Materialien 1977
Hand in Hand
„… denn die Verflechtung von Polizei + Presse ist in dieser Stadt fast schon widerwärtig.“
(aus: Stadtbuch für München).
Ralf R. wurde im Herbst 1973 bei einer „Großrazzia in ganz Bayern“ (Bild-Zeitung) festgenommen und in U-Haft gesteckt. Ihm wurden mehrere Straftaten vorgeworfen und die – kriminelle Vereinigung. Nach einem halben Jahr, als Haftprüfung drohte, wurde der Haftbefehl aufgehoben. Jetzt, drei Jahre später, präsentiert die Staatsanwaltschaft dem Gericht ihre Ermittlungsergebnisse in Form einer Anklageschrift, bietet 45 Zeugen auf – größtenteils Kripobeamte und Personen, gegen die noch in der selben Sache ermittelt wird – fordert den Prozess und beantragt erneut Haftbefehl. Ralf R. stellt das Gesuch, die Einspruchsfrist gegen die Anklageschrift zu verlängern. Dem ist vom zuständigen Gericht bis heute nicht widersprochen worden. Im Klartext: Es ist zwar wahrscheinlich, dass der Prozess stattfindet, es ist aber noch nicht entschieden. Das allerdings kümmert Herrn Johann Freudenreich, Gerichtsschreiber der Süddeutschen Zeitung, nicht im Geringsten. Unter der Überschrift:
„Sie wollten Münchens Stadtguerilleros werden – Staatsanwaltschaft schließt Ermittlungen gegen Anarchistengruppe ab – Einer gefasst und angeklagt“ bringt er am 13. Januar 1977 einen seiner berühmt-berüchtigten Artikel unters Volk, mit Information und in einer Schreibe, die ihren Ursprung unzweideutig bei den Ermittlungsbehörden haben. Wie gehabt – „objektiv“!
Nicht nur, dass die Ermittlungsbehörden immer einen Schuldigen präsentieren müssen (das ist ihre Funktion, und wer gibt schon zu, das da nichts ist, was zum „Terroristen“ ausreicht) – Herr Freudenreich verklickert uns die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft als bare Münze: … Es wurde geplant, … es wurde beschlossen, … es wurden Einbrüche verübt, … sie nahmen teil …, so dass der Eindruck entsteht: die haben es gemacht.
Weiß Herr Freudenreich nicht, dass ein Angeschuldigter so lange für unschuldig zu gelten hat, bis ein Richter ihn verurteilt hat? Doch, er weiß es. Nur – er macht es immer so. Reine Routine. Er geht weiter: Fünf mal nennt er den Beschuldigten beim vollen Namen. Obwohl das nur bei Schwer-Kriminellen der Fall ist und bei (zur Tatzeit) Heranwachsenden nicht erlaubt ist. Warum? Weil – so Herr Freudenreich – es so viele R.s im Telefonbuch gäbe, dass die Anonymität gewahrt sei. Warum dann der Name Joachim H. abgekürzt, während die anderen drei voll ausgeschrieben sind? – Aus Pietät, sagt Herr Freudenreich. (Joachim H. war an einer Plastiktüte über dem Kopf erstickt, als er in seiner Zelle Pattex schnuppern wollte). Edle Motive? – Feststeht, dass Joachims Vater Polizeibeamter ist.
Volker Schlöndorf und andere schreiben einen Leserbrief zu dem Artikel und schicken ihn an die SZ:
Abgesehen davon, dass der Artikel gewisser Komik nicht entbehrt, weil er sich mit irgendwelchen ‚Lausbubenstreichen’ befasst, die nicht mal ‚verbrochen’ wurden (so der Art.: ‚sie sollen Fensterscheiben … sie planten Anschlag … etc.’, an Stellen wie: ‚Sie nahmen an einem sogenannten Guerillatraining teil, bei dem Zielübungen auf Telegrafenmasten veranstaltet wurden’ wirds konkreter, man beachte: ‚sie nahmen teil’), sehe ich dennoch den Ernst dieses Artikels. Herrn Freudenreichs Praxis besteht darin, gegen einige (Rocker, Ladendiebe, Automatenknacker, politisch und sozial motivierte Täter) Stimmung zu machen und sie zu denunzieren, wenn er Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft und deren ‚Ergebnisse’ preisgibt, wenn er die Verdächtigten mit vollen Namen nennt, während andere Prozesse (Wirtschaftskriminalität) in seiner Berichterstattung überhaupt nicht vorkommen. (Eine ausführliche Analyse der Freudenreich-Artikel wäre eine interessante Arbeit für Studenten der Zeitungswissenschaften.) Wenn ein Pressemann die Akten der Staatsanwaltschaft derart genau kennt, befugt oder unbefugt, se in die Öffentlichkeit trägt als ‚bewiesene’ Tatsachen, so als gelte es nur noch über die Höhe des Strafmaßes zu verhandeln, dann drängt sich der Verdacht auf, dass
1. Presse und Staatsanwaltschaft in engem Verhältnis zusammenarbeiten,
2. dass die Presse, in diesem Fall Herr Freudenreich, es sich zur Aufgabe macht, Leute, die einer Tat verdächtigt werden (in diesem Fall sogar nur eine unbewiesene Absicht zur Tat) zu denunzieren (die Preisgabe der vollen Namen),
3. dass Herr Freudenreich befugt ist/wird, durch dergleichen Artikel eine Vorverurteilung öffentlich abzusichern und das richtige ‚Prozessklima’ herzustellen.
Jeder demokratisch denkende/fühlende Mensch sollte wachsam sein/werden, wenn sichtbar wird, dass
1. demokratische Grundrechte von Bürgern – nämlich der Schutz, für unschuldig zu gelten, solange ein Gerichtsverfahren noch ansteht – missachtet werden, und wenn
2. sichtbar wird, dass die Presse, die als öffentliches Meinungsmedium fungiert, dieses Grundrecht leichtfertig außer Acht lässt, ja, gar durchbricht!
Die SZ setzt sich mit solchen Artikeln den gleichen Vorwürfen aus, wie die in Heinrich Bölls ‚Verlorene Ehre der Katharina Blum’ gemeinte Presse.
Volker Schlöndorff und viele andere,
deren Namen aus oben ersichtlichen Gründen nicht genannt werden.
Dieser Leserbrief wurde nicht abgedruckt. Herr Freudenreich antwortete mir; gerade er berichte häufiger als sonst einer in Sachen Wirtschaftskrimi. Weiter heißt es: „Ich pflege über alle strafbaren Vorfälle, je nach Wichtigkeit für die Bevölkerung, unabhängig und sachlich zu berichten.“
Pardon!!! Ich will nichts Falsches behaupten, es kam mir nur so vor. Also erst mal die Artikel analysieren. Wer machts ? Aber: Wie wichtig ist eine eingeschmissene Fensterscheibe für die Bevölkerung? In Altötting?! Wie wichtig ist die Veröffentlichung der Namen von mutmaßlichen Missetätern?! Ich frage ja nur … Auf den Artikel und die Funktion eines solchen wird in der Antwort der SZ nicht eingegangen.
V. S.
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UNABHÄNGIG?
In einem Brief an den Vorsitzenden der 5. Strafkammer des Landgerichts München I wirft Ralf den Justizstellen vor, gewollt und gezielt Informationen und sogenannte Erkenntnisse weiterzugeben, über die die Presse dann „berichtet“. Wie sonst sei es zu erklären, dass „Tatbestände“ und Formulierung des Artikels bis auf den Wortlaut deckungsgleich mit der Anklageschrift sind und die durchweg konkret angeführten Daten und Zahlen SO nur in der Anklageschrift auftauchen?
Ralf: „Weiß die Sta. nicht zu genau, wem sie Informationen zukommen lässt, mit welcher eindeutig schon vorverurteilenden Tendenz von diesem Herren über Ermittlungsergebnisse ‚berichtet’ wird, wessen Position dadurch gestärkt wird und wessen geschwächt? Die Staatsanwaltschaft und jede Justizstelle weiß, was sie tut, wenn sie einen Namen zusammen mit Begriffen wie ‚Stadtguerilla, Baader-Meinhof-Bande, Marighela’ usw. in die Presse lanciert. Wie dann über Ermittlungsergebnisse ‚berichtet wird …’ Wie einfach es nach so einem Artikel sein wird, eine Anklage vor dem LG zu erreichen. (Wogegen ich Einspruch erhebe). Wer wird sich noch aufregen, wenn zum Prozessbeginn ‚Polizeischutz’ beantragt wird?“
Ralfs Eindruck bestätigte sich in einem Gespräch, das er am 14. Januar mit Herrn Freudenreich führen konnte – nachdem seine Aktentasche vorher auf Bomben untersucht worden war: „Herr Freudenreich erkannte mich nicht nur auf Anhieb, nannte mich sogar mit meinem zweiten Vornamen; er gefiel sich auch in kurzen Zwischenbemerkungen, die den Eindruck eines ermittlungsführenden Organs erweckten, das über ‚den Stand der Dinge’ genau Bescheid weiß. Im Einzelnen teilte er mir folgendes mit: Er hätte einen ‚Tipp’ bekommen, könne aber, das sei grundsätzlich und ich müsse es verstehen, seine ‚Informationsquellen’ nicht nennen. Auf meinen Einwurf, er würde doch offensichtlich die meines Wissens nach noch nicht einmal zur Anklage zugelassene Anklageschrift zitieren, erklärte er lächelnd, das könne nicht sein, weil er gar keinen Einblick in meine Anklageschrift haben dürfe. Er erklärte dann weiter, das ganze sei eine Routinesache, er hätte sich telefonische Auskunft bei dem Justizsprecher Reinhard Beck eingeholt.“
Das heißt, Herr Freudenreich berichtet über etwas, das er gar nicht nachprüfen kann. Seine Unwissenheit hält ihn aber nicht davon ab, stramm vom Leder zu ziehen, ein Vor-Urteil zu fällen und so den Prozess in eine gewünschte Richtung zu lenken. Als Vollstreckungsgehilfe der Staatsanwaltschaft.
Blatt – Stadtzeitung für München 87 vom 4. Februar 1977, 4 f.