Materialien 1980

Demokratie made in G.

Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy

Ein Film wird Zeuge sein vom Anachronistischen Zug, ein Buch hoffentlich auch, aber die echte-
sten Zeugen sind immer noch die Teilnehmer selber. In Sonthofen fing es ja damit an, dass sich der Pfarrer Völk vor den „geistlichen Wagen“ stellte und nicht mehr von der Stelle wich, bis zum Abend, mit der Begründung: Die Kirche wird durch das Zitat von Bischof Graber (Regensburg) beleidigt. Dazu folgten Anzeigen von Sonthofener Bürgern, welche den Staatsanwalt, den Richter etc. zu uns führten … Und am Abend war dann die Strauß-Maske vom „Sechs-Plagen“-Wagen be-
schlagnahmt. Strauß hatte sein Gesicht verloren.

Von den Sonthofenern gab es einige, die uns gerne in Viehwägen und Arbeitslagern gesehen hät-
ten.

Am nächsten Tag, hinter Kempten, kamen neue Auflagen: Die Haken an den Kreuzen mussten, wie es im Gedicht auch heißt, überklebt werden und der „Sechs-Plagen“-Wagen musste während der Fahrt zugedeckt werden.

Ein Bauer, der uns beobachtet hatte, meinte zu mir: „Dich müsste man vergasen“. Das alles habe ich verdrängt. Bis zum Abend in Dachau, wo es uns zur Kranzniederlegung nicht gestattet war, den gleichen Weg zu nehmen, den damals die Juden nehmen mussten, als sie ins Lager deportiert wur-
den. Da befindet sich heute das Privatgrundstück der Bayerischen Bereitschaftspolizei. Auf meine Nachfragen erhielt ich von Dachauer Bürgern nur persönliche Angriffe und Verweigerung jeglicher Stellungnahme, so dass ich mich später fragen musste, ob ich das weiter durchstehen kann?

Am nächsten Tag jedoch spürte ich, dass ich weiter machen muss. Auf der Fahrt nach Straubing wurde der Zug von einem Bauern mit Odel bespritzt und traf den Riesen-Wagen mit dem „unbe-
kannten Geschlecht“ am meisten.

Zwei Tage später ’wurden wir bei Lauenburg auf eine Seitenstraße umgeleitet und mehrere Stun-
den wegen unserer Flugschriften festgehalten. Dabei hat ein Zugmitglied gesehen, dass ein Stoß Flugschriften von der Zivilpolizei in unseren Wagen geschmuggelt wurde und dann erst von ihr „entdeckt“ wurde. Der Polizeikameramann filmte uns und wir filmten ihn, beide Seiten waren er-
bost.

In Stuttgart wurden Passanten von der Polizei unsere Flugschriften sogar aus der Handtasche ge-
rissen. Dafür begrüßte uns eine türkische Delegation sehr herzlich.

Außerhalb Bayerns hörten die direkten Beschimpfungen zwar auf, aber Angst und Unverständnis blieben. In Frankfurt wurde der Zug nicht auf dem geplanten Weg, sondern durch Schrebergärten geleitet, was uns veranlasste nach der Rezitation am Römerberg zu streiken. Frankfurter Bürger brachten Essen und Decken zu unserer Wagenburg. Nachts leitete uns die Polizei zum Main um, es „durfte“ im Freien übernachtet werden!

In Marburg (Studentenstadt) spuckten die Leute sogar auf den Boden; in Kassel wurde während der Rezitation unser Stromkabel durchgeschnitten und die zweite Strauß-Maske beschlagnahmt, was die Stimmung erheblich steigerte und ermöglichte, dass die Aufführung durch unseren eige-
nen Aggregator wiederholt wurde. In Hannover schikanierte uns die Polizei verkehrstechnisch. In Hamburg hatten wir zum ersten Mal das Vergnügen, Brechts Lieblingstier, einen Elefanten, mit uns im Zug zu haben. In Bremen wurde er verboten. So fuhr sein Besitzer ihn wieder nach Berlin zurück. In Bremen gabs außerdem eine Unmenge von Polizisten, von denen zwei nach der Auffüh-
rung gezielt Tränengas in die Wagen sprühten. Unsere Herberge wurde gekündigt und wir schlie-
fen in Zelten. In Dortmund trat endlich die Junge Union zum ersten Mal auf: Sie ließ eine Stink-
bombe auf dem Kundgebungsplatz los. Von jetzt an begleiteten sie den Zug und verteilten ihre Flugblätter. In Essen fuhr ein Filmwagen der Polizei mit, deren Kamera auf dem Dach befestigt war und uns „von oben“ filmte. Am vorletzten Abend, kurz vor Aachen, haben wir uns doch durch Eierwerfer soweit provozieren lassen, bis wir ihre Eier auf die Straße schmissen etc. Dafür wurden wir in Aachen mit Jubel begrüßt.

Am nächsten Tag wurden wir in Köln von drei Polizeiwagen umzingelt, weil wir das Straßenschild der Pferdmengesstraße gefilmt hatten. Dass in dieser Straße prominente Politiker wohnten, hatten wir nicht gewußt.

Unser Ziel in Bonn haben wir erreicht!

Ein Mitglied des Unterstützerkreises „Brecht statt Strauß“


Münchner Zeitung 4 vom November 1980, 5.

Überraschung

Jahr: 1980
Bereich: Kunst/Kultur

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