Materialien 1977

Der Prozess

Wer da glaubt, dass mit der Urteilsverkündung am 28. April in Stuttgart Stammheim der Prozess gegen die Angehörigen der Roten-Armee-Fraktion (RAF) zu Ende sei, der befindet sich auf dem Holzweg. Dieser Prozess war ein Stück Geschichte und er wird Geschichte machen und wir alle werden mehr oder weniger davon betroffen werden. Wer vor Stammheim die BRD einen Rechtsstaat nannte, kann für sich die Entschuldigung der Naivität in Anspruch nehmen. Nach Stammheim gilt diese Entschuldigung nicht mehr, wer da heute noch ohne rot zu werden von einem rechtsstaatlichen Verfahren spricht, entlarvt sich als Demagoge und Handlanger des staatlichen Unterdrückungsapparates.

Stammheim war ein Prozess der Demaskierung, den keiner übersehen kann und konnte. Zum Prozessbeginn konnte die Süddeutsche noch schreiben: „Das frühere Auftreten Jean-Paul Sartres in Stammheim und gegenwärtige Veröffentlichungen in Schweden zeigen überdies, dass es den Sympathisanten im Ausland gelungen ist, eine historisch noch verständliche Skepsis gegen unsere staatliche Ordnung kampagnenhaft auszubeuten. Kein Wunder, dass nun die Welt – wenn auch nur für einen Augenblick – nach Stammheim blickt: Eine Chance zur Richtigstellung. Ein Prozess steht also bevor, der mehr sein wird als bloße Verbrechensbekämpfung.“ (Süddeutsche Zeitung vom 21. Mai 1975)

Nach Stammheim muss selbst der vom Gericht bestellte Pflichtverteidiger Manfred Künzel – ein Schüler Prinzings – eingestehen: „Der Rechtsstaat hat sich kaputt gemacht!“ („Spiegel“ Nr. 18 vom 25. April 1977) Stammheim war auch nicht – wie viele argumentieren, um zu verdrängen, dass auch sie betroffen sind – eine Ausnahme, sondern Manöverplatz der Staatsschutzorgane. Hier wurde erprobt wie weit man schon wieder gehen kann, hier wurde demonstriert, wie alles schon wieder möglich ist:

1. Eine Vorverurteilung durch Politiker, Justiz und Medien: praktisch eine innerstaatliche Feinderklärung. (Hierzu gehört Bundeskanzler Schmidt mit seiner Äußerung kurz vor Prozeßbeginn: „… der harte Kern der kriminellen Baader-Meinhof-Vereinigung, dem zahlreiche Morde, Mordversuche, Sprengstoffattentate, Banküberfälle zur Last zu legen sind …“ Hierzu gehören auch die vom Staatsschutz lancierten Gerüchte über einen Bombenanschlag auf Stuttgart, Raketenanschläge während der Fußballweltmeisterschaft und die Vergiftung von Trinkwasser.

2. Auf den Prozess zugeschnittene Gesetzesänderungen:

a) Änderungen der hundertjährigen Strafprozessordnung, damit gegenüber der Stammheimer Blockanklage ohne Individualisierung von Tatbeständen eine Blockverteidigung unmöglich ist (Verteidigerausschlussgesetze);

b) Die Überwachung der Verteidigerpost;

c) Eine Neufassung des § 129 (129a: terroristische Vereinigung, die auch eine Anklage wegen einer „kriminellen Vereinigung“ innerhalb des Knastes erlaubt; d) Die Möglichkeit einen Prozess auch in Abwesenheit der Angeklagten zu führen. Diese Lex-RAF wurde sogar weitgehendst vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet (§§ 138a, 146, 221a StPO)

3. Unter Verstoß gegen Art. 101 des Grundgesetzes, Art. 6 der Menschenrechtskonventionen und § 16 des Gerichtsverfassungsgesetzes wurde der für den Prozess zuständige Richter Hänle versetzt und Prinzing zum Vorsitzenden Richter ernannt. („Diese Erfahrungen, sein Durchblick, sein Durchsetzungswille und der erkennbare Ehrgeiz waren es, die auf ihn deuteten, als man 1973 in Stuttgart nach dem geeigneten Mann für den Baader-Meinhof-Prozess suchte.“ schrieb die „Welt“ am 17. Mai 1975)

4. Ein unter Aufsicht der Polizei tagendes Gericht (Dazu RA Künzel zum „Spiegel“: „Ich kann mir schon nicht mehr vorstellen, wie ein Richter, der jahrelang bewacht wird wie ein Häftling, wie der noch die notwendige innere Freiheit aufbringen kann.“

5. Konspirative Zusammenarbeit zwischen Gerichtsvorsitzenden Prinzing und Bundesrichter Mayer, der seinen Duzfreund Kremp, Chefredakteur der „Welt“ laufend mit geheimen und prozessinternen Material versorgte. Mayer an Kremp: „In derselben Sache wende ich mich heute wiederum an Dich. Vorige Woche ist in Stuttgart-Stammheim das frühere Bandenmitglied Gerhard Müller als Zeuge vernommen worden. Ich übersende Dir als Anlagen 1. auszugsweise Ablichtungen der kriminalpolizeilichen Vernehmung Müllers (S. 46, 95, 180), 2. Auszug aus dem (vom Tonband übertragenen) Wortprotokoll vom 13. Juli 1976 …“

6. Verhandlung trotz der von neutralen Gutachtern bestätigten Verhandlungsunfähigkeit und Verhandlung ohne Angeklagte.

7. Die Zerstörung der Verteidigung durch den Ausschluss von insgesamt dreizehn Anwälten, unter ihnen Croissant, Groenewold und Ströbele. Hier hat sich besonders der frühere Generalbundesanwalt Buback hervorgetan, der grundsätzlich jedem Vertrauensanwalt der Inhaftierten Verbindung oder Unterstützung mit/von „Terroristen“ vorwarf, ohne dass bis heute Beweise dafür vorgelegt wurden.

8. Die Beweisaufnahme, Kernstück jedes Strafprozesses, wurde vom Stammheimer Gericht zum Beweisvereitelungsverfahren degradiert:

a) obwohl dem Verteidiger uneingeschränkte Akteneinsicht zusteht, durften die Stammheimer Anwälte nur etwa die Hälfte aller Akten einsehen;

b) Die Bundesanwaltschaft legte streng geheime Akten an, welche die Verteidigung nicht kennen lernen durfte, weil sonst das „Wohl der ganzen Republik“ gefährdet werden würde. Wurde aber durch Zufall die Existenz einer Geheimakte entdeckt, dann ließ die Bundesanwaltschaft den Bundesminister der Justiz die Akte vor den Verteidigern sperren;

c) Die Verteidiger durften zwar auf eigene Kosten Zeugen laden, erschienen diese aber, lehnte das Gericht eine Anhörung ab.

9. Auf Anordnung der Minister Schieß und Bender wurden die Gespräche der Verteidiger mit den Inhaftierten abgehört, ein klarer Verstoß gegen den § 148 der Strafprozessordnung und Grund für die sofortige Einstellung des Prozesses. Dazu der vom Gericht bestellte RA Künzel im „Spiegel“: „Ja, ich würde auch eine Einstellung des Verfahrens in Kauf nehmen. Erst ein solcher ‚Skandal’ wäre vielleicht, auf lange Sicht, für unser Rechtsbewusstsein ein heilsamer Schock. Unsere Justiz hat es nie richtig verstanden, eine eigenständige, unabhängige, dritte Gewalt zu werden. Die Exekutive steuert zum Beispiel die Wahrheit durch beschränkte Aussagegenehmigungen und nun auch noch diese Beeinträchtigung der Verteidigung, eines Organs der Rechtspflege. In dieser Situation gehört wohl die Entscheidung: Akten zu, Fall aus.“

Nicht aufgeführt in dieser Liste sind all die anderen, unzähligen Verstöße und Schikanen, die den Prozess zur Farce werden ließen, die Razzien in den Zellen mit der besonderen Zielrichtung auf Verteidigungsunterlagen, die fragwürdigen Haft- und Durchsuchungsbefehle gegen die Anwälte, die Beschlagnahmungen von Verteidigerunterlagen, die unbewiesenen Beschuldigungen usw. Aber all das gehört inzwischen zum bundesweiten Alltag jedes Anwalts, der einen für den Staat unbequemen Angeklagten verteidigt.

Stammheim ist nicht Ausnahme, sondern Modell; angefangen von den offen militarisierten Fahndungsmaßnahmen, die 1972 gegen die Angehörigen der RAF eingeführt wurden und die heute gegen Rocker und Autofahrer angewendet werden, über die Isolationshaft als Produkt der Verwissenschaftlichung der Folter, zuerst an den RAF-Genossen ausprobiert und inzwischen zum Prinzip des bundesdeutschen Strafvollzugs erhoben bis zur Eskalation der Putativ-Notwehr zum gezielten Todesschuss, mit dem heute mitunter vierzehnjährige Mopeddiebe erschossen werden.

Stammheim als Modell für Deutschland, d.h. bewaffnete und uniformierte Polizisten innerhalb und außerhalb der Gerichtssäle. Gestern noch hieß es, sie dienten nur zum Schutz der Richter, Staatsanwälte und Zeugen, heute stehen sie vor linken Buchhandlungen, vor den Redaktionsräumen alternativer Zeitungen, vor den Hauseingängen von Wohngemeinschaften und terrorisieren (lateinisch: terrere = ängstigen) Bewohner und Besucher. Die permanente Präsenz uniformierter und bewaffneter Polizisten gehört heute zum grauen Alltag der Bundesrepublik, sei es auf einer Demonstration von Schülern für bessere Schulräume, sei es vor einem Kernkraftwerk, vor einer bestreikten Fabrik oder sogar in einem Fußballstadion. Man hat sich (leider) fast schon dran gewöhnt und die Massenmedien halten es nicht einmal für nötig, dagegen zu protestieren.

Stammheim als Modell für Deutschland, d.h. auch an Ulrike Meinhof denken, die am 9. Mai 1976 unter bis heute nicht geklärten Umständen im Stammheimer Gefängnis ums Leben kam. War es Mord? War es Selbstmord als Folge der Isolationshaft? Sie selbst schrieb vor Jahren nach achtmonatiger Isolierung:

„Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf, (das Gefühl, die Schädeldecke müsste eigentlich zerreißen, abplatzen) das Gefühl, das Gehirn schrumpelt einem allmählich zusammen wie Backobst. Das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf: die Zelle fährt; nachmittags wenn die Sonne reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen. Man kann das Gefühl des Fahrens nicht absetzen. Man kann nicht klären ob man vor Fieber oder vor Kälte zittert. Man kann nicht klären, warum man zittert, warum man friert. Um in normaler Lautstärke zu sprechen, Anstrengungen wie für lautes Sprechen, fast Brüllen. Das Gefühl, man verstummt – man kann die Bedeutung von Worten nicht identifizieren, nur noch raten. Klares Bewusstsein, dass man keine Überlebungschancen hat; völliges Scheitern das zu vermitteln; Besuche hinterlassen nichts. Eine halbe Stunde danach kann man nur noch mechanisch rekonstruieren, ob der Besuch heute oder vorige Woche war …“

Der Tod von Ulrike steht nicht allein. Auch Holger Meins verreckte im Knast ebenso Siegfried Hausner, und Katharina Hammerschmidt starb kurz nach der Entlassung an den Folgen der Haft. All das ist mit dem Stammheimer Prozess verbunden, kann nicht abgetrennt werden, selbst nicht der Tod eines Horst Rakow. Seit Stammheim kann keiner mehr sagen, er wisse nichts über die Haftbedingungen in den Justizvollzugsanstalten. Nur der ehemalige Generalbundesanwalt Buback hat von nichts gewusst. So erklärte er am 16. Februar 1976 gegenüber dem „Spiegel“: „Die Untersuchungshaft führt jedenfalls nicht zu Persönlichkeitsveränderungen.“ Hatte er nie die Untersuchungsergebnisse der neutralen Gutachter gelesen, nie die zahlreichen Schilderungen von Gefangenen, die am Knast, im Knast starben, sich das Leben nahmen? Oder hat er es gewusst und sagte bewusst die Unwahrheit? Er sagte damals ja auch: „Das Haftrecht zu verschärfen, ist eigentlich eine von den Maßnahmen, die man als eine Art Korrektur der zu weit gehenden, früheren Liberalisierungen auffassen kann.“ und: „In der Praxis finden wir da immer einen Weg. Zwischen Herrn Herold, dem BKA-Chef, und mir funktioniert die Zusammenarbeit reibungslos. Da brauchen wir keine Zuständigkeitsregelung. Der Staatsschutz lebt davon, dass er von Leuten wahrgenommen wird, die sich dafür engagieren. Und Leute, die sich dafür engagieren, wie Herold und ich, die finden immer einen Weg. Wenn Sie eine gesetzliche Regelung haben und die mal strapazieren, funktioniert sie ja meistens doch nicht.“ („Spiegel“ Nr. 8 vom 16. Februar 1976).

Auch der Tod des Generalbundesanwalts Buback kann nicht vom Stammheimer Prozess isoliert betrachtet werden. Man muss an all das oben gesagte denken, wenn man an seinen Tod denkt. Und man muss auch an den Tod des Studenten Benno Ohnesorg denken, der vor zehn Jahren tot auf der Straße lag, wie in diesem Jahr Buback. Damals wurde der Mörder – der Polizist Kurras – freigesprochen. Da vergeht einem das Mitleid, da kann sich keine Trauer einstellen, da erhebt sich höchstens die Frage nach den Zusammenhängen, nach Ursache und Wirkung. Und übereifrige Distanzierungen wirken dann nur noch peinlich, vor allem wenn sie aus den Redaktionsräumen von „Konkret“ und „das da“ kommen, wo sich der „Genosse“ Gremliza als Handlanger der Justiz anbiedert, derselben Justiz, die seinen Redaktionskollegen Peter Paul Zahl physisch und psychisch zu vernichten versucht.

Stammheim, das ist aber auch Symbol des Widerstandes, des Widerstandes im Knast gegen den Knast, der seit dem ersten Hungerstreik im Januar 1973 auf andere Knäste übergegriffen hat und bis zum heutigen Tage anhält. Man kann sich über die politischen Ziele der RAF streiten, man kann in vielem anderer Meinung sein als die RAF – und das bin ich auch, vor allem weil ich in der Forderung nach dem Kriegsgefangenenstatus die Gefahr einer Spaltung der Gefangenenbewegung sehe – aber in einem muss man sich einig sein: Die RAF hat den Prozess des kollektiven Widerstandes im Knast ausgelöst und vorangetrieben und vor allem deswegen verdienen die Gefangenen der RAF unsere solidarische Unterstützung.

Peter Schult


Blatt – Stadtzeitung für München 93 vom 6. Mai 1977, 12 f.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Militanz

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