Materialien 1979

Die Bärlocher Story Nr. 7

Auf der Herrentoilette praktizierte die CSU Demokratieverständnis. Bezirksausschussvorsitzender Reichenbacher klagte, während er den Strahl zielbewusst ins Becken lenkte: ‚Seit 15 Jahren arbeite ich im Bezirksausschuss und dann muss man sich solche Prügel vor die Füße werfen lassen!’ Sein Parteifreund und Kollege am Pissbecken, Bürgermeister Winfried Zehetmeier, versuchte ihn zu trösten: ‚O mei, man muss sie halt reden lassen.’

Und drinnen redeten sie tatsächlich seit Stunden. In der Turnhalle des TSV Milbertshofen hatten sich 600 – 800 Milbertshofener eingefunden, um auf der Bürgerversammlung des 27. Stadtbezirks ihre Probleme und Sorgen vorzutragen. Um 20.00 Uhr hatte Bezirksausschussvorsitzender Reichenbacher die erschienenen Bürger und Mandatsträger, vom Bundesjustizminister Vogel über den Innenminister Tandler bis zum SPD-Bundesabgeordneten Böddrich und den Vertretern der 7. Polizeiinspektion begrüßt. Allerdings nur die im Saal anwesenden Vertreter, der Rest saß in mehreren Mannschafts- und Personenwagen einsatzbereit am Petuelring. Auch hier wurde Demokratieverständnis praktiziert.

In einer schwungvollen Rede streifte Reichenbacher die Probleme des bevölkerungsreichsten Stadtteils Münchens, wobei er die Prostitution als vordringliches Problem des Münchner Nordens herausstellte. Kein Wort von der Erhöhung der MVV-Tarife, kein Wort vom Cadmuimschlamm in Freimann, kein Wort zur Buhlstraße, kein Wort vom Tanklager in der Detmoldstraße, kein Wort vom Alabama-Gelände. BMW und Bärlocher, die Umweltverschmutzer Nr. 1 im Norden und Hauptsorgenkinder der Bewohner wurden nur am Rande gestreift.

Dann meldeten sich die Bürger zu Wort und reichten Anträge ein. Es wurde geredet und geredet. Nahezu drei Stunden lang, wobei sich Zehetmeier als Moderator anbot, doch immer wieder kam in ihm der Oberlehrer zum Durchbruch, bis der Dampf allmählich ausging. Auffallend, dass jeder in erster Linie an das Problem vor seiner Haustür dachte und keinen Zusammenhang sah. Es ging darum, die Autos aus dieser Straße zu vertreiben und sie durch jene Straßen zu leiten, in der man nicht wohnte. Beifall von den Bewohnern dieser Straße, Protest und Buhrufe von den Bewohnern der anderen Straße, Nur ab und zu wurden Zusammenhänge sichtbar, nur ab und zu ging es um zentrale Themen, um den Umweltschutz generell, um die Bedrohung für alle durch Blei- und Cadmiumdämpfe, durch die Atommüllverbrennungsanlage im Münchner Norden, durch die Beteiligung der Stadt am Atomkraftwerk Ohu II, durch die Pläne von BMW, das Alabamagelände industriell zu nutzen. Vorne am Vorstandssitz, wo die Prominenz sitzt, lässt man alles über sich ergehen, gemäß der von Zehetmeier im Klo ausgegebenen Parole ‚Man muss sie halt reden lassen.’

Nur als jemand den Rektor der Grundschule an der Berneisstraße zitierte:

‚Herr Reichenbacher hat im Gespräch etwas Bedrohliches an sich’, meldet sich der Betroffene zu Wort und droht: ‚Wenn’s nicht mehr wahr wird, werde ich kritisch, ich habe auch noch andere Möglichkeiten!’ Die Sau ist heraus. Gelächter, Buh-Rufe, Pfiffe und dasselbe noch einmal, als Umweltschutzminister Dick zitiert wird: ‚Die Luft im Münchner Norden ist besser als die im Bayerischen Wald!’

Dann melden sich einige Anwohner der Riesenfeldstraße und fordern:‚Laster raus aus der Riesenfeldstraße!’ und BMW möge endlich dafür sorgen, dass ‚aus der Lackiererei nicht immer Dämpfe und Gestank auf uns herabrieseln’.

Ein Sprecher der Bürgerinitiative München Nord präzisiert die Anfrage: ‚BMW hat die Versprechen seit 10 Jahren nicht eingehalten! Warum werden die Messungswerte immer noch geheimgehalten und stimmt es, dass krebserregende Stoffe in den Abgasen sind?’

Dazu erklärt Verwaltungsdirektor Karg von der Stadt München: ‚BMW hat Verbesserungen zugesagt, ein Gutachten soll erstellt werden.’

Erneut Tumult und Rufe: ‚Das hören wir seit 10 Jahren!’

Das Gerede geht weiter. Es geht um den von der Olympiapark GmbH geplanten 500 Meter langen aufgeständerten Rollsteig in einer Glasröhre, der von der U-Bahnstation zur Olympiahalle führen soll. Das Projekt würde die Landschaft um das Olympiazentrum noch mehr verschandeln, Babylon in Reinkultur, Metropolis hoch 2. Außerdem kostet das ganze 15 Millionen Mark, dazu kommen jährlich 2 Millionen Unterhaltskosten.

Man schlägt vor, das Geld zum Bau von dringend notwendigen preiswerten Wohnungen zu verwenden. Der Antrag wird angenommen, aber ich bezweifle, ob dieses Ergebnis irgendwelche Auswirkungen haben wird. Die Demokratie wird hier zur Farce, wie viele andere Entscheidungen der Bürger bisher bewiesen haben. Erkennt denn keiner hier diese Farce, es bedarf anderer, konkreterer Maßnahmen, um den Zerstörungs- und Vernichtungseifer der Technologen zu stoppen.

Und dann empört mich eine der hier getroffenen Entscheidungen. Als jemand von der Bürgerinitiative München-Nord den Antrag stellt, das Projekt Flughafen München II in Erding sofort zu stoppen, wird dies von der Mehrheit abgelehnt. Selbst diejenigen, die sich gegen Bärlocher, BMW und den Rollsteig wehren, stimmen gegen den Antrag. Sehen sie nicht die Zusammenhänge? Verstehen sie nicht, dass auch sie betroffen sind, obwohl sie vielleicht 30, 50 oder 100 Kilometer entfernt davon wohnen. Solange wir nicht diese Zusammenhänge erkennen und das Gemeinsame sehen, sehe ich schwarz für den Kampf um mehr Lebensqualität. In Ohu, Erding oder Gorleben geht es auch um die Zukunft für die Bürger von Milbertshofen, Moosach oder Sendling. Es gibt keine isolierte Idylle in dieser Gesellschaft, es gibt nur einen gemeinsamen Kampf aller gegen die Zerstörung der Landschaft, gegen die Vernichtung des Lebens, gegen eine inhumane, fortschrittsgläubige technokratische Gesellschaft.

Dann meldet sich Dr. Kurt Mühlhauser zu Wort: Es geht um die Firma Bärlocher. Er stellt den Antrag:

1. Die Bürgerversammlung des 27. Stadtbezirks protestiert nachdrücklich dagegen, dass die Stadt München mit manipulierbaren Messergebnissen die Öffentlichkeit über das wahre Ausmaß der Umwelt- und Gesundheitsgefahren täuscht, die von der Fa. Bärlocher ausgehen.

2. Sie fordert die Stadt auf, durch den TÜV parallel zu den Messungen auch die Art und Menge der Bärlocher-Produktionen feststellen zu lassen und mit Hilfe sog. Ausbreitungsrechnungen nach der TA-Luft die wirklichen Umwelt- und Gesundheitsgefahren feststellen zu lassen.

Begründung:

Die Stadt München lässt derzeit den TÜV die Belastung der Atemluft mit Blei, Cadmium etc. an 6 Meßstellen in der Nachbarschaft der Fa. Bärlocher feststellen.

Entgegen den ständigen Forderungen der Bürgerinitiative Umweltschutz und dem einstimmigen Beschluss des Stadtrats wird aber nicht gleichzeitig vom TÜV festgestellt, was die Fa. Bärlocher in welchen Mengen und mit Hilfe welcher Verfahren in der fraglichen Zeit produziert. Die Stadt verlässt sich hier auf Angaben der Fa. Bärlocher (!!!) und Stichproben des TÜV:

Damit sind die Meßergebnisse völlig wertlos, da die Fa. Bärlocher auf Grund ihrer Absatzstruktur Art und Menge ihrer Produkte ständig wechselt und damit die Messergebnisse durch geschickte Ausnutzung von Windrichtung, Windgeschwindigkeit und Ausbreitungskegel entscheidend beeinflussen kann. Die Verschleierung der tatsächlichen Umwelt- und Gesundheitsgefahren durch die Stadt München ist unerträglich!

Auch dieser Antrag wird beinahe einstimmig angenommen, aber die Zweifel, ob diese Anträge irgendeinen Sinn haben, werden bleiben.

Die Chemischen Werke München Otto Bärlocher GmbH stehen seit Jahren im Kreuzfeuer der Öffentlichkeit. Nicht nur das Blatt hat mehrmals ausführlich darüber berichtet (Nr. 50/51/58/65/72/74), auch die Münchner Zeitungen berichten seit Jahren über das Auf und Ab im Streit um diese Firma, die zu 49 Prozent der DEGUSSA gehört. Zentralfigur der Auseinandersetzungen ist vor allem Christian RosenthaI, Mehrheitsinhaber (51 Prozent) und Geschäftsführer der CWM, ein Playboy mit Stehvermögen und Chuzpe. Er kam nach dem Kriege als Emigrant in die BRD zurück und erwarb die durch Geschäfte mit Amoniak im Kriege groß gewordene Firma. Gegründet wurde sie im Jahre 1908 und begann mit der Herstellung von Schuhcreme, Kohlenanzündern und Kitt.

Rosenthal sah die Zukunft der Kunststoffe voraus und stellte sich frühzeitig darauf ein. Das Werk lag damals am Rande des unbebauten Oberwiesenfelds, außerhalb jeder Wohnanlagen. Weder die Stadt noch irgendwelche Institutionen kümmerten sich groß darum, was da draußen geschah und so baute Rosenthal ohne Genehmigung kräftig aus und spezialisierte sich vor allem auf die Herstellung von Stabilisatoren auf Blei – Bariurn/Cadmium – Zimm – Magnesium/Zink-Basis für die Produktion von Kunststoffen, vor allem PVC.

Die Gefährlichkeit von Blei ist einigermaßen bekannt, auch die Auswirkungen. Hauptangriffspunkte sind der Magen und die Lunge. Vom Magen werden ca. 80 – 90 Prozent der Schadstoffe wieder ausgeschieden, der Rest sorbiert sich und gelangt über die Blutwege in die Leber und lagert sich dann in den Röhren verschiedener Knochen ab, wo sie die Bildung von roten Blutkörperchen verhindern. Andere Teile lagern in den Fettdepots der Nerven und des Hirns. Erste Merkmale der Krankheit sind Müdigkeit, Kopfschmerzen, Kraftlosigkeit. Später treten Koliken, Darmverstopfung, radiale Parese (Fallhand) und auch Impotenz hinzu, die letzte Phase ist Anämie (Blutarmut). Durch Atmung dringt der Bleistaub auch in die Lunge ein, die nur etwa 10 Prozent der Schadstoffe wieder ausstößt, während 80 – 90 Prozent sich dort lagern. Dabei haben Untersuchungen ergeben, dass der Bleistaub auch nicht durch eifriges Waschen mit Seife oder TEL (ein dem Pril ähnliches Hausprodukt von Bärlocher) völlig entfernt werden kann, d.h. dass das Blei beim Essen, Trinken oder Rauchen auch trotz größter Sauberkeit in den Körper gelangt.

Die Gefährlichkeit des Cadmiums ist in seiner gesamten Auswirkung noch nicht völlig überblickbar. Im Gegensatz zum Blei, das nach einiger Zeit wieder völlig ausgeschieden wird (natürlich nur, wenn man nicht mehr damit in Berührung kommt), lagert sich Cadmium über Jahrzehnte im Körper ab.

Man wurde erst vor einiger Zeit durch Vorkommnisse in Japan auf diese Gefahr aufmerksam, nachdem man Cadmium über den Umweg von Wasser und Reis im menschlichen Körper feststellte, was zu erheblichen Schädigungen führte, mehrere Menschen starben daran.

In der BRD hat die Pathologin Prof. Dr. Mallingkroth erste Untersuchungen durchgeführt und kam zu dem Ergebnis, dass Cadmium krebsbildende Stoffe enthält, die Bronchialkrebs herbeiführen können. Die Gefährlichkeit des Cadmiums besteht darin, dass es nur im Blut nachgewiesen werden kann, das Blut ist aber nur Transportstation in die Organe (Leber, Niere, Hirn), wo es sich lagert und nicht mehr ausgeschieden wird. Erste Anzeichen einer Erkrankung sind Fließschnupfen, Nasenschleimhautentzündung und Bronchitis. Inwieweit Cadmium sonst noch gefährlich ist und welche andere Auswirkungen es hat, darüber gibt es noch keine Erfahrungen.

Wie gefährlich Bärlocher in dieser Beziehung für die Bevölkerung ist, geht aus einem einfachen Beispiel hervor. Im Stearat II werden in den großen Kesseln ca. 250 Tonnen Blei – oder Cadmiumstearate angesetzt. Die fertige Masse fließt dann in die Pressen und wird dort mit Unmengen Wasser gewaschen. Das mit Cadmium verseuchte Wasser fließt natürlich in die Abwässer. Dann kommt das gewaschene Material auf Siebe und wird in riesigen Öfen getrocknet. Der Dampf entweicht durch den Schornstein in die Luft. Das getrocknete Material wird zerkleinert, gemahlen und in Säcke verpackt. Auch dabei entweicht der Staub wieder durch die Ventilatoren in die Luft. Von den angesetzten 250 Tonnen bleiben zum Schluss noch 180 Tonnen übrig, der Rest von ca. 70 Tonnen verschwindet in Abwässern, verflüchtigt sich durch die Ventilatoren und Schornsteine und wirbelt als Staub durch die Luft.

Untersuchungen haben inzwischen ergeben, dass die Cadmium-Konzentration im Klärschlamm, der hauptsächlich von Bärlocher stammt und von den Münchner Landwirtschaftsbetrieben als Dünger verwendet wird, bis zu fünf mal höher ist, als es ein Bonner Gesetzentwurf vorsieht, der Grenzwerte feststellen soll. Entwurf deshalb, weil, wie gesagt, die Gefährlichkeit von Cadmium erst seit kurzem bekannt ist, seitdem in Japan Menschen daran starben.

Aber das ist nur ein Teil dieses 70-Tonnen-Verlustes. Der andere Teil entflüchtet durch die Öfen und durch die Ventilatoren.

Trotz all dieser Erkenntnisse hat die Stadt im November 1978 die Produktionsanlagen der Fa. Bärlocher, die seit 1960 als Schwarzbauten bestehen, nachträglich genehmigt. Sie hat außerdem völlig außer acht gelassen, dass sich bisher insgesamt zweiundzwanzig Brände und Explosionen auf dem Werksgelände ereigneten und das alles in unmittelbarer Nähe von 40.000 Münchner Bürgern. Gegen den Beschluss des Stadtrats gingen vier Anlieger vor Gericht. Die Anwälte Christian Sailer und Bodo Kühnel erreichten am 17. Juli 1979, dass die 16. Kammer des Verwaltungsgerichts München beschloss, der Betrieb von 6 Produktionsanlagen der Chemischen Werke München Otto Bärlocher sei rechtswidrig. Damit ist die Genehmigung der Landeshauptstadt für Produktionsstätten der Bärlocher-Werke sofort auszusetzen.

Obwohl die Firma mit Rücksicht auf diesen Beschluss von ihrer Betriebsgenehmigung hinsichtlich von sechs Betriebsanlagen nicht mehr Gebrauch machen durfte, lehnte es der Stadtrat am 14. August 1979 ab, diese Betriebsanlagen stillzulegen.

Daraufhin fällt die 16. Kammer am 13. September einen neuen Beschluss. Per Eilantrag wurde die Stadt aufgefordert, fünf wichtige Anlagen des Werkes bis spätestens 1. Oktober zu schließen.

Wer aber nur glaubte, mit dieser Entscheidung wäre der jahrelange Kampf um Bärlocher zugunsten der Münchner Bürger entschieden, der hatte Christian Rosenthal und seine Beziehungen unterschätzt. Nicht umsonst hatte er seine Tochter Claudia Jura studieren lassen und sie seit einiger Zeit als Justitiarin in die Firm aufgenommen. Nicht umsonst hat er vor einiger Zeit Gewerkschaftler und SPD-Funktionäre zu einem feudalen Essen in ein Nobel-Hotel im Norden der Stadt eingeladen. Nicht umsonst lebt er nach der Devise ‚Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft’ und verschenkte an die Beauftragten der Gewerbeaufsicht und der Berufsgenossenschaft z.B. Plastikbehälter, damit einer von ihnen seinen Most ansetzen konnte. Sie revanchierten sich beide damit, dass sie seit Jahren keine unangemeldeten Besuche vornehmen, auch wenn andere mitkommen wollen und bitten, sich vorher nicht anzumelden. Kein Wunder, dass dann bei Besichtigungen alles blitzsauber ist und kein Blei- oder Cadmiumstaub herumliegt. Nicht umsonst hat Rosenthal seit Jahren gute Beziehungen zum Baureferat der Stadt. Man munkelt sogar, dass sein Bruder bis vor einiger Zeit als Baudirektor im Rathaus tätig gewesen sein soll. Schließlich hat Rosenthal allerhand zu bieten: In Griechenland liegt seine Luxus-Jacht vor Anker, in Südfrankreich besitzt er ein nettes Landhaus und am Starnberger See residiert er in einer komfortablen Villa.

Rosenthal legte also Berufung ein und wies neue Immissionswerte vor und prompt hob am 21. September die nächsthöhere Instanz den Vollzug der einstweiligen Anordnung des Verwaltungsgerichts auf, bis über die Beschwerde der Bärlocher-Werke entschieden ist. Der 22. Senat des Verwaltungsgerichtshofes stützte sich dabei auf Angaben des Landesamtes für Umweltschutz, wonach der von Bärlocher verursachte Cadmium-Gehalt in der Luft die zulässigen Werte bei normalen Wetterbedingungen nicht überschreite.

Dass Bärlocher von diesen Messungen informiert war und sich darauf einstellen konnte, indem er z.B. die Produktion drosselte oder andere Materialien verwandte, wurde zwar vermutet, konnte aber nicht bewiesen werden. Arbeiter gaben im Gespräch unter der Hand diese Manipulationen offen zu. Im Januar hatte Prof. Bucher von der TU München Messungen ohne Kenntnis der Firma durchgeführt und kam zu dem Ergebnis, dass die Cadmium-Belastung durch die Firma das 1.400-fache des gesetzlich zulässigen Wertes überschreite. Auch jetzt noch, trotz aller Einschränkungen und Umstellungen liege bei ungünstigem Wetter eine 146-fache Überschreitung vor. In der Fachoberschule in der Rießstraße, etwa 100 Meter neben Bärlocher, häufen sich seit Jahren die Klagen über Kehlkopf- und Bronchial-Beschwerden. Schon 1977 hatte sich der Personalrat der Schule an den damaligen Staatssekretär Kiesl und die Stadtratsfraktionen gewandt, um auf die Gefährdung und Schädigung der Gesundheit hinzuweisen. Weder als damaliger Staatssekretär noch als jetziger Oberbürgermeister ließ Kiesl etwas von sich hören, er kam natürlich auch nicht zu der Bürgerversammlung nach Milbertshofen.

Stattdessen erklärte der Umweltschutzbeauftragte der Stadt, Fischer, ‚eine gesundheitsschädliche Beeinträchtigung der Bevölkerung bei einem Weiterbetrieb der Firma Bärlocher ist nicht zu befürchten.’ Die Antwort darauf hatte Dr. von Clarman, der leitende Arzt der toxikologischen Abteilung im Klinikum rechts der Isar bereits vor einiger Zeit gegeben. Er erklärte in einem Brief an das Gesundheitsamt der Stadt München, dass in den letzten drei Jahren allein fünfunddreißig Mitarbeiter der Firma Bärlocher wegen einer Vergiftung oder des dringenden Verdachts hierauf in Behandlung gewesen seien.

Natürlich hat der CSU-Stadtrat Peter Gauweiler recht, wenn er heute der SPD-Fraktion vorwirft, sie habe während der SPD-Herrschaft nie etwas gegen Bärlocher unternommen. Natürlich hat die SPD-Fraktion recht, wenn sie heute der CSU vorwirft, sie unternehme nichts gegen Bärlocher, obwohl Kiesl bei seinem Regierungsantritt erklärt hatte: ‚Gebt mir ein Jahr Zeit, und Bärlocher ist weg.’ Natürlich hat Rosenthal recht, wenn er den Schwarzen Peter der Stadt zuschiebt und im Falle einer Schließung von der Stadt eine Entschädigung fordert. Natürlich hat die Stadt recht, wenn sie vor diesen Ausgaben Angst hat und alles verzögert. Sie haben alle recht in einem Staat, wo es nur um ‚Recht’ und ‚Profit’ geht, aber nie um den Menschen, wo alle Parteien, Gewerkschaften, Unternehmen so miteinander verfilzt sind, dass keiner mehr eine Lösung erreichen kann, bis man diesen Gordischen Knoten einfach durchhackt und endlich die Würde des Menschen in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns stellt. Aber dazu bedarf es erst einmal eines Wandels unseres Bewusstseins, die Erkenntnis, dass es nicht allein um Bärlocher geht, dass Bärlocher in einem Zusammenhang steht mit Ohu und Gorleben, mit dem Erdinger Flughafen und den Autobahnen, mit den Autos in dieser und jener Straße, mit dem Sterben der Städte und dem Dahinsiechen der Flüsse und Wälder.

Peter Schult


Blatt. Stadtzeitung für München 160 vom 30. November 1979, 12 ff.

Überraschung

Jahr: 1979
Bereich: Umwelt

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