Materialien 1978

Auf dem Marktplatz schreien

Demonstrationen werden mit Sprechchören angereichert. Wer glaubt, dass diese zur Aufklärung vorbeistehender Männer und Frauen dienten, irrt. Das Schreien auf der Straße befreit vom Schweigen des Zimmers. In der Tat: Du gebrauchst deinen Kehlkopf, nicht deinen Kopf.

Der Widerstand spricht in eigener Sprache; die Rebellion lernt neu zu denken und zu sprechen.

Die Nationalsozialisten haben den Kampf gegen Fremdwörter nicht geführt, weil sie dagegen waren, dass sich Intellektuelle in einem unverständlichen Jargon unterhielten, sondern um sprachliche Autarkie, Selbstgenügsamkeit zu organisieren, das über die nationalen Grenzen ausufernde Denken zu isolieren, einzusperren. Wie haben sie die Zigeuner, wie das Rotwelsch gehasst!

Da gibt es nicht nur das berühmte „18“, den Ruf, der Eingeweihten signalisiert, dass der Meister, der Knastaufseher, der Bulle oder sonstwer Gefährliches kommt, da liegt eingebettet in die deutsche Grammatik eine Sprache des Untergrunds offen dar, doch kaum einer versteht sie, trotz vieler neuer wissenschaftlicher Arbeiten über die regionalen Besonderheiten des Jenischen, Rotwelschen, der Ganovensprachen.

Seit dem dreißigjährigen Krieg zogen multinationale Räuberbanden durchs erschütterte Deutschland. Die konnten ihre Pläne in den Wirtshäusern offen besprechen, weil kein Soldat oder Polizist sie hätte verstehen können.

Später, im Zeitalter der Industrialisierung, waren es die ambulanten Händler, die Schausteller und die Artisten, die im Land herumzogen, sich mit ihrer Geheimsprache verständigten und gegen die festgefügte Gesellschaft Selbstbewusstsein ausdrückten. Die Industriegesellschaft wollte sie ausgrenzen, aber die vorkapitalistische Subkultur entzog sich.

In der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der sechziger Jahre haben viele das neue Deutsch der Neuen Linken gelernt, die multinationale Sprache der nachfaschistischen Intellektuellen-Rebellion, die nicht im Stalinismus und Sozialdemokratismus steckengeblieben war.

Um den dummen und gemeinen Vätern ihren Traum vom großdeutschen Reich, von der Vernichtung unwerten Lebens, von Endlösungen zu beenden, um den mechanischen Charakter der arisierten Sprache zu zerbrechen und um für das eigene Denken zu kämpfen, dazu wurde dieses Kauderwelsch der APO-Sprache entwickelt.

Die Schlagworte „Manipulation, Establishment, Charaktermaske, Emanzipation, Autoritärer Staat, usw.“ waren nicht nur Zeichen mit Bedeutung, sie waren Schlagwaffen. Wir mussten arrogant sein gegen das Deutsche, gegen Dialekte, also die heut geliebten Regionalsprachen, um uns deren Gefangensein im Nach-Faschismus nicht selbst auszuliefern. Das Subversive dieser Sprachen war noch nicht in die Metropolen gedrungen außer als blutig bodenständige Exotik.

Aber wie schnell wird die Sprache der Opposition, der Rebellen, der Dissidenten zum Jargon. Die feinsinnige Notwehr gegen den autoritären CDU-Staat ist bei ihrem langen Marsch in die Institutionen zur Sprache der belehrenden Intelligenz geworden.

Die neue Rebellion stottert. Sie ist sprachgestört; die Frauen können mit der Wortwelt, die sie vorfinden, nicht viel anfangen; ein restringierter Code bestimmt die Alternativ-Presse und Angst und Abscheu vor dem logisch-systematischen Sprechen kennzeichnen die Comic-Sprache, die sich gleichzeitig der kritisch-theoretischen Reflexion wie auch der genüsslichen Ästhetik entzieht.

Mescalero setzt Maßstäbe, nicht mehr Marx oder Adorno – und Mescalero ist anonym.

Und auch diese Sprache wird noch benutzt, während sie schon zum Jargon verkommt. Der Aufstand gegen die enge Rationalität der aufklärerischen Wissenschaft verläuft in Flucht in gegenaufklärerischen Mystizismus, in Selbstverstümmelung des eigenen Kopfes durch Denkverbote, in trostlose Verdopplung der eigenen Opferrolle durch den Verzicht, mit anderen Neuland im Denken und Sprechen zu gewinnen. Dem Körper wird auch noch die Aufgabe zugeschustert, für das Reden zuständig zu sein.

Reklame für das Schweigen

1. Aus dem Schweigen kommt die Kraft.
Die Frau nimmt im Orient am öffentlichen Gespräch nicht teil, doch ihren geschickten Händen verdanken wir die schönsten Teppiche der Welt, auch heute noch. Das persische Kulturreich, dreimal so alt wie das Christentum, die Tradition seiner Kunst wird etwa in das 4. Jahrtausend vor Christus verlegt. Aus dieser Zeit bereits stammen Ornamente auf Keramiken.
(Möbel-Franz Teppich Basar – Kostbarkeiten aus 1001 Nacht – Prospekt, z.B. als Beilage zur FAZ vom 21. Februar 1978)

2. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
(Sprichwort)

3. Der Horizont des Begriffs ‚Schweigen’ hat erstaunliche Ausmessungen. Man begegnet ihm nicht allein in den Lebenslehren der Weisen. Auch in der Geschichte der Weltdeutung hat er einen denkwürdigen Platz. So reicht seine Erstreckung von der Kosmogonie der hellenistischen Gnostiker, denen die Zweieinheit des ‚Unnennbaren’ und des ‚Schweigens’ als der unerzeugte Seinsgrund der Welt galt, über die mystisch-asketischen Schweigegebote des Pythagoras und der Mönchsorden des Ostens wie des Westens bis hin zu der so anmutigen wie tiefsinnigen Courtoisie, mit der, in Shakespeares Tragödie, Coriolan sein Weib Virilia begrüßt: „Mein lieblich Schweigen, Heil!“ (1943).
(Josef Pieper: „Erkenntnis und Freiheit. Essays“, München 1964, 142, dtv 234)

4. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
(Ludwig Wittgenstein „ Tractatus logico-philosophicus (1918) – Frankfurt am Main 1964, 115 – edition suhrkamp 12)

5. Kolleginnen und Kollegen, wir erheben uns und gedenken der in diesem Jahr verstorbenen Belegschaftsmitglieder.
(vielgeübte Ankündigung einer Schweigeminute bei Betriebsversammlungen am Ende des Jahres)

6. O sic tacuisses, philosophus mansisses = Hättest du das Maul gehalten, hätten die andern dich weiter für schlau gehalten.
(Römisches Sprichwort)

Matthias Beltz


Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft 11 vom April 1978, München, 72 f.