Materialien 1978
Ist das ein Pack!
Blatt-Eintreff ist bei mir immer ein stressfreier Tag: Ich lass meine sämtlichen kulturellen Gerätschaften fallen, schalte den Anrufbeantworter ein, lege mich ins Bett und lese das neue Blatt durch. Aufgrund meiner vielen Erfahrungen in der Publizistik, nur einmal unterbrochen von zehn Jahren Zuchthaus, (so hieß das damals noch), kann ich sagen, dass Blatt zu den großen ungewöhnlichen Erscheinungen der deutschen Nachkriegspresse gehört. Natürlich kenne ich ähnliche Organe aus anderen Großstädten, aber vielfach fehlt ihnen – wie soll ich sagen: der Charme. Das liegt wohl an München. Hier kam ja schon manches mit mehr Geist und Spiel daher, auch wenn es noch so grimmig gemeint war.
Abgesehen von den diversen journalistischen Leistungen der im Blatt agierenden journalistischen Amateure brilliert das Blatt durch eine geradezu unglaubliche Funktion – die ursprünglich sicher gar nicht SO gewollt war: Es ist eine große Lupe auf jene Nahtstelle, wo Staat und – milde gesagt – Staatsverdrossene aufeinandertreffen. Natürlich schreibt das Blatt tendenziös, aber eben: Die offenbare Notwendigkeit des Tendenziösen ist ja schon wieder ein Faktum. Und wo Fakten sind, sind auch Ursachen. Diese Ursachen werden durch das Blatt grell sichtbar gemacht.
Was mich aber eigentlich fasziniert, ist die zweite Funktion: Blatt gibt – völlig offen, geradezu naiv oft – Einblick in die Szene und Denkweise der jungen Linken und Alternativlinge. Nach meiner Entlassung aus Straubing schloss ich mich stramm den Linken an; das war 1970. Enttäuscht von den dortigen menschlichen Mistigkeiten, driftete ich wieder zu meiner alten Mitte, wo ich sozusagen heute noch bin.
Ich gab der linken Szene schon damals keine Chancen mehr; eine Erkenntnis, unter der ich lange gelitten habe. Heute macht es mit nichts mehr zu sehn, dass ich leider recht hatte.
Es war – links, wo das Herz ist – zuwenig Herz und zuviel Ichsucht, es war wohl eine große gemeinsame Emotion da, aber zuviel kleiner Geist.
Und insofern war „Blatt“ noch nie so interessant wie gerade heute. Der geistige Verfall der linken Szene strahlt aus jeder Seite, das Miese ist geradezu zum Zentralproblem geworden – viele Leserbriefe etwa erheben da Klage, und die Zunahme dieser Klagen scheint mir typisch für die Entwicklung, die „das Linke“ in der relativ kurzen Erscheinungszeit des Blatts genommen hat. Und so bricht denn deutlich sichtbar die „Szene“ in alle möglichen Richtungen auseinander – von der rationalsten bis zur „mediatiefsten“, und das scheint mir nur logisch. Wo vom wahren und bitter notwendigen gemeinsamen Geist nur gesprochen, aber nie nach ihm gehandelt wird, hat er sich nach einiger Zeit selbst diskreditiert.
Ein Beispiel, das für alle sprechen mag: Als die Mofa-Leute („Moneten für Alternativen“) im Blatt zum Treffen im Werkhaus aufriefen (= rund 15.000 Appelle), erschienen die vier bereits vorhandenen Mofa-Organisatoren – und ich. Ich hatte mir 200 Märker eingesteckt und war hingegangen – in der Annahme, dort zwar nicht gleich 15.000, aber doch mindestens Hunderte von Leuten zu treffen, je mit vielleicht 10 Mark in der Tasche zum Start des Projekts. Ich fand die Idee gut, quasi nun auf der linken Seite, wo ja auch wirtschaftliche Prozesse stattfinden, Verkauf und so, eine eigene Bank zu gründen.
Kurz, es wird nicht dazu kommen, und bis heute hat dort niemand meine 200 Mark gewollt. Aber auch ich selbst will schon gar nicht mehr; es wäre ein dummes Opfer. Es ist nichts los mit der neuen, besseren Welt, wo sie vielleicht droht, zehn Mark zu kosten. NA und so weiter, es ist überall das selbe. Die jungen Linken sind ein grausam trauriger, unzulänglicher und sehr mittelmäßiger Haufen geworden; es ist nichts mehr zu erhoffen von dort.
Und nun zum Knast:
Es kanstelt ja überall jetzt, etwa auch in der AZ. Für eine dermaßen blöde Zeitung ist die Serie „Knastkönige“ überraschend gut gemacht. Aber gleich zu Euch:
Das Knacki-Festival der Spontonisten hat also nichts erbracht; es trug sich gerade selbst, der erhoffte Gewinn zugunsten eines MW/LW-Empfängers blieb aus – musste auch ausbleiben, denn die linke Szene ist an sich schon pleite und muss logisch Pleiten erzeugen.
Hätte ich rechtzeitig von diesem Fest erfahren: Auch ich wäre nicht hingegangen. Denn was der Einladung im BLATT vorausging, war schlimm genug. Ich meine den „Sarkophag“ in Nr. 125. Dieses weinerliche Schlosshundgeheul an den Mond, diese qualligen Blüten von Selbstmitleid, diese vorwurfsvollen Dackelaugen der Knastologen waren mir schon immer zum Kotzen. Schon der P.P. Zahl-Kult fällt darunter, wenn auch Zahl immerhin einiges literarische Gewicht dabei einbringt, von seiner persönlichen Haltung ganz abgesehen – also schön, lassen wir den; sein Geheul ist immerhin lesbar.
Ich kannte viele Ganoven von Format. Von denen hat nie einer gejammert. Und ich selbst war mir weiß Gott immer zu fein dazu, dem Staat zu konzedieren, er habe mich getroffen. Ich habe die Erscheinungen des Strafvollzugs eigentlich nur dazu benutzt, über diesen Staat etwas zu lernen. Dort, wo seine Macht nicht mehr kontrolliert wird – im Knast eben – tritt er am deutlichsten zutage. Richtig, es fällt anfangs irrsinnig schwer zu sehen, dass die Vollzieher seiner Macht mit genau dem Wasser kochen, das uns ins Zuchthaus geschwemmt hat. Aber es ist auch würdelos, dem Staat und seinen Spielregeln, seiner Ordnung, eins auf den Rüssel zu hauen (ich selbst mit der Pistole) und sich dann hinter den Mauem als der höchstbeleidigte Wächter von Zucht und Ordnung zu gebärden! Und es ist ein Widerspruch, das uns umgebende System für faul und schlimm zu halten und dann, sobald es zurückgebissen hat, von ihm in babyäugiger Sensibilität zu erwarten, es habe mit rosigen Fingern allerhöchste Tugendpflege zu betreiben! Wo Macht aufeinander stößt – die selbstergriffene und das staatliche Monopol darauf -, geht es eben ruppig zu – nicht immer gesetzestreu, stimmt, aber wo auf dieser Welt geschähe das schon?
Na, und dann die Leserbriefe aus den Zellen! Da braucht jemand das Radio um nicht „zu verrotten“. Ich würde diesem sauberen Herrn empfehlen, den Knast nicht für eine Diskothek zu halten und mal zu lernen, wie man ein Buch aufklappt und womöglich irgend etwas tut für sein Hirn! Ich habe in diesen zehn Jahren (OHNE Radio in den ersten sechs Jahren und mit 12 Pfennig Arbeitsverdienst pro Tag zu Anfang) zwei Sprachen gelernt, 1,5 m Kunstgeschichte, 1 m Religionsgeschichte, 8 Jahre Weltliteratur usw. usw., und ich war umgeben von Kollegen, die in gleicher Weise alle irgendwie etwas TATEN! Wer drin ist, soll dies gefälligst zur Kenntniss nehmen und zu irgendeiner Haltung finden, die ihn für diesen Staat stark und unempfindlich macht. Ich hätte es schon abgelehnt, mir von diesem System auch nur einen einzigen Knasturlaub schenken zu lassen. Aber soweit ich sehe, geht es den heutigen Knastologen bei ihren Knastereien vor allem um die Abwicklung irgendwelcher Urlaubsfreuden – pfui Deibel, ist das alles ein Pack.
Natürlich ringt ein Typ wie Matyeka1 Respekt ab (So einen Fall gab es schon mal; siehe beiliegende Zeitungskopie von 1970). Ich halte ihn aber trotzdem für irregeleitet. Mit der traditionellen Opferbereitschaft von Ketzern und Revolutionären tritt er ein für eine Art rechtlicher Sauberkeit, für Gesetz und Grundgesetz und die „unantastbare Würde“. So stark das ist, so sehr legt es die Frage nahe: Was soll dabei herauskommen, wenn der Staat ausgerechnet im Knast überzeugt? Genauer: wirbt für seine Vorbildlichkeit? Wir würden Entlassene bekommen, die angesichts eines Ladendiebes empört aufschreien, die weinend dem nächsten Kontaktbereichsbeamten nachlaufen und ihm gestehen, sie hätten Unzüchtiges geträumt.
Kurz: Wer das dubiose Glück hat, in wenigen Knastjahren das zu lernen, was anderen ein ganzes Leben lang verschlossen bleibt, der sollte diese Chance zumindest SEHEN. Und wer verlangt, dass der Staat SELBER seine Spielregeln einhält – die er sich immerhin selbst vorgeschrieben hat -, der hat eben in Gottsnamen auch die Pflicht, diese Spielregeln für sich selbst zu übernehmen und sie von innen heraus anzuerkennen! Und da möchte ich schon ganz erhebliche Zweifel anmelden. Ich glaubte einfach nicht, dass die Bejammerer des heutigen Strafvollzugs so todentschlossen sind, dem Staat später vorzuleben, wie man’s besser macht. Angriff auf Unrecht muss nun mal aus Rechtsbewusstsein kommen, nicht aus bloßem Verlust liebgewordener Bequemlichkeiten. – Es war geradezu ein Abzeichen der starken Ganoven, dass sie dem Unrecht seine Existenz konzedierten: „Jetzt sind die dran “, sagte mir ein Kollege, „und dann bin ich wieder dran.“ So sah er’s, als einen Schlagabtausch, und alles, was man ihm zufügte, machte ihn nur noch entschlossener. Das bessert zwar die Verhältnisse nicht, aber es hat Format – eben jenes Format, das der heutige Strafvollzug seinen Gefangenen aufzwingt. Wo freilich in solcher Situation nach Marzipanschweinchen geschrieen wird, wäre ich sozusagen dafür, dass noch mehr Essig gereicht wird. So lange eben, bis den derart Bedienten endlich ein Licht aufgeht. Das schließt nicht aus, für bessere Bedingungen zu kämpfen. Aber es schließt nach meinem Geschmack aus, die schlechten Bedingungen anzuwinseln.
Ihr seht, ich bin wirklich resozialisiert. DIESER Gesellschaft habe ich mich angepasst, ich kenn mich aus in ihrer Denkweise und Haltung und mache beides mit. Vielleicht liegt das auch daran: Was heute als „Isolationsfolter“ bezeichnet wird, wären zu meiner Zeit Vergünstigungen gewesen Das war’s
Euer Schlötelburg
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Dazu das Blattkollektiv und der zufällig anwesende D. Jango:
„Der geistige Verfall der linken Scene strahlt aus jeder Seite, das Miese ist geradezu zum Zentralproblem geworden.“ Man kann schreiben, lamentieren, schreiben, solange man will, aber es ist doch kaum anzunehmen, dass in der „alten Mitte“ weniger „menschliche Mistigkeiten“, mehr Herz und weniger Ichsucht anzutreffen sind. Obwohl die Ursache dieses Verfalls in die Miesen darin zu suchen ist, dass uns in letzter Zeit zu viel Marzipan und zu wenig Essig verabreicht wurde? Stimmt, die Zeiten der großen Straßenkämpfe, in denen man noch die Chance hatte, mit dem guten alten Knüppel eins übergebraten zu kriegen, liegen schon lange zurück, und Stalingrad haben wir leider nicht mehr miterleben dürfen. Schön warn sie schon, die alten Zeiten, in denen man noch ‚Format’ zeigte, die einen bei eisiger Kälte im Schützengraben, die andern mit 12 Pfennig am Tag im Zuchthaus.
„Dieses weinerliche Schlossgeheul an den Mond, diese qualligen Blüten von Selbstmitleid, diese vorwurfsvollen Dackelaugen der Knastologen waren mir schon immer zum Kotzen.“ Naja. Aber sich dieser Gesellschaft anzupassen, wieder in die alte Mitte abzudriften, einzutauchen, unter Wasser zu schwimmen und sich über das Erstaunen der anderen zu freuen, dass du noch nicht ersoffen bist, weil dir inzwischen Kiemen gewachsen sind, wie es unter anderem H. Schlötelburg in seinem durchaus lesenswerten Buch „Gegendarstellung“ träumt, ist auch nicht gerade das non plus ultra an Fantasie, der große Geist. Durch diese Brille muss man ja gerade im Beispiel Matyeka eine irregeleitete Opferbereitschaft sehen, was sie nicht ist. Denn Leben spielt sich für einen Menschen nicht unter, sondern über Wasser ab, Leben ist nicht wie das Fernsehprogramm, das ich ausschalten kann, wenns mir too heavy wird.
Die Dachbesteigung war für Karoly sicher in erster Linie ein Akt von Leben und nicht ein Bejammern dessen, dass der Staat nicht „selber seine Spielregeln einhält, die er sich selbst vorgeschrieben hat“. (Er hat sie sich auch selber gar nicht vorgeschrieben, sondern nur uns.)
Und Karoly dürfte kaum an diese Spielregeln glauben, sondern will sagen: „Ihr Paragraphenhengste, solange Ihr Eure eigenen Spielregeln nicht einhaltet, lassen wir uns von Euch überhaupt nichts sagen. Wie einer seinen Erkenntnisprozess betreibt, kann erst ganz zum Schluss eine Frage des Formats sein. Karoly ist aufs Dach gestiegen, um seinen aufrechten Gang weithin sichtbar zu zeigen – zuallererst seinen Mitknackis – und Schlötelburg hat dafür 1,5 Quadratmeter Kunstgeschichte, 1 Meter Religionsgeschichte, 8 Jahre Weltliteratur etc. etc. gelesen.
Blatt. Stadtzeitung für München 130 vom 28. September 1978, 14 f.
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1 Der Gefangene Karoly Matyeka hungert und durstet seit dem 25. August 1978 auf dem Dach der JVA Straubing aus Protest gegen unzumutbare Verhältnisse, für menschenwürdiges Essen und mehr Briefmarken.