Flusslandschaft 1960

Rechtsextremismus

»Es gibt Lagen, in denen man die schlafenden Höllenhunde wecken muß, um an ihrem Gebelle innezuwerden, wie nahe wir der Hölle noch sind. Nur indem wir jenes Finstere, das da und dort in unserem Volke noch sein Unwesen treibt, auflösen, werden wir es bannen.«1

Am 25. Dezember 1959 wurde die Kölner Synagoge geschändet. Dieser Vorfall wird der Anlass für eine antisemitische „Schmierwelle“. Bis zum 28. Januar 1960 registriert das Bundesamt für Verfas-
sungsschutz „470 Vorkommnisse“.2 Inwieweit auch München davon betroffen ist, ist nachzuprü-
fen. Sehr schnell werden von bundesrepublikanischen Behörden „ostzonale Drahtzieher“ verdäch-
tigt, deren Interesse es sei, die Bundesrepublik international als Hort des Revanchismus und Neo-
nazismus zu diskreditieren. – Erhebungen zur antisemitischen Schmierwelle 1959/60 zeigen, dass die Bereitschaft, antisemitische Aktionen zu bestrafen, in der Bevölkerung deutlich ansteigt. Aller-
dings werden erneut Forderungen nach einem Schlussstrich laut. Erstmals kommt es zu einem Kampf gegen den Antisemitismus, ohne dass sich konkret zu charakterisierende Antisemiten offen als Gegner anbieten. Da auch nach langem Suchen kein Schuldiger gefunden wird, der bereit ist, sich inhaltlich mit der Schmierwelle zu identifizieren, und die Täter zumeist Jugendliche sind, findet eine Trendwende in der politischen Kultur zu gezielter anti-antisemitischer Pädagogik und zu einer Aufarbeitung des Themas unter bürgerlichen Intellektuellen statt.

Karl Stankiewitz berichtet in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung von der „Hungaristischen Bewegung“, die eine neue „faschistische Internationale“ im Münchner Sterneckerbräu errichten will. Seit 1959 treffen sich eine Handvoll Exil-Ungarn regelmäßig im Torbräu, das im Tal gegen-
über vom ehemaligen Gründungslokal der NSDAP liegt, um Terror und Partisanenkrieg zu planen. Nach Erscheinen des Artikels wird der Journalist wegen „Verleumdung“ angezeigt. Das Münchner Amtsgericht findet aber den Bericht „durchaus als angemessen zur Wahrnehmung der berechtigten öffentlichen Interessen“. Verteidiger Rechtsanwalt Otto Gritschneder sagt zu dieser freisprechen-
den Urteilsbegründung: „Bemerkenswert!“3

„Ende 1960 wurde in verschiedenen Publikationen der ‚nationalen Rechten’ das Erscheinen einer neuen Schriftenreihe angekündigt, die unter dem Titel ‚Das Tribunal – das Taschenheft der Tatsa-
chen’ von Ludwig Leher, Diplom-Volkswirt in München, herausgegeben wird. ‚Das Tribunal’ werde Tatsachen aufrollen, ‚die hierzulande noch nie behandelt wurden’ und die ‚erst ein wirkliches Ver-
ständnis des Weltgeschehens ermöglichen und die ganze Gefahr aufzeigen, in der wir leben’. ‚Das Tribunal’ werde ‚erste Autoritäten des Auslandes zu Wort’ bringen, ‚Ehrenmänner von Rang und Namen, deren Stimme totgeschwiegen wird’. ‚Ihre Aussagen, Beweise und Urteile bilden das Tribu-
nal – über all die Schuldigen an dem uns drohenden Verhängnis.’ … Wer mehr der Hefte weiter-
vertreiben kann, leistet durch großzügige Verbreitung der verschwiegenen Tatsachen im Wahl-
kampfjahr 1961 einen besonderen Beitrag … Jedem denkenden Deutschen muss in dieser kriti-
schen Zeit ernsthaft an einer wirklich-demokratischen Bundesregierung gelegen sein, an einer Regierung, die nicht das Wohl der Wall Street, sondern das Anliegen des deutschen Volkes wahr-
nimmt.’“4

„Dass der Faschismus nachlebt, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrer Fratze, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete, rührt daher, dass die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten … So vergessen aber sind Stalingrad und die Bombennächte trotz aller Verdrängung nicht, dass man den Zusam-
menhang zwischen einer Wiederbelebung der Politik, die es dahin brachte, und der Aussicht auf einen dritten Punischen Krieg nicht allen verständlich machen könnte. Auch wenn das gelingt, besteht die Gefahr fort. Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“5 Auf diese Formel können sich viele einigen, Liberale, Linke, Konservative, Soziolo-
gen, Nationalökonomen, Psychoanalytiker … Uneinig sind sie bei der Beschreibung der gesell-
schaftlichen Voraussetzungen des Faschismus.

»Der Weg der neueren Bildung geht / Von Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität.« Franz Grillparzer

(zuletzt geändert am 27.2.2019)


1 Erklärung des Deutschen Bundestages am 20. Januar 1960 zu den nazistischen und antisemitischen Vorfällen.

2 Die antisemitischen und nazistischen Vorfälle. Weißbuch und Erklärung der Bundesregierung. Hg. von der Bundesre-
gierung, Bonn 1960, 36.

3 Siehe https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/hungaristische-bewegung-nach-manier-von-joseph-goebbels-art-453704.

4 Vgl. Manfred Jenke, Verschwörung von Rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945, Berlin 1961, 388 f.

5 Theodor W. Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? Frankfurt am Main 1960, 20 ff.

Überraschung

Jahr: 1960
Bereich: Rechtsextremismus