Materialien 1978
Mein Gott, was soll aus Bayern werden?
Eine Vorausschau
Unvergesslich jene Minute, in der nach vorläufig endgültiger Hochrechnung feststand:
CSU 59 Prozent!
Schweigen in den Räumen der Parteileitung an der Lazarettstraße zu München. Ängstliche Blicke suchten nach den vertrauten Gesichtszügen des Vorsitzenden. Der saß versteinert. 59 %, das waren zehn Punkte unter dem erwarteten Ergebnis. Das wär das Wiederaufleben der bayerischen Sozialdemokratie, die man bereits als Bagatellbelästigung betrachtet hatte.
Das war ein eindeutiger Vertrauensentzug der bayerischen Bevölkerung. Dachte der Vorsitzende voll Bitterkeit an die vielen Opfer, die er seinem Volk dargebracht hatte? Hatte er nicht, immer wieder zögernd, aber dann doch zugestimmt, ihnen den Ministerpräsidenten zu spielen? War er nicht bereit gewesen, rastloser Pendler zwischen Airbus – Wiener Wald – Bonn und Bayerischer Staatskanzlei zu sein? Und das nun der Dank? Dem Gespött preisgegeben und der Feststellung, dass 41 % seiner Landsleute ihn nicht gewählt hatten? Hinter dem finster brütenden Vorsitzenden stand der an seiner Unterlippe nagende Generalsekretär, der zur Siegesfeier herbeigeeilte ZDF-Moderator, die verlegen vor sich hinstarrenden Redakteure des Bayernkurier.
Da hob der Vorsitzende seine linke Augenbraue leicht an, und sein zusammengekniffenes rechtes Auge fiel auf einen in ihrer Mitte, der schweißüberströmt auf seinem Stuhl kauerte und dem Blick des Vorsitzenden zu entgehen suchte.
Alle Augen richteten sich nun auf ihn. Und es entstand endlich Bewegung in diesem vereisten Klümpchen geschlagener Parteifreunde. Ja, da saß sie, die Ursache dieses fatalen Prozentsturzes: Erich Kiesl, der glücklose Oberbürgermeister von München! Ihm hatte man die fehlenden 20 % zu verdanken. Ihm war es anzulasten, dass sogar in der Münchner Presse leichte Ansätze zur ironischen Betrachtung der CSU-Politik zu verzeichnen waren.
War bis zu diesem Augenblick noch diesem oder jenem Parteifreund der Gedanke durch den Kopf geschossen, ob man die Wähler während des Wahlkampfes nicht durch zu große Offenheit vor den Kopf gestoßen, ob man sie nicht doch für zu blöd gehalten, ob man, mit der Behauptung, man verteidige sämtliche liberalen Positionen in diesem Lande, nicht vielleicht mehr Gelächter als Zustimmung erzeugt habe, so waren diese Denkansätze wie weggewischt, als der Zorn des Vorsitzenden schwer auf den schuldigen Kiesl fiel. Immerhin setzte sich nach Abzug des Gewitters die Meinung durch, dass man mit 59 % noch ganz leidlich regieren könne.
Einmütig wurde beschlossen, im Verlaufe der nächsten Jahre dafür zu sorgen, dass solche Dinge sich nicht mehr wiederholen können. (Die am nächsten Tage in einer Boulevardzeitung erschienene Schlagzeile „KIESL BOT STRAUSS RÜCKTRITT AN – STRAUSS KIESL OHRFEIGEN“ entbehrt jeder Grundlage. Von einem Rücktritt Kiesls war nie die Rede.)
Folgende Maßnahmen wurden beschlossen:
Der Bayerische Rundfunk wird als Hauptschuldiger an dem unerwarteten Ausgang dieser Wahlen bezeichnet. Dazu Strauß: Wissen möchte ich, wieviele Leute aus der Lazarettstraße wir noch in diesen Sauladen schicken sollen. Ich kenn ja da schon gar keinen mehr, der nicht von uns kommt!
Innenminister Alfred Seidl wird aufgefordert, die Überwachung von Schülern, die mit der kommunistischen Tarnorgansation SPD sympathisieren, zu verstärken. Dazu der Generalsekretär: Die Aufbereitung des zukünftigen CSU-Wählers beginnt im Vorschulalter.
Der Partei nahestehende Bankdirektoren sind angehalten, das Kreditwesen nach strengeren politischen Grundsätzen zu behandeln.
Den Parteifreunden in ländlichen Wahlkreisen wird aufgetragen, das Verhalten von notorischen linken Einzelwählern aufmerksamer ins Auge zu fassen. Dazu ein Abgeordneter: In P. hat sich die Zahl der SPD-Wähler glatt verdoppelt! Von einem auf zwei. Erst der Vater und nun auch noch der Sohn.
Als Denkanstoß für die Bevölkerung des Landes wird das Münchner Oktoberfest auf die Dauer von drei Jahren nicht mehr durchgeführt.
Dieter Hildebrandt
Die Neue vom 22. September 1978 (Nullnummer), 6.