Materialien 1977

„Grell geschminkte Lippen – ausdrucksloses Gesicht“: das macht geil!

Wir waren am Grab von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe

Um uns herum auf den Hügeln, im Nebeldunst eine gespenstige Kulisse: grätschbeinig verpresste Uniformen, Staffagen herrenmenschlicher Verschmelzung von Ross und Reiter, schwarze MP-Vernichtungslöcher, Schäferbluthunde großdeutscher Abstammung. Versteinerte Mahnmäler deutscher Ungeschichte.

Oder waren wir im Kino? Waren wir unfreiwillige Akteure eines neu aufgelegten Nazi-Schinkens geworden? Bewegliche Ziele auf dem ehemaligen (?) Schießstand?

Unfassbar schien uns die Gleichzeitigkeit aus wiederauferstandener Vergangenheit und drückender Gegenwart. Betroffenheit über die lebendig gewordenen Photos aus Vaters Vergangenheit und Betroffenheit über den Tod der Anarchisten und über die lautlose Unheimlichkeit, in der er geschehen ist.

Verwirrung!

Es wird „scharf geschossen“! Die Presse ist ausgeschwärmt.

Die Einäugigen sind unter uns, die Ding-Festmacher, die Schwarz-auf-Weiß-Maler mit ihren Super-Dingern. Sie schießen dich ein auf ihr Maß. Sie knallen dich ab, einzeln oder in Haufen, mit deiner Ohnmacht, deiner Verzweiflung, deiner Wut, deinem Hass. Sie reiben ihre angeprallten Tele-Schwänze unterschiedslos an deinem Rücken, deinem Gesicht, deiner Trauer, unserer Solidarität. Ihre metallische Potenz klackt ohne Grenzen, ihre Lüsternheit ist grenzenlos. Sie luren und lauern, sie fledern und reißen sich mit ihrer kalten Mechanik alles unter den Nagel, was noch Leidenschaft, Gefühle und Lebendigkeit verkörpert. Ihre stinkenden Pfürze verpesten jedes Geschehen, dem sie hinterher hecheln. Sie meinen, sie sind mittendrin und riechen doch nur ihren eigenen Gestank.

Wie Vampire saugen die Presseleute unsere niedergeschlagene Empörung in ihr totes zukunftsloses Dasein auf, zu nichts anderem bereit als jeden Ausdruck einer menschlicheren Zukunft zu zerschlagen. Unfähig, in der bestehenden Wirklichkeit die Momente von Lebendigkeit wahrzunehmen, zerstückeln, verchaotisieren, blähen auf, verzerren, verschweigen, lügen, verblutrünstigen sie unsere Wirklichkeit, in der wir uns nicht wiederfinden; installieren sie eine Welt, in der sie die Herren und Macher sind.

Am Abend kommen wir zurück aus Stuttgart.

Noch aufgewühlt, wie wir sind von den Geschehnissen, schlagen uns die Schlag-Zeilen der tz ins Gesicht: „Tumulte am Grab der Terroristen“.

Wer sind wir nun wirklich?: Mit Prügeln bewaffnete, Maskierte, Fliegerhelm-Bewehrte, Chaoten, Sympathisanten, Polizei-Angreifer, Grabschänder, Ausbeuter von Selbstmorden, Tränenlose = Trauerlose, Zigarettenrauchende, Fäusteschwinger, dumme Politschwätzer, Gewalttätige?

Wir sind nach Stuttgart gefahren, um unseren Widerstand zu demonstrieren. Ein Moment dieses Widerstandes ist die offen gezeigte Trauer um den Tod der Rebellen, die ebenso wie wir als Kinder einer sinnentleerten Wohlstandsgesellschaft anfingen, sich zu wehren. Den Weg unserer Geschichte sind wir dann unterschiedlich gegangen. Gemeinsam geblieben ist uns die Auflehnung gegen ein gewalttätiges System, das uns unsere Wünsche und praktischen Versuche nach einem offenerem und reicheren Leben abwürgt und zerstören will. Wir hatten das Gefühl, mit vielen anderen zusammen, dass mit Gudrun, Andreas und Jan-Carl auch zugleich das rebellische Kind verscharrt werden sollte, das offensiv neugierig ist und hemmungslos fragt und sich aggressiv gegen eine leblose und versteinerte Erwachsenenwelt zur Wehr setzt. Dieses rebellische Kind lebt immerhin noch in uns. Unsere Trauer und Betroffenheit sind verbunden mit der Weigerung, dieses rebellische Kind auch in uns töten zu lassen.

Ein anderes Moment unseres Widerstandes ist die lebendige Verschiedenheit durch unser Dabeisein spürbar zu machen, gegen Fakten-Geilerei, die uns ohne Unterschied für ein aufgebauschtes Feindbild identifizierbar machen will und einspeicherbar in ein monströses Computersystem.

Bei der erzwungenen Erfassung unserer Personalien spürten wir trotz Angst ganz deutlich, dass unser eigentliches Leben damit nicht dingfest gemacht werden kann. Die unselige Allianz von Polizei und Presse, die darauf aus war, uns zu fixieren, einzupressen in ihr eigenes Entweder-Oder, ihre eigene Zerstörungswut uns als Chaos auszulegen, kann uns nicht nehmen, was wir eigentlich sind:

WIR SIND NICHT SCHWARZ NICHT WEISS
MANCHMAL WARM UND MANCHMAL HEISS
MANCHMAL JUNG UND MANCHMAL ALT
MANCHMAL TRAURIG MANCHMAL FROH
WIR SIND HALT MAL SO UND MAL SO
BUNTE SCHECKIGE KUH
WAS SAGST DU DAZU ???

drei grellgeschminkte Frauen


Blatt – Stadtzeitung für München 107 vom 4. November 1977, 13.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Militanz

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