … Die sogenannte Ölkrise und die Weltwirtschaftskrise haben gezeigt, dass die Politiker hilflos und ohnmächtig gegenüber den übermächtigen Interessen der Konzerne sind. Aber, anstatt uns über ihre Hilflosigkeit und Ohnmacht aufzuklären, inszenieren sie Tag für Tag ein gigantisches Staatstheater-Spektakel, häufen Halb-Wahrheit auf Halb-Wahrheit und ersetzen wahrhaftige Information durch Augenwischerei. Und damit sie weiter die Hauptrollen spielen dürfen, zahlen sie jeden Preis. Notstandsgesetze, Vorbeugehaft, Isolationszellen, militärische Bewaffnung der Polizei, schießwütige Sondertruppen, Berufsverbot und § 88a. Der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Lattmann hat in seiner Bundestagsrede gegen den § 88a, für den er dann bei der Abstimmung aus verinnerlichtem Fraktionszwang doch votierte, behauptet: Weniges bewege die Menschen in der Bundesrepublik dringender als der internationale Terrorismus und die Auswirkungen in unserem Land.

Das glaube ich nicht. Ich glaube, in unserem Land bewegt die Menschen die Arbeitslosigkeit, das Steigen der Mieten und Preise und das Sinken der Löhne. Ich glaube, in diesem Land bewegt die jungen Menschen, wie sie einen Studienplatz bekommen können, oder eine Lehrstelle. Ich bin mir aber nicht sicher …

Jetzt wo ich endlich so weit war, Fragen zu stellen, fehlten die, die mir eine Antwort hätten geben können. Ich musste mir die Antworten selbst zusammensuchen. Mühsam lerne ich lernen. Die, die mir dabei helfen, dürfen ihren Beruf nicht ausüben. Die Bücher, in denen die konkretesten Antworten stehen, soll ich nicht lesen. Während ich mich von den Radikalen belehren lasse und die zensierten Bücher lese, fällt mir auf: Es ist eine alte und bewährte Methode, die Menschen einzuschüchtern, indem man ihnen ein schlechtes Gewissen macht. Ich kenne mich nur mit diesem schlechten Gewissen. Ich weiß nicht, ob es den Radikalen-Erlass für Autoren in den Rundfunkanstalten schon gibt. Ich weiß, dass es ihn in der Industrie gibt und dass bei Wohnungsvermietern schwarze Listen kursieren. Ich bin gezwungen, mich zu verstellen. Ich habe Angst, und es ist auch die Angst vor der Selbstzensur. Wie geschickt muss ich die Wahrheit dosieren und verpacken, damit ich mich selbst und die Dramaturgen und Redakteure, mit denen ich zusammenarbeite, nicht gefährde? Warum wird wieder über mich verfügt, wird mir vorgeschrieben, was ich zu denken habe? Ist es besser, überhaupt keine Gedanken zu haben? Endlich habe ich es geschafft, dass ich meine eigenen direkten Erfahrungen mache. Ich habe Angst, dass ich sie schon morgen vielleicht nicht mehr aussprechen darf. Ich appelliere an Sie als Politiker und Rundfunkverantwortliche. Wenn Sie die freiheitlich demokratische Grundordnung erhalten wollen, kämpfen sie gegen die wirklichen Feinde der Verfassung. Treten Sie ein für die ersatzlose Streichung des § 88a und die sofortige Aufhebung des Radikalen-Erlasses. Vom Plakateabreißen zum öffentlichen Verbrennen ist es nur noch ein Griff zur Streichholzschachtel. Die Gesetze dazu sind gemacht …


kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 3/1976, 4 f.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Zensur

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