Materialien 1978

Rathausumschau

Anlässlich des 820. Stadtgründungstages hielt der Oberbürgermeister Kiesl eine bemerkenswerte Ansprache, die er mit den Worten des alten Goethe schloss: „Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan, und keinen Tag soll man verpassen; das Mögliche soll der Entschluss beherzt sogleich beim Schopfe fassen.“

Nun – Kiesl ist wohl ein Mann der Tat. Kaum einen Tag im Amt, jonglierte er mit Millionen-Beträgen. Er erhöhte die Bezüge „unserer Stadtväter“ drastisch und führte neue entschädigungsfähige Sitzungszeiten ein. Den Frauen der Bürgermeister gestand er Sekretärinnen, sogenannte „Hofdamen“ zu, und da München doch keine Provinzstadt ist, beschloss er eine repräsentative Neugestaltung des Rathauses.

Wo kämen wir denn hin, wenn jeder Normalbürger ohne Schwierigkeiten beim Bürgermeister vorsprechen kann: Sicherheitsglas, Sicherheitstüren, Sicherheitsmaßnahmen, vielleicht auch bald patroullierende „Schwarze Sheriffs“ vor der Eingangspforte. Die Farben ihrer Uniform bräuchten sie nicht ändern und die nötige Tradition haben sie auch. Wenn Franz Josef Strauß seinen Sitz als bayrischer Ministerpräsident dann noch in München hat, dann kann es einem jetzt schon wohlig über den Rücken laufen:

Galaempfänge im Haus der Deutschen Kunst, glanzvolle Premieren im Deutschen Nationaltheater, geschichtsträchtige Ausstellungen im Deutschen Museum, glanzvolle Organisation der Olympischen Spiele (Kiesl bekundete schon sein starkes Interesse) – ja, München wird seine Provinzialität verlieren, in Bewegung geraten.

Da aber gute Stadt- und Landesväter auch mal streng sein müssen, je nach Laune, dürfen sie nicht immer ein offenes Ohr haben. Vor allem, wenn es um sog. „Kunst“, Pissoirkunst geht: so verwehrte das Kulturreferat dem Rationaltheater nicht nur einen Zuschuss in Höhe von sage und schreibe 8.000 DM für eine Produktion namens „So arbeitet die Hoffnung“, Lyrik des argentinischen Widerstands, sondern auch einen zweiten, der noch unverschämter war, nämlich 4.000 DM, für ein Stück des Dramatikers Wolfgang Graetz, Titel „Die Hausbesitzer“, wahrscheinlich mit der Bemerkung, der solle doch nach drüben gehen, was er auch tat, denn die Uraufführung findet jetzt in Ostberlin statt.


Heinz Günther Gross: Saustall ohnegleichen

Aber nicht nur bei der Vergabe von materiellen Mitteln werden die Abforderungen stark angezogen. Selbst der Name einer Künstlergruppe muss das Wohlgefallen der Münchner Stadtväter finden: So hatte P. Dienstbier beim „Sogenannten Linksradikalen Blasorchester“ angefragt, ob es heuer an der Münchner Liedermacher-Woche teilnehmen wolle. Der Heiner Goebbels hat für’s Blasorchester zugesagt. Doch da stellte sich alsbald heraus, dass der Peter Dienstbier die Rechnung ohne den Wirt, in diesem Fall den Münchner Kulturreferenten Dr. Jürgen Kolbe, gemacht hatte. Der nämlich veranlasste den Peter Dienstbier zu folgendem Schreiben an den Heiner:

Lieber Herr Goebbels, leider hat der Münchner Kulturreferent, Herr Dr. Jürgen Kolbe, mir untersagt, das „Sogenannte Linksradikale Blasorchester“ bei unserer Liedermacher-Woche auftreten zu lassen, mit der Begründung, der provokative Name dieser Gruppe sei, ungeachtet des Inhalts der Darbietungen, politisch in München nicht tragbar bei einer städtischen Veranstaltung.

Im Zusammenhang mit dieser Sache wurden sogar disziplinarische Maßnahmen gegen mich eingeleitet.

Vivat liberalitas bavarica!

Mit freundlichen Münchner Grüßen
Ihr Peter Dienstbier

Zum Schluss noch einer von 1000 wichtigen Winken für Städter, Landleute & andere Gegner von Verschwendung, Verseuchung & Verdummung: Tip 806: Die Deckel zerbrochener Einmachgläser sind vorzüglich als Blumentopf-Untersätze verwendbar.


Blatt. Stadtzeitung für München 124 vom 7. Juli 1978, 5.

Überraschung

Jahr: 1978
Bereich: CSU

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