Materialien 1978
Kulturpolitik als Schmierenkomödie
Erfahrungen und Erkenntnisse aus drei Jahren praktischer Kulturarbeit in der Landeshauptstadt München
„Bayern ist ein Rechts-, Sozial- und Kulturstaat“, heißt es in der bayerischen Verfassung. Mün-
chen dagegen ist eine „Kunststadt“ – früher trug sie eine Zeit lang neben anderen Titeln den der „Hauptstadt der Deutschen Kunst“, dessen entsinnt man sich aber etwas zwiespältig. Wer dieser Stadt und diesem Freistaat solche schmückenden Beiwörter abstreitet oder sie gar – aus gutem Grund – belächelt, zieht sich augenblicklich den massiven Hass aller hierzulande um die Kultur Beflissenen zu: es ist wohl eine der fatalen Eigenschaften des altbaierischen Stammes, mangelnde Qualität durch sentimentales Eigenlob zu kompensieren, und wer dieses auf ständiger Verdrän-
gung ruhende Selbstwertgefühl in Frage stellt, erweckt die totale Volkswut.
KULTUR gilt hierzulande als etwas, das schließlich jeder anständige Bürger einfach hat. Deshalb kann auch jeder mitreden, wenns um die Kultur geht. Kultur, das ist z.B., wenn man in die Staats-
oper oder ins Böhm-Konzert geht. Das Kulturerlebnis bringt man dann praktisch schon in der Ta-
sche vom schwarzen Anzug oder im Pompadour mit: was solche berühmten Leute machen und was so viel Geld gekostet hat, das muss einfach gut sein, muss große Kultur und ein großes Erlebnis sein, das wäre ja noch schöner! Wenn sich jemand erfrecht, eine schauerliche Repertoire-Auffüh-
rung im Nationaltheater auszupfeifen, dann wird er eben vom Vorsitzenden des König-Ludwig-Vereins gleich geohrfeigt: wir lassen uns doch unsere Kultur nicht madig machen!
Was die Kulturpolitik in München anbelangt, so ist dafür natürlich hauptsächlich das Ministerium des orgelspielenden Professors Maier verantwortlich zu machen. Dieser in höheren Sphären thro-
nende Kulturgott (man sollte ihm einen Preis für das süffisanteste Lächeln der BRD ausschreiben) ist ein echtes Prachtexemplar eines reaktionären Kulturpolitikers. Seine Verdienste, speziell auf dem Universitäts- und Schulsektor sind sattsam bekannt (Abschaffung des musischen Unterrichts, usw.)
Der Münchner „Kulturreferent“ ist, im Vergleich zum göttlichen bayerischen Kultusminister und dessen Übergewicht in der bayerischen Hauptstadt, eine relativ unbedeutende Figur; dennoch war der „städtische“ Bereich Münchens stets die einzige mögliche Alternative zur staatlichen „Hochkultur-Politik“. War, denn nach dem 5. März wurde das Rathaus gleichgeschaltet. Der SPD, die jahrzehntelang dort die Richtlinien der Politik bestimmte, muss man bitter vorwerfen, dass sie ihre kulturpolitischen Chancen jämmerlich vertan hat: die sozialdemokratische Kulturpolitik unterschied sich in München niemals wesentlich von der reaktionären. Kulturpolitik galt hier immer als etwas Überflüssiges, Nebensächliches, und dem Kulturverständnis auch der Sozialde-
mokraten haftete stets ein bourgeoiser Geruch an. Die SPD verstand unter Kultur das gleiche wie die CSU: entweder positiv, so dass sie alles gut fand, oder negativ, dass sie mit dem bürgerlichen Krempel lieber gleich gar nichts zu tun haben wollte.
Münchens langjähriger Kulturreferent, Herbert Hohenemser, ein menschlich durchaus integrer liberaler Schöngeist, hatte viele ganz gute Ideen (z.B. die „Kunstzone“, also „Kultur auf der Stra-
ße“), die damals aber für München viel zu progressiv waren und zu extravagant. Er wurde es lang-
sam müde, nachdem er Peter Stein, den besten Theatermann Deutschlands wegen einer Anti-Viet-
namkriegs-Aktion feuern hatte müssen, sich mit den Kulturbanausen unter seinen Stadtratskolle-
gen ewig herumzuraufen und resignierte. Anfang 1976 ging er vorzeitig in Pension, die dräuenden schwarzen Wolken wohl gewahrend. Als ich im Herbst 1975 in seinem Referat anfing, bestand dieses glorreiche Institut aus zwölf Mann, Amtsbote und Referent inbegriffen. Kein Archiv, keine Fachbibliothek, nicht einmal ein Dienstfahrrad.
Wohl gehören noch Museen, Bibliotheken und Theater zum Kulturreferat; sie sind jedoch total selbständig, vom Referenten wenig abhängig und kaum beeinfIußbar (ehestens über die Personal-
politik). Die zwölf Mann indes haben hauptsächlich koordinierende Verwaltungsaufgaben. Der eigentliche „Aktivitätskader“ bestand aus den Abteilungen „Sonderveranstaltungen“ und „Volks-
kultur“ (letzteres mein Ressort) beide zusammen vier Leute! Mein Vorgänger, CSU-Mann, war schon seit vor 1945 im Amte gewesen und ließ öfters mal im Jahr die Schuhplattler auf dem Ma-
rienplatz oder sonstwo tanzen; viel mehr an Substanz war nicht vorhanden. Der Verwaltungschef, jetzt pensioniert, pflegte regelmäßig lautstark Wagneropern im Büro zu hören – ein gemütlicher Verein. Viel mehr war mit zwölf Mann auch nicht zu machen.
Dann aber, im Frühjahr 1976, kam frischer Wind in den Laden. So dachten jedenfalls alle. Auch ich fasste einige Hoffnung. Zum Nachfolger Hohenemsers wurde mit einer Stimme Mehrheit ein 36-
jähriger Verlagslektor gewählt: Jürgen Kolbe, Dr. phil., verheiratet, ein Hund, parteilos. Er vertrat einen moralisch und sozial engagierten Standpunkt, rief Schiller, Hegel und Brecht zu seinen Zeu-
gen auf (Freiheit des Geistes, Fortschritt, Veränderung, Humanisierung usw. usw.), hatte hervorra-
gende Referenzen (von Böll bis Golo Mann); durch faszinierende neue Ideen wie „Kultur auf der Straße“ (siehe oben) machte er als Außenseiter das Rennen und schlug seinen schärfsten Konkur-
renten, den Schuldirektor Zehetmeier, aus dem Felde. Erstaunlich war, dass sich Leute der ersten Garnitur gar nicht in München beworben hatten (wie Sauberzweig oder Reddemann), sie waren sich offensichtlich für das Münchner Niveau zu schade. (Sauberzweig ist heute Kultursenator in Berlin).
In diesem Wahlergebnis reflektierte sich der desolate Geisteszustand der kulturpolitischen Funk-
tionsträger in München; ein auch nur halbwegs intaktes Kulturleben hätte einen Erfolg Kolbes ausgeschlossen und die Kandidatur erstklassiger Kräfte selbstverständlich gemacht. (Und wohl auch deren Wahl). So aber konnte sich Kolbe mit beachtlichem Raffinement und ebensolchener intellektueller und politischer Skrupellosigkeit nicht nur etablieren, sondern bis lang, auch nach der katastrophalen Wahlniederlage der SPD, die ihn eingesetzt hatte, fröhlich halten.
Als er damals ins Referat kam, war mit Verblüffung zu sehen, wie wenig sich seine hehren Worte in seiner menschlichen Verhaltensweise niedergeschlagen hatten: die Folgsamen, die Untertanen wurden gleich gekuscht und bekamen gelegentlich Zucker; Auf den weniger Bemittelten trampelte er herum; als er sich sicher fühlte, gab er denen, die kritisierten, Saures. So viel ich mich entsinne, war ich immer der Einzige, der ihn offen kritisierte.
Gleich am ersten Tag schilderte er wortreich seine zahllosen Verdienste um seine Leute gebührend zu beeindrucken. Darunter (unter den Verdiensten) befand sich auch der Bundesfilmpreis für sein Drehbuch zu einem Böllfilm, von dem er sich später, als er total verrissen wurde, sofort distanzier-
te (Der Regisseur sei schuld, etc.). Ich habe nie einen perfekteren Renommisten gesehen, es war amüsant, zu beobachten, wie er, bemüht, sein perfektes Insidertum auf dem Kulturparkett heraus-
zustreichen, alle bedeutenden oder auch nur bedeutend aussehenden Leute mit Du anredete, auch wenn sie ihn gar nicht kannten.
Unerträglich aber wurde mir im Laufe der Zeit regelmäßig, seinen eitlen Phrasen mitanhören zu müssen.
Das Münchner Kulturreferat bestand indes nach wie vor aus zwölf Leuten (Amtsbote und Referent eingeschlossen). Kein Archiv, keine Fachbibliothek, kein Programm, kein Dienstfahrrad, keine Struktur. Jeder wurstelte vor sich hin, wie es sich für einen echten Tante-Emma-Laden gehört. Langsam kamen ein paar Leute hinzu (bis heute fünf); aber auch heute noch können die Hambur-
ger, Berliner, Frankfurter und Nürnberger über die städtischen Kulturbemühungen Münchens aus ihrer Sicht nur gönnerhaft lächeln. Hier ein Konzertchen, dort ein Trachtenzug, dann wiederein paar Zuschüsschen und Preischen- das ganze an Provinzialität und Kleinkariertheit nicht mehr zu unterbieten. Das konnte so nicht weitergehen, blickte doch die ganze Welt erwartungsvoll auf Münchens neuen Kulturmacher. Also begann man, unter Aufbietung aller Kräfte, die totale Schau abzuziehen, ein schneller Erfolg, alles andere ist unwichtig. Die Philharmoniker auf dem Marien-
platz, die Kammerspiele in die Fußgängerzone, ein von den Nürnbergern geliehenes Kinozelt hin-
ters Rathaus, Kammerspielintendant Müller versteigerte alte Kostüme, und so weiter. Sicher alles ganz nett, aber ohne Vor- und Nacharbeit, ohne Integration in eine langfristige Planung, ohne sinnvolle Weiterentwicklung bleibts eben ein Jahrmarktsspektakel.
Trotzdem, und das liegt wohl an dem unausrottbaren bourgeoisem Kulturnimbus Münchens, ge-
lang es Kolbe, mit zahlreichen, immer gigantomanischer werdenden Kulturspektakeln (das Höch-
ste sollte ja Calafatti werden) bescheidene bundesrepublikanische Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und vor allem auf dem Marienplatz vor 10.000 Menschen (von denen die Hälfte vermutlich Touristen sein dürften, die das Glockenspiel oder das Hofbräuhaus suchen) die Carmina Burana von Opa Orff aufführen zu lassen, so ist das natürlich recht nach dem Geschmack der Münchner Bildungsphilister. Wenn diese Carmina Burana auch über 100.000 DM kosten (so viel wie der Jahresetat des Filmmuseums mit kommunalem Kino), und die Staatsoper das selbe Stück im Re-
pertoire spielt und wenn die Leute nach diesem grandiosen Kulturschauspiel wieder nach Hause laufen und allenfalls auf das nächste Jahr warten können – alle sind des Lobes voll über Münchens neuen, dynamischen Kulturreferenten.
Inzwischen ist aus einem Jahrmarktsgaudium ein Prinzip, eine Manie geworden; es werden alle Reserven aufgeboten, um möglichst das ganze Jahr über „Festwochen“ bieten zu können.
Dass sich dergestalt die städtische Münchner Kulturtätigkeit in popularitätsheischenden Groß-
spektakeln erschöpft, bedeutet auf der anderen Seite, dass sie als progressiv geplante, durchdachte, fortschreitend wirksame reale Kulturarbeit kaum in Erscheinung treten kann. Es gab und gibt, so unglaublich das auch klingen mag, in einer Stadt wie München keinerlei seriöse theoretische Grundlage für eine kulturelle Infrastruktur und eine darauf aufbauende mittel- und langfristige Kulturarbeit.
Die Möglichkeit, ein tragfähiges Konzept zur Veränderung der katastrophalen Münchner Kultur-
situation zu entwickeln, hatte zunächst das Stadtentwicklungsreferat des nun zur Bundesgarten-
schau abgeschoben werden sollenden Professors Marx. In Form eines „Kulturkapitels“ zum „Stadt-
entwicklungsplan“. Dieses mit ca. achtzig Mitarbeitern ausgestattete, aber völlig kulturfremde Amt entledigte sich in zweijähriger Arbeit dieser Aufgabe mit einem Elaborat von ca. 60 Druckseiten. Um die Realitätsferne dieses Meisterwerks vorzustellen, nur ein kurzes Zitat aus der Präambel:
„Die Landeshauptstadt München ist in der Lage, einen kulturellen Ruf vorweisen zu können, der über die Grenzen der BRD hinausreicht. Er schlägt sich sichtbar nieder in der großen Zahl von Touristen und Gästen (feiner Unterschied!) aus aller Welt, die angezogen werden durch das vielfältige Angebot an Kunst und Kultur.“
Bislang aber fragen fast alle Touristen nach dem Hofbräuhaus oder gar nach Dachau. Ob das die wahren Mittelpunkte der Münchner Kultur sind?
Doch zurück zum Kulturkapitel. Kolbe wurde beauftragt, die unbrauchbare Postille des Kollegen Marx durch ein echtes Kulturkapitel zu ersetzen. Dieser Auftrag lag mehrere Monate auf seinem Schreibtisch. Dann musste das ganze Referat (ausgenommen der Amtsbote) in drei Tagen dieses Kapitel um- oder abschreiben – ein unglaublich skrupelloses Unterfangen, das auch den gutgläu-
bigsten Mitarbeiter an der Seriosität des Amtsleiters zweifeln lassen musste. Meine Proteste wur-
den beschwichtigend abgewedelt; das neue Kulturprogramm strich das alte „Kulturkapitel“ auf die Hälfte zusammen und motzte es terminologisch ein wenig auf – fertig war das Zauberbuch. Es wurde bisher vom Stadtrat nicht verabschiedet und von Kolbe auch nicht wieder neu überarbeitet. Es gibt also tatsächlich kein Konzept für Münchens Kulturpolitik!
Dies, wie Kolbe, mit dem Argument abzutun, es sei ohnehin schon viel zu viel über Kultur ge-
schrieben worden, ist ebenfalls eine respektable Unverschämtheit; entschuldigt es doch die eigene Unfähigkeit mit der von Anderen, die es auch nicht besser machen. So wird weiter planlos nach dem erfolgreichen Spektakelprinzip fortgewurstelt. Eine Kulturfestwoche jagt die andere, ein Gaudium das nächste. Das wenige, unter miserablen räumlichen und instrumentellen Bedingun-
gen arbeitende Personal des Referats (ein Telephon auf drei Leute), wird bis zur Erschöpfung ausgepowert, man erwartet neben ständigen Zauberkunststücken zugleich auch noch die gewissen-
hafteste Erfüllung sämtlicher idiotischen und hemmenden bürokratischen Vorschriften, und das, was wirklich dringend notwendig wäre, nämlich eine ernsthafte langfristige Kulturarbeit, das geschieht nicht. Da gibt es neben der aufwendigen Woche „München Kultur“ noch die Stadtteil-
wochen, zwar gut organisierte, aber ohne langfristige Struktur- und Funktionsplanung letztlich ebenso wirkungslos verpuffende anbiederliche Sekundärschauspiele – sie werden vergeben etwa nach dem Motto: letztes Jahr war Sendling dran, jetzt wollen wir Giesinger auch mal eine Stadt-
teilwoche haben; oder: Herr Stadtrat Gauweiler besteht darauf, dass in seinem Wohnbezirk Kleinhadern jetzt endlich mal eine Stadtteilwoche gemacht wird! (Was für nächstes Jahr auch prompt geplant ist, die Red.)
1978 gabs eine Woche der modernen Musik, drei Stadtteilwochen , die Superwoche „München Kultur“, gibts die „Woche der Bayrischen Volkskultur“, in derselben Woche gibts auch noch die Woche der Münchner Liedermacher; vorgesehen sind noch eine Filmfestwoche, eine Literatur-
woche. Kulturpolitik – ist das nur eine Branche der Unterhaltungsindustrie?
Das mobile Kino muss 1978 immer noch von den Nürnbergern geliehen werden. Wenn man auf eine oder zwei Festwochen verzichtet hätte, könnte man heute das gesamte Stadtrandgebiet mit einem Angebot wichtiger Filme versorgen. Jedoch, die Initiativen für ernsthafte, ins Detail und zu den Leuten gehende Kulturarbeit wurde von Kolbe grundsätzlich „Privatleuten“ überlassen. So gründeten sich z.B. auf meine Veranlassung mehrere „Vereine“, zwei davon, um in Haidhausen und im Westend die Arbeit des Kulturreferats zu leisten (Westend-Laden und Haidhausen-Muse-
um). Diese Kleinzentren, die mit einem Zehntel des Etats etwa der Nürnberger Kulturläden und ohne eine einzige Planstelle ausgestattet sind (und dies auch nur auf Widerruf), ins Leben zu rufen, das war, unter den misstrauischen Blicken aller politischen Parteien und mit einer ängstlich-halb-
herzigen Unterstützung des Kulturreferenten, ein Zauberkunststück. Allerdings ein riskantes.
Ein persönliches Aha-Erlebnis hatte ich davon, als der Kulturreferent mir sagte, wenn ich, als Mitglied dieser Vereine mit jeweils sechs Freunden oder Bekannten (sieben Deutsche, ein Verein), praktische Kulturarbeit leistete, dann sei dies für mich doch eigentliche kein „Dienst“, sondern „Freizeitbeschäftigung“!
Es ist noch heute so, dass diese Art von Kulturarbeit (inzwischen gibts auch in Sendling und in Schwabing solche Kulturläden), die Leute, die sie aus Engagement und Idealismus tragen, teuer zu stehen kommen kann. Sollte eines Tages kein städtischer Zuschuss mehr gegeben werden (und woher sollten die Vereine denn sonst Geld bekommen – etwa von Siemens oder MBB?) dann hän-
gen die Leutchen drin, mit Mietverträgen u. dergl.; Kolbe erwartet wohl, dass sie dann von ihrem Gehalt als Apothekenhelfer oder von ihrem Arbeitslosengeld die Folgen seiner Kulturpolitik ab-
stottern.
Beim Verein „Klassische Musikwirtschaft“ war es schon beinahe soweit. 100.000 DM (real hinter-
her sicher 200.000 DM) werden fröhlich für drei Aufführungen von Carmina Burana, von denen die Hälfte durchschnittlich wegen Regens ohnehin ausfallen muss, ausgegeben. Ein Zuschuss von 50.000 DM für die Musikwirtschaft hätte genügt, deren Programm ohne Hängen und Würgen bis zum Jahresende an sechs Tagen pro Woche live machen zu können. Kolbe konnte sich nur zum Antrag auf die Hälfte durchringen.
Die Musikwirtschaft war Anfang März eröffnet worden (Klassik im Kreuzbräu) mit einem Startzu-
schuss von DM 15.000. Davon wurde die Grundausstattung beschafft (Flügel, Stereoanlage, usw.) und für ca. 60 Tage die Gagen der Musiker bezahlt. Anfang Mai war’s alle. Nach Versprechungen Kolbes wurde das Programm auf Risiko des Vereins bis Anfang Juni weitergeführt. Um ein Haar hätten die Vereinsmitglieder (also ich auch) 5.400 DM aus eigener Tasche berappen müssen, als sich Herr Kolbe plötzlich nicht mehr an seine Versprechungen erinnern konnte.
Dies nur ein paar Beispiele.
Schlimmer ist, dass wichtige kulturpolitische Chancen einfach nicht wahrgenommen wurden: so etwa der plan- und sinnvoll geförderte Einsatz der modernen Videotechnik (Stadtteilwochenschau-
en, Bürgerfernsehen), der ängstlich unterlassen wurde; die zahlreichen Initiativen mussten sich mit lächerlichen Aufträgen und Beträgen abspeisen lassen. Und dies angesichts der Tatsache, dass München ein Kabelfernsehen-Pilotprojekt zugesprochen bekommen hat, also zu den ersten Städ-
ten in der BRD gehört, in denen die Möglichkeit besteht, eine völlig neue, menschennahe Art von Fernsehen zu machen. Hier hätte die Stadt voll einsteigen müssen, gerade auch über das Kultur-
referat, hätte ein oder mehrere Videostudios für die Bürger einrichten sollen; Video ist ein wirkli-
cher „Aufreißer“, mit dem viele Menschen zu eigenständiger kreativer Betätigung zu animieren sind. Und natürlich auch zu politischem Handeln.
So etwas zu fördern, wäre für Kolbe, der seine Hauptaufgabe offenbar darin sah, seinen eigenen Promoter zu spielen, natürlich politisch viel zu riskant gewesen. Verstand es der „Parteilose“ doch, sich durchwegs gut mit allen Parteien zu arrangieren. Heckel, nach kurzer Zeit nur noch „Mäx-
chen“ von ihm tituliert, ward bald durch Progressivität und Dynamik überzeugt; mit „Manfred“ (Brunner) verbanden schon beinahe familiäre Beziehungen und CSU-Winfried (Zehetmeier) hinter der Hand stets mokant belächelt, wurde auf einer gemeinsamen Dienstreise nach Israel gewonnen. Allmählich waren alle Parteien gleichmäßig sicher, der Kolbe sei in Wahrheit einer der ihren, nur zeigen könne er es nicht Aus vielen zynischen Äußerungen Kolbes über diese Leute, die ich miter-
lebte und beobachtete, sprach immer wieder eine gehörige Portion Menschenverachtung (so erin-
nere ich mich noch, wie er sich kaum mehr einkriegte über einen versehentlichen „Auftritt“ Hek-
kels im weißen Anzug auf der Carmina Burana-Bühne vor dem Rathaus), am tiefsten verbittert hat mich jedoch seine (sinngemäße) Bemerkung über Julian Beck, den Leiter des Living Theaters, diesen blöden alten Sack, der ihm das ganze Festival vermassele …
Seit abzusehen war, dass die CSU die Wahl gewinnen würde, wurden die Anbiederungsversuche Kolbes nach rechts immer intensiver; gleichzeitig wurde alles vermieden, was die zukünftigen Herren hätte reizen können. Heute, nach der Machtergreifung Kiesls genügt es schon, wenn eine Musikgruppe „Sogenanntes Linksradikales Blasorchester“ heißt, ihr den Auftritt in München zu verbieten. Ein Mitarbeiter von mir, der mal einen Artikel im BLATT mitverfasst hatte, wurde deswegen fristlos entlassen (vor dem Arbeitsgericht bekam er dann Recht). Welche Gruppen in Bälde nicht mehr in den Genuss der Privattheaterförderung kommen dürften (München hat die meisten Privattheater in der BRD und gibt den kleinsten Betrag dafür aus, etwa 250.000 DM, dazu im Vergleich zahlt die Stadt für Staatsoper und Gärtnertheater 7 Mio DM) kann man sich leicht vorstellen.
Ein besonders würdevolles Schauspiel dürfte auch das demnächst realisierte Volkstheater-Projekt bieten (vgl. Blatt 114): München bekommt eine echte Kiesl-Bühne, mit dem bewährten CSU-Mit-
glied Kurt Wilhelm als Intendanten!
So etwas könnte ein engagierter, fortschrittlicher, ja auch nur halbwegs liberaler Kulturpolitiker niemals hinnehmen. Und wenn er es nicht verhindern kann, müsste er wenigstens bis zuletzt da-
gegen kämpfen, getreu seinen Leitbildern Schiller, Hegel und Brecht.
Aber, wo sind sie geblieben, im Geiste des Münchner Kulturreferenten? Auf der Strecke. Sie waren wohl nur Namen, nicht Substanz Es kann wohl einer nur das an Kultur vermitteln, das er selbst be-
sitzt. Kultur verstanden als schöpferische Sphäre, in der sich die zwischenmenschlichen Beziehun-
gen abspielen, sich entwickeln im fortschreitenden Bewusstsein von Freiheit.
Insofern lastet auf dem Kulturpolitiker eine große soziale Verantwortung und stellen sich ziemliche Anforderungen an seine intellektuellen und moralischen Qualitäten.
In den letzten Jahren hat sich, besonders auch in Bayern und München, ein erbärmlicher Gesin-
nungsverfall ereignet, ein geistig-moralischer Rückschritt. Wo sich Angst und Muckertum breit-
machen, Gesinnungsschnüffelei und Repression, bedingt das intellektuelle, also KULTURELLE Rückschritte.
Und es war, einige soziale und kulturelle Intelligenz vorausgesetzt, deutlich mitanzusehen, dass „Kulturpolitiker“ wie Kolbe, verborgen hinter einem Haufen bunt schillernder Phrasen, wacker dazu beigetragen haben. Wie sagte Heinrich Böll im „Clown“: „Es wimmelt von Ungeheuern in diesem Land“. Wäre es nicht Aufgabe eines Kulturpolitikers in diese Zeit, gegen Duckmäuserei und Opportunismus anzugehen, getreu seinem theoretisch verkündetem Anspruch?
Die Art, in der einer selbst mit Menschen umgeht, demaskiert ihn. Rigorose Menschenverachtung, wie sie auch immer psychologisch begründet sein mag, dürfte das Maximum sein an UN-Kultur. Wer Menschen unverfroren BENUTZT , sie nur deswegen für sich gewinnt, bereit ist, sie zu belei-
digen und zu schädigen, dafür natürlich jederzeit das gerade geeignete scheinmoralische und scheinpolitische Maximchen parat haltend, und dies alles wiederum nur, um andere auf jede er-
denkliche Art auszutricksen, der eigenen kleinen Karriere willen, der mag zwar erfolgreich sein, aber er handelt unverantwortlich, A-SOZIAL.
Bei Kolbe ist eine eigentlich geistige, moralische, geschweige denn sozial verantwortliche Motivati-
on seines Tuns nicht zu entdecken. Das einzig Erkennbare bleibt ein maßloser Ehrgeiz, der die Si-
cherung des persönlichen Vorteils um jeden Preis betreibt. Kolbes Kulturpolitik war und ist so, wie sein menschlicher Stil autoritär und skrupellos ist. Diese Kulturpolitik ist durch und durch reaktio-
när; sie ist nämlich überhaupt keine, und das ist dasselbe. Insofern bleibt er einer der Mitverant-
wortlichen des kulturellen Rückgangs der zweiten Hälfte der 70er Jahre.
Das einzige kulturpolitische Konzept Kolbes ist ein simpler Trick: im Grunde alles beim alten zu lassen, alle notwendigen Veränderungen zu verhindern, dies aber mit ständigen spektakulären Aktionen von populärem Verpuffungscharakter dekorativ zu verfremden. Dieser Trick wird, seit seinem ersten Erfolg, immerfort reproduziert.
Keine der wesentlichen und vermutlich lebenswichtigen kulturellen Entwicklungen, sie sich in der letzten Zeit in München andeuteten (Kleinkunst, Video, Volkstheater, alternative Bewegung), hat Kolbe erkannt und entschlossen gefördert; dies hätte Gespür, Motivation, eine leidenschaftliche vertretene Konzeption und den Verzicht auf billige Erfolge mit spektakulären Massenveranstaltun-
gen zur Bedingung gehabt.
Ohne solides, zumindest ernstgemeintes Konzept jedoch herumzuwursteln, mit verbalen Luftbla-
sen abzulenken, sich an zwar teueren, aber letztlich doch billigen Spektakeln zu berauschen (Mot-
to: gute Kultur ist, wenn möglichst viele Leute da sind und jubeln) , das heißt, eine existentielle Notwendigkeit, eine gewichtige, langfristige Aufgabe, wie sie die Kulturpolitik in einer großen Stadt mit vielen Menschen nun einmal ist, zur Schmierenkomödie zu degradieren.
Alle Menschen, die allein durch sich selbst, durch ihre kollektive und individuelle Ausstrahlung (Beispiel: 1. Roncalli Theaterfestival) die atmosphärischen Vorraussetzungen für wesentliche kul-
turelle Verwirklichungen geliefert haben, dienten Jürgen Kolbe lediglich als „nützliche Idioten“; im Grunde aber verachtet er sie zutiefst, herab vom Podest eines bourgeoisen Erfolgsmenschen. Hier wird ein Grundprinzip aller reaktionärer Kulturpolitik erkennbar: fast alle Dichter, Denker und Künstler waren einmal ihre Hassobjekte, wurden beschimpft als Schlawiner, Gammler, als Anar-
chisten, Langhaarige, Juden, Freaks, Chaoten, waren politisch nicht tragbar; bis sie der verkalkte bürgerliche Kulturbetrieb zu Mumien und Gipsfiguren ihrer selbst verunstalten, aller politischen Brisanz und Aktualität entkleiden, also zum „Kulturgut“ verharmlosen konnte. Reaktionäre Kul-
turpolitik lebt davon, dass sie mit sorgsam gehätschelten Kulturleichen die heute lebendige Kultur erstickt. Der Erfolg ist ihr stets sicher geblieben.
Gerade in München, einer Hochburg reaktionärer Kultur und reaktionären Kulturbewusstseins, hätte Kolbe als städtischer Kulturreferent sicher nicht alles verändern können, selbst wenn er es wollte; aber ein wenig hätte er zweifellos ändern können, und genau darauf wäre es angekommen. Und er hätte sofort beginnen, hätte Weichen stellen müssen, in den knapp zwei Jahren vor dem Wahlsieg der CSU!
Denn eines wird wohl auch dem Unbedarftesten klar sein: dass jetzt eben Original-CSU-Kulturpo-
litik gemacht wird.
Peter Dienstbier
Blatt. Stadtzeitung für München 125 vom 21. Juli 1978, 8 ff.