Materialien 1977

Der 16-Tage-Horror-Trip

Jetzt mach ich den Job schon zum dritten Mal. Bereits beim ersten Mal hab ich gehofft, es wäre das letzte Mal, aber ich bin halt auch in diesem Jahr auf das Geld angewiesen … Also geh ich am 17. September mittags raus auf die Wiesn, rein ins Schottenhammel-Zelt, sag Grüß Gott zu meiner Arbeitgeberin der Herzlstandlbesitzerin, und zu meinen Kolleginnen, krieg eine Geldtasche, Armbinde, Gürtel und eine Stange, an deren Haken ich Schokoladenherzln, Hüte, Plüschtiere und meine zarteren Saiten aufhänge, stemme die 8 oder 10 kg in die Halterung am Gürtel, übe noch schnell mein charmantestes Herzlmädllächeln ein und stürze mich ins Gewühle mit einem Gesicht, als wollte ich jeden einzelnen im Zelt für den hohen Bierpreis entschädigen.

Schon am zweiten Biertisch beschleicht mich ein vertrautes Gefühl, als ich den ersten Spruch zu hören kriege: „Na, des Herzl mog i ned, dei Herzl waar ma scho liaba!“ Oh je! Ich lach, weil’s ja lustig gemeint war, sag zum 3683sten Mal: Nix zu machn, is schon vergebn! und gehe weiter.

Ich klappere auf meiner ersten Tour systematisch jeden Tisch ab, tu so, als meinte ich mit meinem Lächeln jeden Gast persönlich, und versuche das „Oans, zwoa, g’suffa“ der Kapelle mit dem Ruf „Herzl, Hiadl!“ zu übertönen. Manche kaufen was, die meisten aber ignorieren mich, schaun mich entgeistert oder nur stumpfsinnig an, oder lehnen einen Kauf entsetzt ab, als ich ihnen die tatsächlich überhöhten Preise nenne. Und immer wieder Sprüche wie: „Wos kost’n dei Herzl?“ oder: „Di dat i scho kaffa, wos kost’n du?“ – Sprüche, die jedes Herzlmädl zu hören bekommt. Dazu bei mir noch speziell Anspielungen auf mein nicht gerade üppiges „Holz vor der Hüttn“, handgreiflich meistens und nicht eben originell: „Kummst du aus Mönchen-Gladbach?“ oder: „Host du heit dein Busn dahoamlassn?“ Anfangs bin ich auf tausend Hände am Hintern gefasst gewesen, hab’ aber bald festgestellt, dass fast alle Männer eindeutig busenfixiert sind. Manchmal fühlt einer den Drang zur (Mutter-)Brust sogar so stark, dass er einfach blitzschnell hineinbeißt.

Gegen Abend steigt allmählich die Stimmung im Zelt. Dies wirkt sich positiv auf den Umsatz aus, aber wegen des Gedränges wird auch die Arbeit anstrengender. Auch die Handgreiflichkeiten nehmen zu, werden gelegentlich schon ganz brutal. Einen Mann, der während des restlichen Jahres so hinlangt, den wirft man sofort raus; auf der Wiesn aber gilt das als lustig. Wenn mir da die Hand ausrutscht, was höchst selten vorkommt, dann versteh ich halt keinen Spaß, ich „blöde Goaß“. (Am letzten Wiesentag passiert’s mir sogar, dass einer zurückschlägt, während mich seine Freunde festhalten.)

Aber noch bin ich frisch genug, mich von solchen Zwischenfällen mit Hilfe eines Schlucks Bier rasch wieder zu erholen, zumal die Geschäfte ganz gut laufen.

Etwa um 22.30 Uhr rechne ich ab und kassiere meine zwanzig Prozente Provision abzüglich Lohnsteuern. Ich bin zwar müde und erschöpft, wundere mich aber, dass es mir nicht schlechter geht. Erst nach dem zweiten Tag wirken sich die Anstrengungen voll aus; Taille, Hüfte und Armmuskeln schmerzen vom Gewicht der Stange, im Kreuz und im Nacken fängt es an zu ziehen. (Die Füße tun kaum weh, anscheinend hab ich gute Schuhe.)

Dann kommen einige Wochentage, an denen ich nach physisch und psychisch strapaziöser Arbeit mit 40,50 müden Mark nach Hause gehe. Ich ertappe mich dabei, dass meine gute Laune genau wie bei den anderen Verkäuferinnen vom guten Geschäft abhängt. Ich geniere mich deswegen ein bisschen vor mir selber, sag mir aber dann, dass es in diesem Zelt ja sonst nicht viel gibt, woran man sich freuen kann – und spül’s mit einem Schnaps von der Chefin runter. Die ist natürlich auch an guten Geschäften interessiert und versucht uns mit gelegentlichen Doppelkörnern bei Laune, respektive Stange zu halten. Trotzdem fällt mir mit jedem Tag das ewige Lächeln schwerer, die immer gleichen blöden Sprüche kann ich nicht mehr hören und überhaupt hängt mir dieses ganze Theater allmählich zum Hals raus. Die Wiesn beherrscht nicht nur immer mehr meine Tage, ich träume auch noch von ihr. Jeden Morgen komme ich schwerer aus dem Bett, nicht weil ich müde bin, sondern weil’s mir bei dem Gedanken, bald wieder auf die Wiesn zu müssen, einfach graust.

Das liegt auch nochmal mit daran, dass teilweise noch ganz schöne Konkurrenzgeschichten zwischen den Verkäuferinnen ablaufen:

 Ausnutzung langjähriger Erfahrungen, die nicht weitergegeben werden;

 Anbieten billigerer Herzln, indem die „altgediente“ Kollegin mit der Standlbesitzerin einen niedrigeren Pauschalpreis auszuhandeln vermag;

 immer kurz hinter einer Kollegin herlaufen; die wird so zur Anreisserin für Langüberleger und Kaufunentschlossene, so dass man dann selbst kassieren kann.

Gelegentlich gibts aber sogar G’schichten auf der Wiesn, wo’s einem richtig warm ums Herz wird. Leider sind die äußerst dünn gesät, ebenso wie die Leute, von denen ich wirklich sagen kann, dass ich sie mag: der Heinz oder der Walter, oder so a Gmoa von (im besten Sinn) g’standne Münchner, die fast jeden Tag da sind. Bei solchen Leuten erhol ich mich, trink mit ihnen und ratsch a bisserl.

An einem müden Tag sitze ich bei einem Stammgast und rauche eine Zigarette. Da kommt einer und sagt: Sie kennen doch die Geschichte mit dem Rauchen! Ich merke zu spät, dass es der Herr Schottenhamel persönlich ist, mein oberster Chef also, der es nicht mag, wenn seine Untergebenen während der Arbeit rauchen. Heut drückt er nochmal ein Auge zu, meint er, aber er möchte mich nicht wieder erwischen. Abends erfahre ich, dass er sich über mich beschwert hat. Ein paar Tage später laufe ich ihm mit einer Zigarette über den Weg. „Drücken Sie sofort die Zigarette aus!“ fährt er mich an. Ich bin eh grad sauer, er kehrt den Chef raus – „SIE, ich warne Sie!“ -, ein kurzer scharfer Wortwechsel, zum Schluss drücke ich die Zigarette doch aus. Am Abend erfahre ich, dass er sich über mich beschwert hat.

Zwei Tage später begegne ich ihm wieder, diesmal ohne Zigarette. Er sitzt an einem Tisch, ich lege ihm übertrieben vertraulich den Arm um die Schultern und frage ihn mit meinem charmantesten Lächeln: „Ham Sie nicht mal ne Zigarette für mich?“

Abends erfahre ich, dass er sich bitter über mich beschwert hat. Und dann erfahre ich noch, dass ich dem Herrn Schottenhamel 50.- DM bezahlen soll. Das gilt für jede Herzlverkäuferin. Die Standbesitzerin zieht das Geld von der Provision ab, um es an den Wirt weiterzuleiten, wie sie sagt. Ich will genau wissen, wofür ich dieses Geld berappen soll. Das sei eine Leihgebühr für meine Armbinde (mit dem Aufdruck Schottenhamel). – Aha. Dann bekomme ich doch das Geld wieder heraus, wenn ich die Armbinde zurückgebe? – Nein. Das Geld ist für die Arbeitserlaubnis in diesem Zelt, ist doch klar.

Gar nichts ist klar. Am nächsten Morgen rufe ich hundert Ämter an. Vom Stadtsteueramt endlich erfahre ich, dass das Ganze eine privatrechtliche Sache ist, der eine Wiesenwirt verlangt was, der andere nicht. Der Schottenhamel tuts halt. Der freundliche Steuerbeamte macht mich darauf aufmerksam, dass die 50.- DM absetzbar sind. Quittung also.

Ich verlange von der Standfrau die bereits geleistete Anzahlung zurück, weil ich die Gebühr oder was immer es ist, dem Wirt persönlich gegen Quittung aushändigen möchte. Sie weigert sich, falls ich darauf bestehe, droht sie mir den Rausschmiss an. „Begründung: Sie will keinen Ärger mit dem Wirt bekommen. Ich begreife nicht, weshalb sie deshalb Ärger bekommen soll, und sie begreift nicht, dass ich das nicht begreife. Das begreife ich schön langsam. Ich lasse vorläufig das Thema fallen und zahle. Doch ich hab noch herausbekommen, wies wirklich läuft: Der Wirt verlangt dieses Geld für jeden einzelnen des Personals vom jeweiligen unmittelbaren Arbeitgeber.

Dass unsere Standfrau ihrerseits diese ihre Kosten auf uns umwälzt, davon weiß er nichts. Aha. Dachte ich’s mir doch. – Ich habe gehört, dass unsere Standfrau großzügig ist. Ich habe meine Zweifel. Nicht nur wegen der 50-Mark-Geschichte. Da erzählt mir ein Mädchen, dass ihr bei einer Abrechnung DM 60.- übriggeblieben sind. Die ehrliche Haut meldet es, weil sie denkt, dass vielleicht ein Rechnungsfehler vorliegt. Es wird kein Fehler gefunden, trotzdem knöpft die Standfrau dem Mädchen das Geld ab. Einer anderen Kollegin ist das Gleiche passiert. Als Begründung sagt die Standfrau, dass sie ja auch großzügig sei, falls wir ein Minus in der Kasse hätten. Das stimmt. Jenem Mädchen fehlten nämlich einmal 18 Mark, die es nicht aus eigener Tasche bezahlen musste. Nur hat sie dieses Defizit mit insgesamt 95.- DM wohl mehr als ausgeglichen.

Überhaupt lohnt sich die Wiesn finanziell, trotz lautstarkem Gejammer, sehr wohl – nur eben, wie üblich, hauptsächlich für die Unternehmer. Und die genieren sich nicht, ihre paar Mark zusätzlich auch noch den Kleinverdienern aus der Tasche zu ziehen. Zwar kann man auch als Lohnarbeiter auf der Wiesn immer noch mehr verdienen, als bei einem vergleichbaren Job irgendwo sonst, nur haben die meisten dabei einen 8 – 10-Stunden-Tag und die Arbeit ist unvergleichlich strapaziöser. Ich persönlich hab’ bei diesem Horrortrip mit Alpträumen in diesem Jahr 1.500.- verdient; vor zwei Jahren waren’s noch 2.000.- DM.

Doch eines hab ich von der Wiesn wirklich profitiert: mir ist wieder so richtig bewußt geworden, was Lohnabhängigkeit eigentlich heißt, obwohl ich längst über genug einschlägige Erfahrungen verfüge. Und dazu kommt noch ein weiteres beschissenes Gefühl: Dass man bei diesem Job seinerseits wiederum die Leute ausbeutet. Zwar schere ich mich während der sechzehn Tage im allgemeinen den Teufel drum, schließlich will ich auch leben; gelegentlich stößt’s mir aber doch auf, besonders, wenn ich merke, dass sich einer von mir und meinem professionellen Lächeln zum Kauf genötigt fühlt, obwohl er es sich eigentlich nicht leisten könnte.

Noch ein paar Details: Unsere beiden (richtig lieben) Garderobefrauen bekommen ihren Lohn nicht etwa vom Arbeitgeber, dem Wirt, sondern vom Personal, und zwar in Form von Gebühren (80 Pfennig) und Trinkgeld. Die Klofrauen bekommen für die sechzehn Tage bei einem 13-Stunden-Tag 550.- DM. Eine hat erzählt, sie habe 50.- DM mehr verlangt, worauf der Wirt in bewährter Unternehmermanier gesagt habe, wenn sie nicht zufrieden sei, könne sie ja gehen; er fände genug, die’s für 550.- machten. Sie ist geblieben.

Ich auch. Bis zum letzten Tag. Aber das war nun endgültig der letzte. Keine zehn Pferde bringen mich mehr auf die „fröhliche“ Wiesn mit den „gemütlichen“ Bierzelten. Weil auf da Wiesn, da hört si de G’miatlichkeit auf.

Herzl


Blatt – Stadtzeitung für München 106 vom 21. Oktober 1977, 17 f.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Frauen

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