Materialien 1977

Sumpf

Spätestens 1973 waren die Weichen gestellt, war die Sackgasse erkannt. Das klassische Politikverständnis, also die Herausforderung des Staates durch die Massen, die gemeinsame Zerschlagung des Herrschaftszusammenhangs wurde über Bord geworfen. Es begann die Zeit der Autonomie. Autonomie, das heißt sich seinen Namen geben, auszugehen von seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen, die Totalität zu verändern, also auch den Alltag, die Subjektivität an die erste Stelle setzen. Die Neue Linke zersetzte sich in zahlreiche Felder: Frauen, Landkommunen, Spirituelle Männergruppen, Regionalisten. Positiv bedeutete das Entwicklung neuer spezifischer Inhalte und Lebensformen, die sich durchaus konträr zueinander verhielten, nicht mehr auf einen Nenner bringen ließen, die Pluralität der Wünsche darstellen. Negativ war das die Absage an die Einheit der Unterdrückten, das Unterbrechen des Dialogs, die Verweigerung von Politik schlechthin. Denn Politik, so wurde richtig argumentiert, trägt allzusehr den Stempel des Staates, lässt sich auf Verhaltensmuster ein, die von den Herrschenden vorgegeben sind, führt zu Strukturen, die die Inhalte revolutionärer Ansätze korrumpieren. Aber entscheidender noch: Politik ist immer negativ bestimmt, bedeutet nur die Zerschlagung des Staatsapparates, lebt nur in der Herausforderung, verlagert die Freuden und Experimente der Revolution in einen zukünftigen Zeitpunkt, ist der dreckige Weg, der zur Utopie führen soll. „Wir aber wollen die Revolution jetzt und heute!“ Folglich geht es darum einen anderen Weg zu finden, um eine radikal andere Lebensweise in die Tat umzusetzen:

Statt Agitieren, Flugblätter zu verteilen, Aufrufe zu unterschreiben, Versammlungen abzuhalten, statt im Denken von Strategie und Taktik verhaftet zu bleiben, muss ein anderer Weg beschritten werden! Es geht darum Netze zu bauen, vielfältige Kanäle zu ziehen, ein Milieu zu entwickeln, Nischen und Ritzen zu besetzen, den Staat zu unterlaufen, zu zerbröckeln, brüchig zu machen, anstatt ihn zu zerschlagen. Also sich dem Machtkalkül des Staates zu verweigern, stattdessen ein heimliches, langfristiges, verwobenes Geflecht zu entwickeln, welches wie ein lang wirksames Gift in den Blutstrom der Herrschaft getröpfelt wird. Zersetzung und Auflösung statt Zerschlagung. Sich nicht festlegen wollen, deswegen auch nicht greifbar sein. Dieser Weg hat in der Tat Erfolg gehabt – es besteht dieses Netz vielseitiger Alternativen, vielfach miteinander verwoben und dennoch getrennt durch klar umrissene Ansprüche auf Autonomie. Diese neue Qualität, von vielen Linken als Ohnmacht empfunden und immer wieder ohne Erfolg kritisiert, war und ist im Gegenteil ein revolutionäres Feld, das sich aus der Fülle und Positivität bestimmen kann: dem Körper, dem Geist, radikal anderer Lebenszusammenhänge, dem Frausein.

Mit dem Begriff „Sumpf“ wird direkt eine neue Philosophie angesprochen, die das revolutionäre Raster abzutasten versucht. Deleuze hat es als Rhizom bezeichnet, also als ein Wurzelgeflecht mit zahlreichen Verzahnungen, Knollenbildungen, Kanülen, Querverbindungen, Verästelungen, Fluchtlinien. Das Rhizom ist botanisch in der Tat eine Sumpfpflanze, das seine verschiedenen Stränge und Gewebe durch den Morast schiebt. Wenn der Staat also von Sumpf redet, meint er alle diejenigen alternativen Ansätze, die sich durch sein Gemäuer schieben – ob das nun Frauen, Kinder, Alte, Schwule, Männergruppen, verstreute Linke, Filmer oder Regionalisten sind.

Dennoch reicht diese Erkenntnis nicht hin, die „Trockenlegung“ in großem Maßstab einzuleiten. Die wenigen Fäden, die zur Stadtguerilla bestehen, werden hergenommen um den Sumpf, um die neuen radikalen Inhalte zu einem Anhängsel des bewaffneten Kampfes zumachen. Mit dem Begriff „Sympathisant“ wird die Unbestimmtheit des Sumpfes wieder aufgehoben, das revolutionäre Feld in den funktionalen Zusammenhang der Guerilla gestellt und die emotionale Energie, die sich überall gegen die RAF äußert, gegen das gesamte Rhizom mobilisiert. Die „Partei der politischen Verweigerung“ sieht sich auf einmal wieder mit Fragen der Politik konfrontiert, einfach weil es um ihr Überleben geht, weil der Staat die Macht des subkulturellen Untergrundes erkannt hat.

In diesem Punkt beginnt die Schwierigkeit. Lässt sich die Alternative wieder auf die Herausforderung des Staates ein, beginnt sie einen Diskurs über den Repressionszusammenhang, dann betritt sie wieder den Weg, den sie kaum verlassen hat, den der politischen Macht, des politischen Diskurses, des Zusammengehens. Sie korrumpiert sich, verlässt die Landschaft, aus der sie gerade ihre Macht dadurch zog, dass sie das Machtkalkül aufkündigte. Sollte es so sein, dass der erneute Eintritt in die makropolitische Sphäre wirklich zur Aufgabe der Inhalte führt, dann ist in der Tat das Todesurteil über unsere Bewegung gesprochen: entweder austrocknen oder Erneuerung klassischer linker Politik, vielleicht noch in der Form einer linkssozialistischen Partei. Vorstellbar wäre aber Rhizom zu machen und dennoch den Diskurs über die Macht einzuleiten, punktuelle Einheiten herzustellen ohne die Differenz aufzugeben. Ob zu verwirklichen oder nicht, es ist der einzige Weg, der aus der Vernichtung herausführt.

Der Staat, verhaftet im klassischen Denken von Strategie und Taktik, – vom organisierten Gegner konnte diese Bewegung in der Tat nicht greifen. Ob er wollte oder nicht, er musste diese neuen Freiräume zugestehen, denn es gab nichts fassbares, keine Verantwortlichen, einen scheinbaren Pazifismus. Seine dauernde Auseinandersetzung mit der ML-Bewegung, deren gänzliche Überwertung, war für ihn die einzige Möglichkeit, etwas in den Griff zu bekommen.

Andererseits entstand mit dem Prozess der Verweigerung, mit dem Auszug aus dem politischen Feld ein Machtvakuum. Die geballte Einheit der Jugendbewegung und auch die neue Perspektive des Arbeiterradikalismus, die zu Beginn der 70er aufblitzte, war nicht mehr existent. Gerade in diesem leeren Raum agierte die RAF mit der Tragik eines Geronimo, diesem Apachenhäuptling, der von seinem Stamm verlassen, isoliert und jahrelang einen Guerillakrieg gegen die Spanier führte. Schon in der Frühphase der autonomen Bewegung war beim Großteil die Vorstellung vorhanden, dass einem die RAF nichts mehr angeht, dass ihr Politikverständnis und ihre Struktur sie zu einer Verlängerung der Staatsräson macht. Dennoch war es nicht so leicht alle Fäden zu zerreißen, weil sich gerade ein nicht geringer Teil der Guerilla aus der „Partei der politischen Verweigerung“ rekrutierte, am offenkundigsten bei den Frauen. So ist der politische Dissens in der Tat zu so etwas wie dem Vorfeld der radikalsten politischen Praxis, des bewaffneten Kampfes geworden.

Diese Tatsache konnte dem Staat nicht verborgen bleiben. Mittlerweile wurde ihm bewusst, dass seine eifrige Hexenjagd gegen DKP-Lehrer im Staatsdienst einen Pseudokampf darstellt, den Sack schlägt und den Esel meint. Dabei sind die Fäden, die sich von den Alternativen zur Guerilla ziehen nur die Erkenntnisfäden, die den Staat zu der Einsicht gebracht haben, dass das gesamte revolutionäre Geflecht auf seine Vernichtung aus ist, auch wenn es nicht mehr die Spielregeln der klassischen Politik akzeptiert. Er hat erkannt, dass der Tod der Familie, die Abkehr vom Warenkonsum, die Emanzipation der Frau, die Wiederaneignung des Körpers und der Seele an Grundfesten – Werten seiner Herrschaft zerrt und rüttelt. Dieses staatliche Umdenken drückt sich aus in der Verwendung neuer Begriffe, die unsere Lebenszusammenhänge durchaus charakterisieren. Mit der Benennung Sumpf und Vorfeld kommt eine neue Präzision in das staatliche Denken, dass in seiner Ungenauigkeit dem Phänomen, dass sich selbst nicht eingrenzen lässt, sehr nahe kommt. Die Begriffe Feld und Geflecht sind uns selber sehr lieb geworden – gänzlich offen. Überall tauchen jetzt die Verkehrsformen linker Politik wieder auf, tritt die Linke, die von der Autonomie in die Schlupflöcher verwiesen wurde, wieder auf die Bühne. Indem Sie auf die Gesamtzusammenhänge der Unterdrückung, die sich gegen alle Alternativen richtet, hinweist, hat sie recht. In dem die Autonomie diese Ansätze befürchtet, dass ihre Inhalte Gefahr laufen ausgehöhlt, verwässert, funktionalisiert zu werden, hat sie auch recht.

Was sich jedenfalls feststellen lässt, weil nun die staatliche Gewalt an Leib und Seele verspürt wird, ist die tastende Bereitschaft zum Diskurs: Etwa wenn sich Alice Schwarzer mit Cohn Bendit an einen Tisch setzt, um über das Literaturverbot, weiter über die verordnete Sprachregelung und das geforderte Bekenntnis zum Staat redet. Gibt sie damit ihre feministischen Positionen auf? Dagegen hat das Münchner Frauenzentrum den Dialog verweigert. Sind die Frauen sicher, dass Sie nicht dennoch als Sympathisanten deklariert und angegriffen werden. Sind sie es nicht schon, wenn der CSU-Stadtratsabgeordnete Müller Bücher der Frauenoffensive als Terroristenliteratur bezeichnet?

Das erschreckende ist jedoch, dass der Diskurs, der noch nicht einmal begonnen hat, bald nicht mehr möglich sein wird. Nicht, weil wir ihn nicht fürchten wollen, sondern weil wir ihn nicht mehr führen dürfen! Das Bekenntnis zu unserem Staat, zu seinen Gesetzen – einschließlich der Abtreibung, die geforderten Sympathiekundgebungen sind gekoppelt an einen massiven Angriff auf die Sprache, auf die alternative Öffentlichkeit. War es einer unserer größten Erfolge der letzten Jahre, eine Gegenöffentlichkeit mit all ihren pluralen Ausdruckformen der herrschenden Bewusstseinsindustrie entgegenzustellen, und war das das wichtigste Koordinierungsnetz zwischen der Vielfältigkeit, so zeigen die Literaturverbote, das Einziehen von Stadtzeitungen, die zahlreichen Prozesse gegen Verlage, dass wir zum Schweigen verurteilt werden sollen. Heute ist es das BUG-Info1, morgen das Blatt und übermorgen die Frauenoffensive. – Gute Nacht.

Herbert Röttgen


Blatt – Stadtzeitung für München 107 vom 4. November 1977, 14 f.

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1 = Info Berliner Undogmatischer Gruppen.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Militanz

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