Materialien 1980

EMVAUVAU

S-Bahn, Richtung Erding. Ich unterhalte mich mit meinem Freund; er ist Volkswirt. An der Donnersberger Brücke – die untergehende Sonne lässt das Gewirr der Geleise erglänzen – steigen einige Leute zu, darunter eine Frau in Jeans und Parka, noch sehr jung mit langen blonden Haaren und ein Herr im Mantel mit Aktentasche. Und dann zücken beide ihre Ausweise, und ich fühle mich plötzlich unwohl. Umständlich suchen wir unsere Fahrscheine. Verdammt, ich habe doch nichts verbrochen, und trotzdem dieser leise Stich, diese entwürdigende Situation, in der ein Mensch einen Mitmenschen „kraft seines Amtes“ kontrollieren kann. Ich sehe die anderen Gesichter: Schuldbewusstsein, aufgesetzter Gleichmut; man beeilt sich, den Berechtigungsnachweis vorzuzeigen, gequälter Gesichtsausdruck, Unsicherheit.

Ein junger Mann in Jeans und Parka hat keinen Fahrschein, reagiert auch nicht auf die drängenden, zudringlicher werdenden Fragen der beiden Kontrolleure, steigt auch an der Hackerbrücke nicht mit aus. Die Kontrolleure holen Verstärkung, und dann geschieht etwas Erstaunliches. Ein weiterer Mann, etwa dreißig Jahre alt, Brillenträger, mischt sich ein, murmelt für mich Unverständliches und zahlt 40 Mark, lächelt dann den Schwarzfahrer an, würdigt die Kontrolleure keines weiteren Blickes und steigt aus der gerade am Marienplatz haltenden Bahn aus.

EMVAUVAU-spezial

18. November, S 5 Richtung Tutzing, 14.30 Uhr, Haltestelle Laim: Ein Kontrolleur, der die ablehnende Haltung der Fahrgäste spürt, sagt mit etwas gequältem Lächeln: „Mei, a jeder macht hoit sei’ Arbat.“ Darauf eine ältere Dame spitz: „Nennen Sie des Arbat?“ Man sieht förmlich, wie es im Kopf des Kontrolleurs zu denken beginnt, bis er dann nach einigen Sekunden herausplatzt: „Ja mei, der oane hat’s in de Händ’ und der ander’ im Kopf.“ Betretenes Schweigen.

Münchner Zeitung 5 vom Dezember 1980, 5.
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Fortsetzung von Münchener Zeitung 5:

EMVAUVAU

Was bisher geschah: Ein in der S-Bahn nach Erding erwischter Schwarzfahrer ignoriert die Kontrolleure, bis ein anderer Mann dessen Strafe zahlt und an der nächsten Station aussteigt.

Da wird es im Wagen laut. Ein Vater versucht seinem Sohn zu erklären, dass mit solch einem Verhalten das ganze Prinzip von Schuld und Sühne über den Haufen geworfen werde; er ist sehr entrüstet. Alle diskutieren durcheinander, und mein Freund, der Volkswirt, erklärt seiner Nachbarin, einer vielleicht vierzigjährigen Hausfrau, seinen Verdacht, dass dieser geheimnisvolle Fremde Mitglied einer Schwarzfahrer-Versicherung sein könnte:

„Wissen’s, da braucht ma’ zehn Leit, und a jeder zoit monatlich in eine gemeinsame Kasse zehn oder zwanz’g Markl, und wer derwischt wird, zoagt sei’ Quittung vor und kriagt sei’ Geid z’ruck -und des kummt imma no’ billiger!“

Seine Nachbarin schüttelt verwundert den Kopf, wahrscheinlich versteht sie ihn auch nicht: Auf was für Ideen die kommen … Mein Freund dreht sich jetzt zu mir und beginnt wieder mit seinen theoretischen Überlegungen; er hat nämlich auch Betriebswirtschaft studiert. Sein Verdacht läuft darauf hinaus, dass bei öffentlichen Einrichtungen die Verwendung eines Preissystems in vielen Fällen mehr Kosten verursacht, und vergleichsweise dazu geringere Einnahmen zu verzeichnen sind. In Bezug auf den MVV müsste man halt alle mit dem Preissystem zusammenhängenden Ausgaben und Einnahmen vergleichen.

Am Ostbahnhof steigt mein Freund aus, und ich versuche einige Tage später, bei den entsprechenden Stellen des MVV genauere Angaben zu bekommen. Zunächst einmal die offiziellen Auskünfte:

1980 haben die Verkehrsbetriebe bezahlt

 für den Erwerb und das Aufstellen von Fahrscheinautomaten rund 3,81 Millionen Mark,

 für die laufende Wartung der Geräte rund zwei Millionen Mark,

 an Unkosten für Fahrscheine und Netzkarten rund 60O.000 Mark.

Im MVV-Bereich sind derzeit cirka 635 Fahrkartenautomaten und etwa 580 Entwerter im Betrieb auf Bahnhöfen der Bundesbahn. Die Beschaffungskosten für einen Fahrkartenautomaten betragen cirka 10.500 DM, für einen Entwerter etwa 2.500 DM. Neuere Geräte sind wesentlich teurer, weil sie besser ausgestattet sind.

Eine Berechnung der Personalkosten im Zusammenhang mit dem Tarifsystem ist nach Auskunft des MVV nicht durchführbar, „da bei insgesamt nur elf Mitarbeitern der zuständigen Hauptabteilung für ,Kommerzielles Verkehrsangebot’ die verschiedenen Aufgaben und Tätigkeiten sich so überschneiden, dass eine anteilsmäßige Herausrechnung der von Ihnen gewünschten Kosten nicht möglich ist.“

Keine Auskünfte wurden gegeben über die Kosten

 der laufenden Werbung für das Fahrpreissystem des MVV,

 der Gehälter der Kontrolleure,

 für den Mehraufwand an Arbeitszeit des Straßenbahn- und Omnibus-Personals für den Verkauf von Fahrkarten.

1979 betrugen die Bruttoeinnahmen aus dem MVV-Gemeinschaftstarif rund 339,5 Millionen Mark. 1980 waren die Einnahmen sicher nicht geringer. Das bedeutet, dass cirka ein Fünftel der Einnahmen des MVV für Ausgaben im Felde der Fahrpreisgestaltung verwendet wird.

Um ein Plädoyer für den Null-Tarif zu führen, braucht es also eine andere Argumentation als die meines Freundes. Vielleicht ist er doch kein guter Volkswirt.

P. S.: Der Verfasser ist sich nicht ganz sicher, ob nicht doch irgendwo der Wurm drin ist, obwohl der MVV ihm bereitwillig Auskünfte gegeben hat. Für die verantwortlichen Politiker ist ein Fahrpreissystem selbstverständlich, und deshalb kommen sie gar nicht auf die Idee, dessen Sinn in Frage zu stellen und nach Alternativen zu suchen. Und so machen wir das halt für sie!

G.


Münchner Zeitung 7 vom Februar/März 1981, 5.