Materialien 1979
Im Paradies der warmen Gefühle
In Bayern wird der Kulturkampf mit Lust erlebt
Kulturkampf in München: seit Wochen, ja Monaten wird in der bayerischen Landeshauptstadt um die Kunst der Gegenwart gestritten. Die Welt der Künstler und Kulturpolitiker, der Kritiker und Sammler, der Galeristen und Museumsdirektoren zerfällt hier neuerdings nur noch sauber in die „Enkel des Götzen Duchamps“, die die ewigen Werte mit Füßen treten, und in die orthodoxen Hü-
ter von Münchens, gefeiertem kulturellen Erbe, die auf die Erhaltung der Maßstäbe pochen. Im Aufruhr der Gefühle, der die Leitartikelspalten der Münchner Zeitungen füllt, die Künstlerstamm-
tische in der Gaststätte „Leopold“ in Schwabing beherrscht und den Stadtrat letzthin in einer Wei-
se aufputschte, der ältere Leute an die schrillen Töne des „NS-Kampfbundes für deutsche Kultur“ erinnerte – in diesem Aufruhr setzten die Beteiligten schon alles aufs Spiel, was ihnen bei gutem Wetter heilig ist: die Freiheit, die sie meinen, die Toleranz, die sie brauchen und den Mythos von der leuchtenden Kunststadt München, an dem jetzt wieder einmal der Zweifel nagt.
Was ist passiert? Ist es ernst? Manchen Leuten ist es so ernst, dass sie vom Emigrieren reden. Sol-
che Gespräche entspannt Wolfgang Ebert, als politischer Satiriker seit zwölf Jahren in der Münch-
ner Szene zu Hause, mit sanfter Ironie. „Emigrieren?“ fragt er: „Wohin? Nach Aachen?“ Weil er sich noch daran erinnern kann, wie die SA die Ateliers stürmte, um nachzusehen, was gemalt wur-
de, betrachtet er den Münchner Kulturkampf anno 1979 zwar besorgt, aber gelassener. So weit ist es noch nicht. Aber wie ist so viel Verstörung dann zu erklären? Einfach ist die Sache nur für die Freunde gerader Beweislinien: Für sie ist die CSU-Mehrheit im Münchner Stadtrat im besonderen schuld und Franz Josef Strauß im allgemeinen. Aber da wird es schon schief: Mittlerweile trifft man in München über jeden linken Argwohn erhabene Intellektuelle, die fest daran glauben, dass Franz Josef Strauß ein Ausbund an Liberalität ist – verglichen mit seinen Parteifreunden, die im Stadtrat als CSU-Stimmführer in Kulturfragen von sich reden machen.
Aufgerissen wurden die Gräben für den sogenannten Kulturkampf womöglich schon 1972 bei den Olympischen Spielen. Damals machte sich Laszlo Glozer, der Kunstkritiker der Süddeutschen Zei-
tung – von Geburt Ungar, von Natur „sanft“ aber beharrlich – für avantgardistische Kunst auf dem Olympiagelände stark. Als „unsichtbare Skulptur“ propagierte er ein „Denkloch“, gegraben von dem Amerikaner Walther de Maria. Aus dem Plan wurde nichts, die Münchner begriffen das „Denkloch“ nur als Unverschämtheit, aber die verstörende Wirkung des Projekts blieb in der Erin-
nerung hängen. Etwa zur gleichen Zeit kritisierte Glozer auch die konservative Anschaffungspolitik der Staatlichen Bayerischen Museenverwaltung und meinte, die klassischen Schaustücke, die ge-
kauft würden, trügen nur „der Opern-Seite der Landeshauptstadt Rechnung“. Seine Empfehlung: den zögernden Eintritt der Museen ins zwanzigste Jahrhundert etwas zu beschleunigen und den Anschluss an die Gegenwartskunst nicht nur den Privatgalerien auf der Münchner Maximilianstra-
ße zu überlassen.
Unbeeindruckt vom Niedergang
Professor Dr. Erich Steingräber, der Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Spezialist für Augsburger Goldschmiedekunst, hat das nie vergessen. Damals sagte er nichts. Wie viele andere staute er seinen Ärger auf und hielt sich und seine Gemäldesammlungen in selbstge-
wählter Isolierung von allen avantgardistischen Diskussionen fern. Erst 1978, in einer bei Piper erschienenen Festschrift für den Münchner Rotary, schrieb er, sich zum Erstaunen, ja Entsetzen vieler die Wut und den Kummer eines zutiefst gekränkten Museumsfachmanns von der Seele. Seit den zwanziger Jahren, als Marcel Duchamps am Piedestal des Museums rüttelte und die Kunst „liquidierte, ohne Ersatz anzubieten“, seitdem kämpfen Musik, Literatur, Bildende Künste nach Steingräbers Überzeugung alle „Hand in Hand mit dem politischen Anarchisten für die permanen-
te Revolution, nur mit dem Vorteil der Immunität, die Ihnen die staatlich garantierte künstlerische Freiheit gewährt. Sie kämpfen ohne künstlerische Legitimation „gegen alle Autoritäten und Nor-
men, vor allem natürlich auch gegen die repressive Vaterfigur der staatlichen Ordnung“.
Darüber kann er noch heute so wütend werden, dass er alle Contenance verliert und am liebsten jedes Gespräch sofort abbrechen würde.
Aber wer hatte sich damals, Anfang der siebziger Jahre, schon etwas Böses gedacht, man wollte nur etwas Neues, Irrtum eingeschlossen – ein Wunsch, der unter den in München lebenden Künstlern seine eigene Geschichte hat. Schon 1902, in einer Schrift mit dem Titel „Münchens Niedergang als Kunststadt“ meinte der Münchner Bildhauer Hermann Obrist: „Wir werden oft gefragt, wie es nur komme, dass es in München nicht vorwärtsgehe in Dingen der Kunst, trotzdem es doch seit Jahren von allen Seiten an Attacken und eindringlichsten Warnungsrufen nicht gefehlt hatte. Andererseits werden wieder Proteste laut: Was habt ihr denn nur gegen München? Es ist doch eine herrliche Stadt. Seid doch froh, dass sie da ist, statt ewig zu nörgeln.“ Hört sich das heute nicht genauso an?
Auch 1926 gab es schon einmal einen „Kampf um München als Kulturzentrum“, damals nur mit umgekehrten Vorzeichen. Als Protest gegen den Vulgärfaschismus der örtlichen Presse fand am 30. November in der Tonhalle eine „kulturpolitische Kundgebung“ statt, mit der die Veranstalter hoff-
ten, das liberale, geist- und kunstfreundliche Bürgertum über die Presse hinweg zu erreichen. In seiner Ansprache sagte Thomas Mann: „Dieser kulturpolitische Kampf, meine Herrschaften, soll hier nicht entfacht, nicht vom Zaun gebrochen werden: er ist längst im Gange im Innern, in der Seele dieser Stadt.“ Die Anstrengung reichte nicht. München wurde die Hauptstadt der Bewegung. Zu seinem 50. Geburtstag erhielt Adolf Hitler von der deutschen Industrie das Haus der Kunst in München zum Geschenk. Von hier aus nahm 1937 die Wanderausstellung „Entartete Kunst“ ihren Lauf. Die Traditionalisten sind die ersten, die auf jene Maßstäbe pochen, die die Geschichte setzte, aber sie sind auch die ersten, die diesen Teil der Münchner Geschichte wieder vergessen. Wäre an-
ders Mathias Padua noch immer der Porträtist der Prominenz – der gleiche Mann, von dem der NS-Porno „Leda und der Schwan“ stammt, aber auch das Bild „Der Führer spricht“?
Verzückt von Pianisten
Solange die SPD noch im Münchner Rathaus regierte, gab die gutmütige Einfallslosigkeit der Ge-
nossen in Sachen Kultur wenig Anlass zum Kampf zwischen Kultur und Politik. Die SPD tat von sich aus nichts, um kulturelle Aktivitäten zu fördern, sie beschnitt aber auch keine Initiativen. Sie benörgelte höchstens einmal die Subventionen für die vielen kleinen Privattheater, die sich redlich bemühen, zum Rufe Münchens als Kulturstadt beizutragen. „Zu elitär“, lautete das Verdikt der SPD. Damals prägte ihr Kulturreferent Hohenemser das trotzige Genossenwort, auch Wohnkultur sei Kultur. Bayerische Lebensart gab das Wort nicht wieder. Ins „Paradies der warmen Gefühle“ zu entschweben, ist in Bayern nicht nur das Privileg einiger weniger, die, wenn sie den Pianisten Al-
fred Brendel oder Pollini lauschen, so verzückt sind, als hörten sie die Engel im Himmel (In keiner Stadt ist der Starkult um diese beiden Interpreten größer als in München, heißt es). Kunst gehört auch für jene Handwerker zum Lebensgefühl, die sich Münchner Malerfürsten des 19. Jahrhun-
derts in die Wohnung hängen und über ihren Leibl ein sachverständiges Gespräch führen.
Nirgendwo wird auch noch so viel musiziert, gesungen und Theater gespielt wie in Bayern. Da spielt das Brauchtum seine Rolle, die Volkskunst und die Religion. Die Formen der Kultur sind noch unzerstörter als in anderen Gegenden. Ein Altbayer, dem der Kulturkampf auf die Nerven geht, erzählte, welches Wunder man da erleben kann. Er hatte in Neubeuern eine Chorgemein-
schaft entdeckt, die gerade die Johannespassion einstudierte. Nach der Probe seufzte eine Bauers-
frau, die Sopran singt, beim Bier: „Jo mei, da melk’ ich leichter zwanzig Kühe als die Johannis-
passion zu singen. Die ist doch schwer.“
Jo mei, da werden die Welten deutlich. Die Mehrheit der Bayern huldigt einem privaten Kulturbe-
griff, der sich nicht öffentlich, gesellschaftlich oder politisch versteht. Sie genießen – doch wehe dem Künstler, der ihnen das Gefühl gibt, intellektuell unterlegen zu sein. Dass sie langsamer den-
ken als andere, wissen sie allein. In einer Art von defensivem Patriotismus weisen sie noch selber darauf hin, aber sie erwarten auch Rücksichtnahme. Auf die Moderne sind sie sowieso nicht beson-
ders neugierig und erst recht nicht auf Leute, die ihnen erzählen wollen, dass ihre Lokalkultur ein „aufgelegter Schmarren“ ist, solange Leute wie Rainer Werner Fassbinder oder Herbert Achtern-
busch, original bayerische Genies von heute, in ihrer Heimat noch nicht akzeptiert sind.
Die Leute, die in München für den Aufbruch in die Moderne kämpfen, erhielten 1976 noch einmal Auftrieb, als Jürgen Kolbe ins Kulturreferat der Stadt einzog. Dem erwähnten Altbayern lief da-
mals seine Buchhändlerin aufgeregt mit den Worten entgegen: „Jetzt haben die Sozis auch noch einen Kommunisten eingestellt.“ Sie urteilte von dem Programm, das Kolbe als Lektor im Hanser Verlag betreut hatte. Für die Szene war er nichts anderes als ein aufgeschlossener Linksintellek-
tueller, ideenreich, beweglich, kontaktfreudig, entschlossen, ein künstlerisches Risiko einzugehen und dazu von der inneren Struktur her noch prädestiniert, Everybodys Darling zu sein. Ein Mann, der ihn in seinen Initiativen bestärkte, war Arnim Zweite, der Direktor der städtischen Lenbachga-
lerie, ein junger, unorthodoxer, kenntnisreicher und qualitätsbewusster Museumsmann, der nicht nur das Erbe des „Blauen Reiters“ verwalten und nicht nur die Münchner Lokalprominenz ausstel-
len wollte, sondern der auch die Moderne planvoll ausbaute. „Niemand in München“, schrieb kürzlich die FAZ, „der etwas von den Bewegungen der modernen Kunst versteht, der nicht die außerordentliche Bedeutung gerade dieses Hauses für das Münchner Renommee in der modernen bildenden Kunst anerkennte, soweit davon noch die Rede sein kann.“
In der bis dato verschlafenen, leicht inzüchtigen Künstlerszene fehlte jetzt nur noch Kaspar König – ein Mann, der letztes Jahr in München wie der Teufel aus dem Kasten sprang, nachdem er zwölf Jahre lang in Amerika als freischaffender Ausstellungsmacher gelebt und doziert hatte. Mit einem Male saß er überall herum, besuchte Ateliers, machte sich Gedanken, gab Werturteile von sich und schmiedete unaufhörlich Pläne: „Wir gehen davon aus“, sagt er über seine erste Kunstausstellung, die nächstes Jahr in München stattfinden soll, „dass gute Kunst sich nicht anpasst. Im Gegenteil, sie nimmt von sich aus Einfluss auf ihre Umgebung …“ Dass Kaspar König sich München als Wohnsitz auserkor, war nicht Zufall, sondern Strategie: Die rheinische Kunstszene zeigt Ermü-
dungserscheinungen, in Hamburg, dem Zentrum der Gegenwartskunst im Norden, sitzen schon zu viele. München ist noch Diaspora, geographisch sind Basel und Mailand die nächsten Anziehungs-
punkte für die Moderne. „München“, sagt König, „ist noch unverbrauchter Boden.“ Kommentar des Altbayern zu Kaspar König: „Existenzen wie er können damit rechnen, dass sie hier akzeptiert werden. Das ist unsere Liberalität gegenüber Lebensformen. Es muss nicht alles nützlich sein, was jemand hier tut. Aber wenn es an die Inhalte geht, lassen wir uns nichts gefallen.“
Schon jetzt macht sich in den Gesprächen über den „Münchner Kulturkampf“ das besondere Aro-
ma der süddeutschen Gemütlichkeit bemerkbar: die Antipathie und das Misstrauen gegenüber „hergelaufene Leut’“ – und sei es auch nur in dem beiläufigen Hinweis, dass der ganze Kultur-
kampf von Leuten angefangen wurde, die weder Bayern noch Münchner sind.
Der Umschwung in der Atmosphäre kam, als die CSU im letzten Jahr das Münchner Rathaus er-
oberte. Dann hielt Franz Josef Strauß als Ministerpräsident in der Staatskanzlei Einzug. Die Kon-
servativen fühlten sich bestärkt – da fängt die Beweiskette der schrecklichen Vereinfacher wieder an zu stimmen. „Die Werte haben ihre Stunde, meine geehrten Zuhörer, sie sind nicht immer gleich viel wert“, rief Thomas Mann 1926 in der Münchner Tonhalle aus. 53 Jahre später ist das, unter umgekehrten Vorzeichen, wieder zu spüren. Der erste, dem die CSU es beibrachte, war Kulturreferent Kolbe, bis 1982 unkündbar. Hinter ihrem Misstrauen steckt wohl kaum das kon-
krete politische Konzept in der Kulturpolitik, das die Künstler, die Galeristen und die Kritiker arg-
wöhnen, „eher Leit-Ideen in die Welt setzt, von denen man nicht weiß, was sie anrichten“ (FDP-Stadträtin Schmalz-Jacobsen).
Der Unmut der CSU machte sich zum erstenmal laut Luft, als Kolbe kürzlich ein Papier „Zur Situa-
tion der Bildenden Künste in München“ vorlegte. Da standen so flotte Sätze drin wie: „Eine geistige stimulierende Atmosphäre hat es für bildende Künstler nur noch sporadisch, beziehungsweise überhaupt nicht mehr gegeben. Das meiste drang über gemütliche Stammtischrunden nicht hi-
naus. Man huldigt einem gemäßigten Modernismus, leicht verständlich, möglichst problemlos, in der Form schal und abgestanden. Mittelmäßigkeit machte sich breit und bestimmt noch heute das Image von München als Stadt der Bildenden Künste.“ Und: „Wenn es überhaupt noch in der Bun-
desrepublik, von Europa ohnehin zu schweigen, als eine Stätte zeitgenössischer Kunst wahrgenom-
men wird, so ist das – zusammen mit wenigen engagierten Privatgalerien – einigen versprengten Individuen zu verdanken, deren materielle Existenz trotz des Renommees täglich von neuem in Frage gestellt ist. Künstler mit einer erstaunlichen Reputation nagen hier buchstäblich am Hunger-
tuch.“
Das Wutgeheul war unbeschreiblich. Auch wenn es nicht ihr eigener Spiegel war, der ihnen dort vorgehalten wurde: Sie wollen Kunstliebhaber sein und sich München als Kunststadt von nieman-
dem kaputtmachen lassen. Der 29jährige CSU-Stadtrat Peter Gauweiler, der eingestandenermaßen Kultur empfindet, wenn er die große Freitreppe zur Bayerischen Staatsoper hinaufschreitet, und Kultursprecher seiner Fraktion ist, machte aus Kolbe, Arnim Zweite, der ihm bei dem Papier gehol-
fen hatte, und all den anderen, die im Geiste Pate gestanden hatten, im Handumdrehen und mit beträchtlicher demagogischer Begabung linke Buhmänner. Die Kultur, die er und seine Freunde wollen, soll klotzig und protzig sein („Der Münchner liebt sein Theater dick und fett“, sagte schon Lion Feuchtwanger). Sie träumen von einem Filmfest, das zwar keinen künstlerischen Leiter hat, aber als Geschäftsführer Alfred Wurm, den Promotor der Münchner Modewochen, Sie wollen eine „nationenbezogene Ausstellungsschau“ mit dem Namen „Triennale“, ein Unternehmen, das jeden kompetenten Museumsfachmann ratlos macht. Dafür streichen sie den fünfzehn progressiven Ga-
lerien auf der Maximilianstraße den Zuschuss für einen gemeinsamen Katalog.
Die bange Frage, um die es jetzt geht, betrifft das Theater. Die einzige städtische Bühne in Mün-
chen sind die Kammerspiele, eine Bühne, die sich mit den beiden Regisseuren Dieter Dorn und Ernst Wendt wieder volle Kassen einspielte. Von den fünf Stücken, die zum diesjährigen Theater-
wettbewerb nach Berlin eingeladen wurden, sind zwei von den Kammerspielen inszeniert (Botho Strauß’ „Groß und Klein“, inszeniert von Dieter Dorn und Thomas Braschs „Lovely Rita“, inszeniert von Ernst Wendt), Verbürgt ist aber auch schon der Ausspruch Gauweilers: „Der Wendt muss weg.“ Bei seinen Aufführungen fallen mitunter die Türen ins Schloss.
Dass sie für „Einfalt sorgen, statt Vielfalt zu pflegen“ (Stadträtin Schmalz-Jacobsen) – diesen Ruf wird sich die Münchner CSU in ihrer Kulturpolitik nicht lange leisten können. Dazu ist sie zu pre-
stigebewusst. Schon jetzt wirken die Hauptmatadoren wie angeschossene Hirsche, die die Jagd überfordert hat. Der Ton, in dem über bildende Kunst gesprochen wurde, hat das Publikum belei-
digt, der Inhalt nicht unbedingt. Die Gegenreaktion, die sich jetzt zu Wort meldet, wird nicht nur von der CSU angeführt, die Musik dazu machen die vielen Kulturschaffenden, die in den letzten Jahren von den tonangebenden Kritikern nicht besprochen, von den Regisseuren nicht geliebt und auf der progressiven Szene nicht verstanden wurden, an der Spitze der bayerische Kultusminister Hans Meier, der seit den Studentenunruhen und Gründungstagen des Bundes Freiheit der Wis-
senschaft einen Minoritätenstil kultiviert und eine Provokationsethik stilisiert, die ihm andere so schnell nicht nachmachen. „Wenn sie von Toleranz sprechen“, sagte er, „dann will ich meine Gegenrechnung aufmachen: Meine Bücher werden unterdrückt, das sind die Toleranzen, die bei ZEIT und Spiegel gelten.“ Und: „Ich sage das nicht apologetisch, sondern verwundert: Es gibt so viele versteckte Steuerungsgremien und Diktaturen auf der anderen Seite. Das ist das Gefühl, aus dem die Ausbrüche stammen.“
Bei ihm im Dienstzimmer haben schon Ruth Leuwerik, Dieter Borsche und Kurt Meisel ihr Leid geklagt. Vom Starnberger See meldete sich Cordula Trantow, Rudolf Noeltes radikales Aschenput-
tel, und klagte ihr Leid über Linke, Nackte und Inkompetente öffentlich in der Welt. Ihr Mann Noelte klagte gleich bei der CSU. Letzten Sommer klagten auf Einladung der CSU-nahen Hans-Seidel-Stiftung an die hundert Prominente in Kreuth, an der Spitze Golo Mann und Werner Egk.
Was sie bewegte, bringt Peter Jona Korn, der Leiter des Münchner Konservatoriums und Kompo-
nist einer „Heidi-Oper, auf die schlichte Formel: „Die sogenannten Progressiven standen immer im Vordergrund, die Konservativen kamen nie zum Zuge.“ Erich Steingräber, der Generaldirektor der Bayerischen Gemäldesammlungen, der den Stein ins Rollen brachte – er klagt wenigstens noch um Werte. Er denkt nicht daran, von den alten zu lassen, bevor die Kunst neue geliefert hat: „Man kann doch niemandem übelnehmen, wenn sich Menschen noch am Menschenbild in der Kunst interessieren.“ Und: „Die Moderne muss doch in einer vernünftigen Proportion zum Erbe stehen.“
Das Erbe – da ist es wieder, Lust und Last der Münchner zugleich. So viel wie sie hat kaum je-
mand. Die Tradition ist hier ein Maßstab, der nicht angezweifelt wird. Sie gilt. „Und so“ schrieb Hermann Obrist 1902, „erstickt München am eigenen Fette. Alles sehr gutes, selbstgemachtes Renaissancefett.“ Im Jahre 2002 wird das vermutlich noch genauso stimmen wie heute. Und vermutlich wird München noch genauso angenehm bewohnbar sein wie jetzt.
„Jetzt begreife ich“, sagt Ernst Wendt von den Kammerspielen, „warum es Leute nach Frankfurt oder Berlin zieht. Dort werden die realistischeren Konflikte ausgetragen, man muss sich an einer beschisseneren Situation beweisen. Deshalb ist Kulturkampf auch kein zutreffendes Wort für das, was hier vorgeht. In den großen verwilderten Städten ist Kultur jeden Tag im Kampf. Das haben die Münchner nur noch nicht gemerkt.“
Nina Grunenberg
Die Zeit 13 vom 23. März 1979.