Materialien 1977

Der Sperriegel

Kampf um den Münchener Rangierbahnhof Allach

Der Einstand des neuen Präsidenten glich einem Paukenschlag. Als Dr. Alfons Thoma Anfang dieses Monats Präsident der Bundesbahndirektion München wurde, brachte er ein unangenehmes Einstandsgeschenk mit: „In den nächsten Tagen“, so Thoma, werde Verkehrsminister Kurt Gscheidle die Entscheidung unterschreiben, dass im Münchener Norden zwischen den Stadtteilen Allach und Moosach und unweit der olympischen Anlagen nun doch der von der Bundesbahn lange geplante Rangierbahnhof gebaut werde. Ob Thoma vorschnell das Wort „Entscheidung“ gebrauchte und seinem ohnehin geplagten Minister wieder einen Schwarzen Peter zuschob, sei dahingestellt.

In München jedenfalls galt sein Einstandsbekenntnis als glaubwürdig, diente er doch Gscheidle vor seinem Wechsel nach München als Referent in der Abteilung „Eisenbahnen“, die das „städtebaulich unverantwortliche Projekt“ (SPD-Chef Heckel) seit Jahren hartnäckig verfolgt. Der Begrüßungsbeifall in München blieb denn für Thoma äußerst karg. „Stadtrat und Bürger“, drohte Oberbürgermeister Georg Kronawitter, „werden eine solche Entscheidung nicht nur nicht verstehen, sondern dagegen vorgehen.“

Was die Planer letzten Ende bewegen mag, alle Gutachten und Proteste in den Wind zu schlagen und Münchens Norden durch einen sieben Kilometer langen Sperriegel aus Schienen, Container-Terminals, Stückgutabfertigung und Wagenausbesserungswerk abzuschnüren, sowie 150.000 Bürger in zwei Kilometern Abstand von den Gleisanlagen vor allem nachts dem Lärm rangierender Güterwaggons auszusetzen, bleibt unergründbar. „Contra“, der aus allen demokratischen Parteien, Kirchen und Bezirksausschüssen gebildete „Koordinationskreis gegen den Rangierbahnhof München-Nord“ jedenfalls vermutet, der Grund sei wohl die Tradition der Bundesbahn.

In der Tat plant die staatliche Eisenbahn bereits seit 40 Jahren den Rangierbahnhof München-Nord, was eher gegen als für das Projekt spricht. Inzwischen hat sich nämlich im Nachkriegs-München einiges getan. Da entstanden im nördlichen Weichbild der Großstadt neue Lebenszentren, wie die Stadtteile Lerchenauer See, das olympische Dorf und die Olympia-Pressestadt. Und einst verschlafene Dörfer, wie Moosach, Allach und Feldmoching entwickelten sich zu Wohngebieten der aus den Nähten platzenden Millionenstadt. Deren Bewohner nutzten dagegen das brachliegende Bahngelände, auf dem aus Sträuchern im Laufe der Jahrzehnte Bäume wurden, als bescheidenes Erholungsgebiet. „Die Tatsache, dass der neue Rangierbahnhof seit 40 Jahren in München-Nord geplant … worden ist, ist durch die tatsächliche Entwicklung der Stadt und durch die modernen Erkenntnisse über Umweltschutz und Stadtplanung längst überholt“, folgert das Stadtentwicklungsreferat.

Die Bürgerinitiative wurde noch deutlicher. Sie wirft der Bahn vor, „betriebsblind“ zu sein und vor dem „Brutalplan“ absichtlich die Augen zu schließen. Die Bundesbahn setze „gewissenlos die Gesundheit Tausender von Bürgern aufs Spiel“, ruiniere „unverantwortlich letzte ursprüngliche Naturräume“, verhindere „vorsätzlich jede vernünftige Stadtentwicklung in München-Nord“ und liefere den Bürger „rigoros dem totalen Verkehrschaos“ aus.

Dass das, was in Allach 40 Jahre lang währte, nicht unbedingt auch gut ist, schwante bereits vor einigen Jahren den amtlichen Aufsehern über die amtliche Planung. Mit der gleich vorweg geäußerten Einschränkung, dass sie sich „mangels geeigneter Eisenbahnfrachtleute nicht in der Lage sehen, eisenbahntechnische Gesichtspunkte zu prüfen“, kam die Regierung von Oberbayern im Raumordnungsverfahren für vier Standorte – einer in Allach, drei im Landkreis München bei Freimann-Feldkirchen, Olching-Ludwigsfeld und im Dachauer Moos – schon 1973 zu dem Schluss: „Alle vier Standorte sind schlecht und bringen erhebliche Nachteile.“ Doch dann folgert die Behörde: „Unter den vier Standorten, die allein in diesem Verfahren zu beurteilen sind, ist der Standort München-Nord der weniger schlechte, d.h. die anderen drei Standorte sind noch schlechter.“

Auch hierin sieht nicht nur der Münchener Stadtrat, der in vier Jahren viermal einstimmig gegen Allach votierte, sondern auch die Bürgerinitiative die Aufforderung an die Bundesbahn, sich doch endlich einmal nach anderen Alternativen umzusehen. Dies indes lehnte die Bahn bisher aus „eisenbahnwirtschaftlichen“ Gründen ab. Der Grund: Eine „Güterstromanalyse“ prophezeite „Umwegkilometer“, ein Argument, mit dem bereits ein Standort im Osten Münchens verworfen wurde. Statt dessen berief die Bahn eine Kommission aus Fachleuten unter der Leitung des Staatssekretärs a.D. Karl Wittrock und verteilte eine Schrift mit dem beschwichtigenden Titel „Gut für München“, die auch das zustimmende Votum der Wirtschaft für Allach wiedergab.

Während ein im Auftrag der Stadt angefertigtes Gutachten zu dem Schluss kam, der Standort Olching sei für die Bahn rund 125 Millionen Mark billiger als das zuletzt auf 900 Millionen Mark geschätzte Projekt Allach, während die Bahn ihren Allach-Plan in der Tages-Kapazität von 10.000 auf 7.000 Güterwagen um ein Drittel reduzierte und die Stadt München vorsorglich eine 50-Millionen-Rücklage als Grundstock für den Kauf des Allacher Areals bildete, brachte die Wittrock-Kommission nach Ansicht der Bürgerinitiative „keine Entscheidungshilfe“. Den Grund dafür sieht das Stadtentwicklungsreferat so: „Die Arbeit dieser Kommission leidet darunter, daß sich die beteiligten Landräte bisher mit Erfolg gegen eine Überprüfung von Alternativstandorten außerhalb des Burgfriedens der Stadt gewehrt haben.“

Was verständlich ist, denn wie bei Flughäfen, Kernkraftwerken, Autobahn-Umgehungen und Industrieansiedlungen gilt auch beim Rangierbahnhof das nicht nur in Bayern gängige Sankt-Florians-Prinzip: „Verschon mein Haus, zünd’ andere an.“ Angesichts vieler freier Flächen außerhalb der Region München und drückenderer Arbeitslosigkeit als in der Metropole klingt indes die Folgerung des Stadtentwicklungsreferats der Landeshauptstadt plausibel: „Es wäre unverantwortlich, in der heutigen Zeit in einem Bereich, der nur zwischen fünf und zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegt, also in das Weichbild einer Großstadt, ein so riesiges Monstrum, wie es der geplante Rangierbahnhof darstellen würde, zu errichten.“

Eben dies ist auch die Ansicht des Koordinationskreises, der seinem „Contra“ die Feststellung beifügt, in Österreich liege der für die Städte Wien und Linz zuständige Rangierbahnhof sogar 300 Kilometer vom Ziel- oder Abfahrtsort der Güterwagen entfernt in Solbad Hall. Just dies beunruhigt nun die Bürgermeister und Landräte rund um München. Sie erschreckte der Stadt-Protest auf die Ankündigung des Bahnpräsidenten Thoma derart, dass sie Minister Gscheidle in mehreren Telegrammen ihren „schärfsten politischen Widerstand und den Rückgriff auf jedes Rechtsmittel“ ankündigten, falls er sich durch das Münchener Wehklagen doch noch erweichen lassen sollte.

Rolf Henkel


Die Zeit 12 vom 11. März 1977; www.zeit.de/1977/12/Der-Sperriegel?page=all.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Umwelt

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