Materialien 1977

Das Ende der Megalopolis

Die Radldemo im Juni, über die wir im Blatt berichtet haben, war mitunter ein Versuch, die Stadt auf neue Weise zu sehen: mit ökologischen Augen. Die Elektrizität aus den Atomkraftwerken speist die Supermaschine Stadt, die wir genauso hassen wie die nukleare Stromproduktion, MA-
SCHINE, weil die Stadt einen Alltag organisiert, der bis in die Träume hinein vom abstrakten Rhythmus der Arbeitszeit beherrscht wird. Die heutige Stadt, das ist die völlige Abstraktion von allen natürlichen Rhythmen: von den Jahreszeiten, vom Tag und der Nacht, vom Mondzyklus, vom Herzschlag, Dieser Herrschaft der kapitalistischen Arbeitszeit kann sich weder ein Säugling, noch ein Arbeitsloser, noch ein ausrangierter Opa entziehen. Der Rhythmus der abstrakten Zeit hat sich längst in den alltäglichen Gebrauchsgegenständen festgesetzt: in der U-Bahn und im Auto, in der Armbanduhr und im Neonlicht, in den Kleinstwohnungen und in den Küchengeräten, in den Nahrungsmitteln und in den Medikamenten, ja in der Unterhaltung und im Vergnügen. Diese fast lückenlos Industrialisierung des Lebens ist identisch mit dem Moloch Stadt. Grund genug, dieses Krebsgeschwür genauer unter die Lupe zu nehmen! Der amerikanische Anarchist Murray Bookchin hat ein Buch über die „Grenzen der Stadt“ geschrieben, das nun ins Deutsche übersetzt wurde. (Verlag Jakobsohn Berlin, DM 13.-) Richtig verwendet kann es durchaus zu neuen Erfahrungen einer Bewegung gegen diese überwuchernden Anti-Städte hinführen.

Bookchin verfolgt die historische Entwicklung der Städte. Ursprünglich waren die städtischen Ge-
meinschaften durchaus vom Land abhängig. Entstanden aus religiösen oder politischen Gründen, lebten die ersten Städte der Antike oder in den südamerikanischen Indianergesellschaften zwar vom Überschuss der Agrarwirtschaft und stießen deshalb an lange Zeit unüberschreitbare Gren-
zen. Das hatte natürlich sehr viel mit der damaligen Produktionsweise zu tun. Produktion um der Produktion willen, wirtschaftliches Wachstum als Selbstzweck kennzeichnet erst die kapitalistische Produktionsform und deshalb konnte das Land erst im industriellen Zeitalter vollkommen von der städtischen Lebensweise beherrscht werden. Diese perverse Übermacht über das Land, über den gesamten Planeten drückt so erst der modernen Landwirtschaft ihren brutalen Stempel auf, durch den sich schließlich auch diese in einen grausamen Gegensatz zur Bewegung der Natur gesetzt hat. Auf der anderen Seite wiederspiegelt sich diese Entwicklung in einem absoluten Zerfall ästheti-
schen Empfindens in der Stadt. Mittlerweile graust es selbst den offiziellen Architektenverbänden, die auf ihrer kürzlich abgehaltenen Tagung nur noch das absolute Debakel der heutigen Bauweise und Städteplanung feststellen konnten. Die Herrschaft der abstrakten Zeit, das ist auch die Vor-
herrschaft der geraden Linien, der absolut funktionalen Flächen und messerscharfen Kanten der Betonquadrate.

Bookchin liebäugelt allerdings nicht mit den allerersten Städten der menschlichen Geschichte. Ihn faszinieren die griechischen und die mittelalterlichen Stadtgemeinschaften. Hier sieht er ein GLEICHGEWICHT ZWISCHEN STADT UND LAND verwirklicht, das nur aus einem relativen Gleichgewicht innerhalb des städtischen Gmeinschaftslebens entstehen konnte. In der Polis gruppierte sich das Leben um die Agora, um den täglichen Versammlungsplatz des Bürgers. Darin sieht Bookchin eine Erfahrung, die für ein revolutionäres Stadtbild fruchtbar gemacht werden müsste. Auch in der mittelalterlichen Stadt ist es noch lange nicht der Marktplatz und der Waren-
tausch, der das städtische Leben bestimmt und zersetzt. Die Form der Arbeit war durch das Hand-
werk bestimmt und dies setzte der Herrschaft des Tauschwerts klare Grenzen. Die handwerklichen Gilden lebten untereinander in einem relativen Gleichgewicht. Sie erlaubten zwar einerseits eine eigenständige Entwicklung des städtischen Lebens, insgesamt mussten sie jedoch auf die Bedürf-
nisse, Möglichkeiten und Grenzen des Landes Rücksicht nehmen. So war von der heillosen Unbe-
grenztheit des späteren städtischen Entwicklungstempos noch wenig zu spüren. — Entsprechend Architektur und Stadtplanung.

Ganz anders die städtischen Sammelgebiete des Industriezeitalters: die Strukturierungsprinzipien entfernen sich immer mehr von konkreten Gemeinschaften und Autoritäten. Tragend wird die Anonymität der städtischen Masse und die unbegreifbare Macht, die die abstrakte Herrschaft des Tauschwertes charakterisiert. Die Stadt wird zum totalen und absoluten, ja grenzenlosen Markt-
platz. Haltlos taumelt sie über den planetarischen Raum, (in der BRD gehen jede Minute 700 qm freies Land verloren) nichts und niemand kann diesem Wucherpilz mehr Einhalt gebieten – bis mehr und mehr die inneren Grenzen der Megalopolis sichtbar werden: der umsichgreifende Tod. Die Zerstörung aller Lebensinhalte durch die Warenbeziehungen erweist sich als wachsende Un-
möglichkeit zu atmen, zu riechen, zu schmecken, zu fühlen, zu erleben, wahrzunehmen, zu ruhen, sich wirklich aufzuregen oder zu erregen, echt wütend zu werden, zu lieben und nicht bloß dem Spektakel der wandelnden Neonlichter zu verfallen, die mit ihren stereotypen und genormten Visa-
gen diesen Abglanz wirklicher Begegnungen karikieren.

Dieser Anhäufung von Nicht-Leben gegenüber erscheint selbst das dunkelste Mittelalter als traum-
hafte Realisierung grundlegender Lebenswünsche. Ich hatte oft den Eindruck , dass Bookchin des-
halb einer falschen Idealisierung früherer Zustände verfällt. Eine solche Kritik könnte sein Buch wahrscheinlich auf weite Strecken vernichten. Ich überlasse dieses Geschäft professionellen Nihi-
listen. Mich interessieren jene Momente, die auf lebenswerte Gesichtspunkte der menschlichen Geschichte aufmerksam machen.

Bookchins Vision ist eine ökologisch lebendige städtische Gemeinschaft, die nicht einfach vor den gesamten „Errungenschaften“ der Zivilisation davonrennt. Sein Traum ist eine Stadt, die sich zum Land und damit zur Natur und ihren Kreisläufen nicht im Gegensatz sieht, sondern als sinnvolle Ergänzung. Dies bedeutet aber auf jeden Fall das Auseinandernehmen der heutigen unförmigen Gebilde. Die Revolte wird hier die heilige Aufgabe des Abbaus übernehmen müssen. In diesem Sinne müsste auch die Quälende Frage des Erdinger „Rudi“ (Blatt 104) aufgenommen werden: tatsächlich ist das Land heute genauso kaputt wie die Stadt. Nur die gegenseitige Unterstützung aller revolutionärer Zersetzungsprozesse und Ansätze zum Aufbau einer radikal neuen Welt wird sich in Richtung der berechtigten Hoffnungen bewegen, die wir uns noch lange nicht nehmen lassen.

rädli


Blatt – Stadtzeitung für München 106 vom 21. Oktober 1977, 16.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Atomkraft

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