Materialien 1977
Der Terror
Es beginnt am Mittwoch, dem Vorabend der Urteilsverkündung in Stammheim. Vor allen Punkten in der Stadt, die wir so kennen, stellen sich Bullenautos auf: vor unseren Wohnungen, vorm Mil-
bertshofener Stadtteilzentrum, vorm Lebascha, Schülerladen, Basis und Blatt – Mannschaftsbusse, Streifenwagen, Zivilfahrzeuge. Die über fünfzehn „Objekte“ sind dann im Polizeifunk ordentlich durchnummeriert zu hören. Die „Personen“ werden nach Fotos identifiziert, die von irgendeiner erkennungsdienstlichen Behandlung stammen oder sonstwo geschossen worden sind, wie Karten-
spiele durchgeblättert werden oder an der Windschutzscheibe angesteckt sind.
„Bavaria 400 von 1-61 – Josef Maier hat gerade das Anwesen verlassen und fährt in einem violetten VW amtliches Kennzeichen München Nordpol Isar 1234 in nordöstlicher Richtung
davon. Sollen wir folgen?“
Sie verfolgen, sie kontrollieren, sie bewachen jede Bewegung – ganze Straßenzüge, JEDEN. Und jeder solls auch bemerken, sich seinen Reim drauf machen, „gefährliche“ Personen wahrnehmen. Fahrzeuge werden angehalten und „Routine“-überprüft, manchmal mit vorgehaltener Pistole kontrolliert, zum Teil 4 – 5 mal täglich.
Am nächsten Tag das gleiche Bild. Sie parken vor den Wohnungen, den Läden, überprüfen und beglotzen uns, grinsen hämisch, überprüfen die Hausbewohner, fotografieren, notieren. Blatt-Kleinanzeigenkunden und Besucher, die mit einem PKW vorfahren, werden registriert. Wer strafbarerweise den Polizeifunk abhört, hat praktischerweise rund um die Uhr einen Überblick über den jeweiligen Standort eines Teils der Sponti-Linken. Einige von uns verhalten sich wütend-amüsiert: bieten den Ordnungshütern heiße Kartoffelsuppe gegen die Kälte an, teilen ihnen frei-
willig mit, wo sie sich als nächstes hinbegeben, damit die Verfolger sich nicht so abquälen müssen, oder führen sie quer durch München an die unmöglichsten Orte. Andere versuchen den Terror zu ignorieren. „Das ist mir doch egal, ob die dastehen oder nicht.“ Die Projekte reagieren, indem sie Wandzeitungen in die Fenster hängen, um dem denunziatorischen Effekt der Aktionen zu begeg-
nen, um Gegeninformationen zu geben.
Die Bewacher, darauf angesprochen, was hier läuft, geben immer wieder die allumfassende Ant-
wort: Routineüberprüfung. – Aus einem bestimmten Grund? – Oder: das geht Sie gar nix an, was wir machen. – Können Sie mir den Einsatzleiter nennen? Kein Antwort. Von der Pressestelle der Polizei erfahren wir auch nichts Konkretes. Allein der Polizeibericht der Süddeutschen Zeitung vermerkt eine verstärkte Kontrolltätigkeit anlässlich der Urteile in Stammheim.
Nach zwei Tagen finden die meisten von uns die Verfolgerei überhaupt nicht mehr lustig – auch das Ignorieren klappt nimmer: es macht uns was aus, dauernd in Bullengesichter zu gucken, sie dauernd präsent zu erleben, ständig angequatscht zu werden – das ist so ein ähnliches Gefühl wie im Knast, wo auch jeden Augenblick einer kommen und einen bedrohen kann, es keine Intimsphä-
re mehr gibt, wo rund um die Uhr durch das Loch in der Türe, dem „Späher“, geguckt wird. Das erzeugt Stress, das bedroht, das macht wütend – und vor allem: das hält vom LEBEN ab, weil in unseren Köpfen bald nur noch Bullen rumspuken.
Das hatten wir satt. Um das nicht alleine auszuhalten und zu verdauen, um unsere Situation gemeinsam zu bequatschen, treffen wir uns Donnerstag 23 Uhr spontan am Odeonsplatz. So hatten wir uns das gedacht: Wir fahren in einem Konvoi die Leopoldstraße rauf und runter, die Verfolger in einem Konvoi hinterher. Den Gefallen haben sie uns natürlich nicht getan – plötzlich waren sie ALLE spurlos verschwunden. So eine Pleite!
Um uns neu zu besprechen, treffen wir vor der Pacellistrasse neu zusammen. Stehen so rum, überlegen, ob wir zur Süddeutschen gehen, dort den erfahrenen Terror öffentlich machen sollen. Plötzlich liegen da in der Passage zwei Kartons mit der Aufschrift „Müll“, über die vier Objekt-
schutzbullen Witze reißen, wir auch rumblödeln.
Aus dem Spaß wird Ernst, als wir eigentlich schon am Abziehen sind: Vom Objektschutz über Sprechfunk angeforderte Verstärkung trifft ein, aus unserem Haufen soll einer herausgegriffen werden, der die „Bombenpakete“, neben denen wir ja in aller Ruhe stehen, gelegt haben soll. Wir kennen das ja schon: einen Rädelsführer, für was auch immer, einen ‚Täter’ brauchen sie, einen wollen sie krallen. So bilden wir eine Traube um ihn und halten uns gegenseitig fest, verhaken uns ineinander. Nun beginnen die Bullen – inzwischen so an die 100 – vom Rand her zu prügeln, sich immer einzelne zu schnappen. Wir werden getreten, an den Haaren gerissen, mit dem Kopf gegen die Pfeiler, auf den Boden geklatscht. Wir kommen nicht mehr weg, weil wir pausenlos jemanden vor den schlimmsten Hieben schützen müssen, ihn vom Boden hochziehen, damit er nicht noch mehr Fußtritte abkriegt. Hunde samt Führer sind auch plötzlich da und werden locker ins Gewühle eingeführt. „Die Öfen in Dachau sind für euch schon vorgeheizt“ und „In fünf Jahren könnt ihr nimmer so blöd daherreden“ und „Packt vor allem diese Weiber“, kriegen wir zu hören. Am Ende sitzen drei Männer und zwei Frauen als Festgenommene in dem Mannschaftswagen. Mit zerfetzten Kleidern und Schrammen, blutunterlaufenen Stellen. Und als Krönung wird noch der deutsche Schäferhund Cäsar auf die eine Festgenommene gehetzt, der sich in sie verbeißt und ihr blutende Wunden beibringt. Kommentar des Hundeführers, der dabei die Leine weiter schön locker hält: „Der will doch auch mal was Knackiges.“
Ähnlich drastisch-sexistische Äußerungen haben die fünf dann noch in der Ettstraße, wo sie bis etwa 5 Uhr morgens festgehalten wurden, zu hören gekriegt. Als Rechtfertigung für die ganze Brutalität und das Riesenaufgebot gibts nun Anzeigen gegen alle fünf wegen Sachbeschädigung, Körperverletzung, Gefangenenbefreiung, Beleidigung, Widerstand und als Krone des Ganzen Vortäuschung einer Straftat (Müllkartons).
Am Freitag, als einige von uns wegfahren, um mal wieder was anderes sehen und fühlen und denken zu können, die totale Notstandsübung an der Autobahn. Vor der Ausfahrt nach Bühl Richtung Freiburg, vor der Raststätte so an die fünfzig Polizeiautos aller Größenordnungen. Gespenstisches Licht, konfus, durch verschiedene Scheinwerfer. Sich widersprechende Anord-
nungen durch mit großen und kleinen Knarren herumfuchtelnde Ordnungshüter. Wir können nur stillhalten und hoffen, dass die nicht einzeln durchdrehen. Die Personalien werden überprüft, aber unsinnigerweise nicht über Funk in einen Computer gegeben. Es gibt Passierscheine, ohne die wir nicht mehr auf die Autobahn dürfen. Terroristen würden gesucht, kriegen wir bedeutungsvoll als Begründung gesagt.
Während wir diesen Artikel schreiben, geht der Belagerungszustand weiter. Hier in der Adelgun-
denstraße kommen Nachbarn in die Redaktion, um sich nach unsrem Befinden zu erkundigen, uns Wein zu bringen, selbstgepflückte Zweige und eine Riesentorte. Sie fragen nach den Ursachen für diese Maßnahmen und lassen sich nicht einschüchtern. Auch im Schülerladen werden wir von Nachbarn gewarnt, wenn Observierer heimlich gegenüber in Lagerräumen sitzen und unsere Hausmeisterin nimmt uns grundsätzlich gegen alle Verdächtigungen in Schutz – die Leute kennen uns zu lange und mögen uns, sie fallen nicht drauf rein. In manchen Straßen gibts halt auch den Hausmeister, der selbstständig Ausweise kontrolliert, die Frau, die von sich aus beim Identifizieren der Hausbewohner behilflich ist, schließlich hat das Denunziantentum in Deutschland Tradition – auch der „Hausjude“, den man kannte, dem man traute, den man als EINZELNEN gut fand, weil man ihn kannte, mit ihm befreundet war.
Wir selbst machen selbstverständlich auf der juristischen Ebene, was möglich ist. Wir wollen leben und politisch arbeiten und uns nicht von diesem Räuber- und Gendarm-Spiel bestimmen und aus-
füllen lassen, das uns aufgezwungen wird, das nicht unser Lebensinhalt ist, durch das wir uns nicht definieren lassen wollen. Was wir wollen ist z.B. Zeitungen machen, Stadtteilzentren in Gang brin-
gen, mit Kindern arbeiten und leben, Knastarbeit machen und und und. Wir werden uns als einzel-
ne und Projekte enger zusammenschließen und uns somit schützen und nicht in Panik geraten, wenigstens in Ansätzen alternatives Leben verwirklichen. Wir sind entschlossen uns durch den Terror nicht dogmatisieren, brutalisieren, verhärten, verengen zu lassen – gerade jetzt treffen sich alle Betroffenen um zu überlegen, wie das am besten möglich sein wird …
Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 tauchten vor den jüdischen Geschäften und Wohnungen uniformierte und bewaffnete SA-Posten auf, kontrollierten und überwachten die Inhaber und Besucher, schüchterten die Kunden ein. Damit waren die Weichen gestellt, für die Kristallnacht, jene Nacht, in der Synagogen und Warenhäuser brannten, sich das ‚gesunde Volksempfinden’ gegen die ‚Außenseiter’ und ‚Staatsfeinde’ austobte und im Hintergrund konnte man bereits Auschwitz und Dachau ahnen.1
Im Jahre 1977 bahnt sich nun eine ähnliche Entwicklung an. Vor den linken Projekten, vor Bücher-
läden und Wohnungen von Genossen fahren am 27. April uniformierte und bewaffnete Polizisten auf, beobachten Bewohner und Besucher, verfolgen Kunden und kontrollieren Gäste, die den Kneissl-Club verlassen. Was suchen Sie dort? Wollen sie provozieren, wollen sie einschüchtern?
Ist diese Aktion nur ein Glied in der Kette, die sich immer fester um die BRD schließt, und diesen Staat allmählich in einen Polizeistaat verwandelt? Vom Radikalenerlass über die Gesetzesände-
rungen zum Stammheimer Prozess und den Lauschaffären bis zur totalen Überwachung durch die permanente Anwesenheit uniformierter und bewaffneter Polizisten. Orwells Horrorvisionen von 1984 sind bereits 1977 Wirklichkeit. Sollte eventuell das Plakat „Deutsche Polizisten sind die Terroristen“, das erst kürzlich aus dem Schaufenster des Blattes von der Polizei entfernt wurde, doch zutreffen? Ist denn nicht das provozierende Auftreten der Ordnungshüter eine subtile Form von Terror? Geschützt und bestätigt durch den Bundeskanzler, der bereits vor kurzem androhte, „man würde bis an die Grenzen des Rechtsstaates gehen“, hat Bayern wieder ein mal die Rolle eines Ordnungsfaktors des Reiches übernommen …
Aber wer bestimmt, wo diese Grenze liegt? In punkto „Grenzüberschreitung“ haben die Deutschen stets eine verhängnisvolle Rolle gespielt.
Und wie reagiert die Öffentlichkeit darauf, was tun diese „Gralshüter der Freiheit“ in Rund-
funk, Fernsehen und der Presse, die sich seit Jahren gegenseitig bescheinigen, was für eine verantwortungsvolle Aufgabe sie hätten? Sie schweigen – sie schweigen genauso wie ihre Berufskollegen im Jahre 1933 geschwiegen haben, als die bewaffneten SA-Posten aufzogen!2
Blatt – Stadtzeitung für München 93 vom 6. Mai 1977, 4 ff.
1 Naja, das KZ Dachau ist schon 1933 errichtet worden.
2 Siehe dazu auch „Müllprozess in: Blatt. Stadtzeitung für München 114 vom 10. Februar 1978, 5.