Materialien 1980

30 Jahre Oktoberfest-Attentat

Ein Interview mit Ulrich Chaussy

Gaudiredaktion:

Was passierte am Freitag, den 26. September 1980, auf dem Oktoberfest?

Chaussy:

Am 26. September 1980 gab es auf der Münchner Theresienwiese eine große Detonation, von der man zunächst nicht wusste, woher sie stammt. Es gab die Vermutung, die Gasflasche eines Küchenofens wäre in die Luft gegangen. Doch die Wirkung war viel verheerender. Auf Grund der Verletzungen, die die 13 Toten und über 200 Verletzten hatten, war schnell klar, dass ein Bombenkörper explodiert sein musste. Anfänglich dachte man, die Bombe wäre mit Schrauben und Nägeln gefüllt gewesen. Man fand sehr bald heraus, dass eine englische Werfergranate aus Armeebeständen der 50er Jahre detoniert war. Der oder die Täter hatten die Bombe in einen aus Drahtgitter bestehenden Papierkorb gelegt. Und diese Drahtgitterstücke, die man zerfetzt in den verschiedenen Verletzungen fand, hatte man für Schrauben und Nägel gehalten. Die Detonation wurde in vielen Zeugenbeschreibungen genau beschrieben: Zuerst eine mehrere Sekunden lange Stichflamme, dann erst der Detonationsknall mit dieser hohen Explosionswirkung. Am Ort war es kurzfristig still, dann erst haben die Verletzten um Hilfe gerufen. Die Situation war von vornherein zum Chaos geeignet, weil sich um 22.20 Uhr sehr viele Leute auf dem Weg nach Hause befanden. Die anderen drängten natürlich nach und es musste erstmal abgesperrt werden. Es gab eine sehr umfängliche Rettungsaktion. Nicht nur die Innenstadtkliniken Münchens waren beteiligt, die Verletzten wurden bis in den Landkreis München hinaus verteilt. Man wusste zunächst nur, dass es kein Unglück, sondern ein Anschlag gewesen ist. Es gab zu diesem Anschlag keine Ankündigung, es gab kein nachgereichtes Bekennerschreiben einer politischen Gruppierung. Und diese Stille ist auch nie durchbrochen worden. Von Anfang an war es die Aufgabe der Ermittler, auf ihre Art und Weise herauszufinden, wer und was hinter diesem Anschlag steckt. Weder war klar, wer ihn begangen hat, noch war klar mit welcher Zielsetzung die Tat begangen worden war. Diese Ungewissheit ist – aus meiner Sicht – nie beseitigt worden.

Gaudiredaktion:

Wie haben die Politiker bzw. Strauß darauf reagiert?

Chaussy:

An diesem Abend waren viele Politiker vor Ort. Damals war – das einzige Mal nach dem Krieg ein CSU-Mann – der Oberbürgermeister Münchens Erich Kiesl, der vorher Staatssekretär im Innenministerium war. Diese Vorgeschichte ist nicht ganz unwichtig im Lichte der Rolle zu sehen, die das Innenministerium, das bayerische Staatsministerium des Inneren und bestimmte Personen in ihm im Lauf dieser Ermittlung hatten. Relativ spät am Abend ist Franz-Josef Strauß erschienen, der wohl von einer Wahlkundgebung in Norddeutschland kam. Und in dieser Situation – in der eigentlich keinerlei Gewissheit geherrscht hat, hat Franz-Josef Strauß damals gemeint, diese Angelegenheit für seinen Wahlkampf einspannen zu können. Das ist ihm auch damals schon übel vermerkt worden. Es gibt Karikaturen, beispielsweise von Horst Haitzinger, die zeigen den Strauß, wie er über die Särge der Toten des Anschlages auf seine politischen Gegner anlegt.

Gaudiredaktion:

Welche Polemik wandte Strauß gegenüber dem Bundesinnenminister Baum an?

Chaussy:

Der politische Gegner, den Franz-Josef Strauß sich ausgesucht hatte und den er in diesem Wahlkampf am schärfsten angegangen ist, war der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum von der FDP. In einem Interview, das Strauß wenige Stunden vor den ersten Erkenntnissen der Bild am Sonntag gegeben hatte, beschuldigte er in relativ vagen Worten Gerhart Baum. Baum würde große Verantwortung für das Geschehen in München tragen, weil unter seiner Führung die Polizei, die Justizbehörden und auch die Geheimdienste sich nicht mehr trauten, an Extremisten heranzugehen und diese genau zu überwachen. Somit habe Baum den Staatsschutz wirkungslos gemacht, indem man allfälliges Wissen im Vorhinein nicht erworben hätte. Strauß schäumte, Baum sei kein Sicherheits-, sondern ein Unsicherheitsminister und ähnliche Beschimpfungen mehr. Der Tenor im Wahlkampf der folgenden Tage war immer der gleiche. Diese Regierung übe gegenüber dem Extremismus eine Art laisser-faire-Politik aus. Der Strauß hat sich übrigens nicht – wie ihm sehr häufig unterstellt wird – konkret eingelassen, zu sagen, dass es eine Tat von links, von der RAF gewesen sei. So vorsichtig war er schon noch. Doch müssen wir den zeitlichen Bezug sehen. Zur Jahreswende 1979/80 diskutierte Gerhart Baum mit dem damals – als RAF-Terrorist – seine Strafe absitzenden Horst Mahler. Es gab einen SPIEGEL-Titel an Weihnachten ’79, der dies groß herausstellte: „Der Minister und der Terrorist“. Die immer mit dem Angriff auf Baum verbundene Konnotation war, dass der Baum bei den Linken nicht genau hinschaue.

Gaudiredaktion:

Wie sah die Krise zwischen der Bundesregierung unter Helmut Schmidt (SPD) und der bayerischen CSU-Regierung aus?

Chaussy:

Zwischen der Bundesregierung mit Helmut Schmidt und Gerhart Baum sowie der bayerischen Staatsregierung wurde in diesen Tagen hinter den Kulissen bzw. vor den Schranken des Gerichts eine Auseinandersetzung geführt. Hans Georg Langemann war als Staatsschutzchef der politische Aufseher im bayerischen Innenministerium für das Landesamt für Verfassungsschutz. Dieser Herr Langemann hat vor Gericht an Eides Statt erklärt, dass sowohl der Herr Strauß wie auch sein Minister Tandler immer schon die Wehrsportgruppe Hoffmann hätten verbieten wollen. Das, was Baum unterstellt habe, dass man die Gruppe in Bayern habe gewähren lassen, entbehre jeder Grundlage. Diese Auseinandersetzung wurde deshalb geführt, weil wenige Stunden, nachdem das Interview mit der Beschimpfung Baums erschienen war, Franz Josef Strauß diese ganze Angelegenheit ganz furchtbar auf die Füße zu fallen drohte.

Gaudiredaktion:

Was hatte diese Krise mit den Tätern/dem Täter zu tun?

Chaussy:

Der Tote, der am stärksten verletzt war, wurde aufgrund eines – in der Nähe dieses ziemlich entstellten Leichnams – gefundenen Bundespersonalausweises als der 21jährige Student der Geologie Gundolf Köhler aus Villingen-Schwenningen identifiziert. Er war auf Grund seines Verletzungsbildes verdächtig, die Bombe gelegt zu haben: Beide Hände und ein Unterschenkel waren ihm abgerissen worden. Staatschützer Langemann gab Köhlers Daten beim System Nadis ein. Das ist eine Art Oberregistratur der Verfassungsschutzerkenntnisse über Personen. Und dieses Nadis-System spuckte Gundolf Köhler als einen Interessenten und Sympathisanten, als jemanden, der in unmittelbaren Kontakt mit der Wehrsportgruppe Hoffmann getreten war, aus. Ab diesem Moment und acht Tage vor der Wahl war das für Franz Josef Strauß natürlich eminent schädlich, wegen des Oktoberfestattentats mit großem Halali ausgerechnet Gerhart Baum anzugreifen. Den Mann, der die Sicherheitsdienste mit seinem hyperliberalen Ansatz quasi handlungsunfähig gemacht habe. Und dann stellte sich heraus, er greift genau den Mann an, der die Wehrsportgruppe Hoffmann am 30. Januar 1980 – also etwa 8 Monate vor dem Anschlag auf die Oktoberfestwiese – verboten hatte.

Gaudiredaktion:

Was kann man mit diesem Gesetz zum Verbot erreichen?

Chaussy:

Der Bundesinnenminister kann dann überall im Bundesgebiet mit Vereins- oder Parteiverboten zugreifen, wenn er feststellt, dass eine extremistische Gruppe nicht nur in den Grenzen eines Bundeslandes aktiv ist. Baum hatte die erste sich bietende Gelegenheit genutzt: Um die Jahreswende 1979/80 war ruchbar geworden, dass der „Sturm Hessen“ – eine Untergruppe der bis dahin rein bayrischen Wehrsportgruppe Hoffmann – in Hessen gegründet worden war. Das gab dem Baum die Chance, die Angelegenheit den Bayern aus der Hand zu nehmen und diese Gruppe sowie auch die WSG zu verbieten. Strauß und seine Innenminister hatten Hoffmann und seine Wehrsportgruppe in den Grenzen des Freistaats mehr als vier Jahre lang einfach gewähren lassen.

Gaudiredaktion:

Wie hat der Strauß damals darauf reagiert, dass Baum die Wehrsportgruppe verboten hat?

Chaussy:

Strauß machte sich noch im März 1980 über diese Verbotsaktion lustig und setzte dieses berühmte Zitat in die Welt: „Mein Gott, wenn ein Mann sich vergnügen will, indem er am Sonntag auf dem Land mit einem Rucksack und mit einem mit Koppel geschlossenen ,Battle Dress’ spazieren geht, dann soll man ihn in Ruhe lassen.“ Man werte diese Leute doch nur auf durch ihre öffentliche und polizeiliche Beachtung. Diese Sprüche waren für Strauß jetzt zum Problem geworden. Dass er sogar noch nach dem Verbot durch Baum gesagt hatte, das seien alles bloß Hampelmänner gewesen und nie etwas anderes. Und es bestünde nur das Problem, dass Sozialdemokraten, Liberale und die linke Medienmafia Leute wie Hoffmann zu einen gefährlichen Popanz aufbauten. Die solle man – auf gut bayrisch – gar nicht erst ignorieren und dann gibt’s auch keine Probleme. Und jetzt hatte es offensichtlich ein deftiges Problem gegeben, mit einem toten Bombenleger am Wiesneingang, der Beziehungen zur WSG Hoffmann hatte. Bei meinen Recherchen stieß ich dann darauf, dass hektisch eingeleitete Versuche aus dem bayerischen Innenministerium, den politischen Schaden für Strauß zu begrenzen, mit bewusster Sabotage der Ermittlungen der Polizei einhergingen.

Mir fiel auf: Bevor der Freundeskreis und die, die Gundolf Köhler in irgendeiner Weise nahe standen, von der Polizei befragt worden sind, ist zwischen 24 Stunden und sieben Tagen vorher dort die Journaille aufgetaucht, nämlich unsere Kollegen von der Bild am Sonntag und von der – heute nicht mehr existierenden – Zeitschrift Quick. Ich habe mich lange Zeit gefragt, wie es dazu gekommen ist und habe versucht herauszufinden, wie eigentlich die Öffentlichkeit davon erfahren hat, dass ein gewisser Gundolf Köhler im Verdacht steht, sehr eng mit diesem Anschlag zu tun zu haben. Dann fand ich in der Nachrichtenabteilung des Bayerischen Rundfunks, dass sich diese erste Meldung – am Tag nach dem Anschlag abends so 21, 22 Uhr – auf Informationen der Zeitschrift Quick berief. Alle – auch Agenturen wie dpa – hatten den Namen Köhler durch die Zeitschrift Quick. Wie die ihn bekam, flog auf, als Herr Langemann auf Grund einer anderen Verfehlung ein Disziplinarverfahren bekam und 1982 aus dem Amt entfernt wurde. Diese Verfehlung war die auszugsweise Veröffentlichung seiner Memoiren aus seiner Zeit beim Bundesnachrichtendienst in der Zeitschrift „konkret“. Langemann kriegte ein Problem, weil er sich seine schriftstellerische Tätigkeit mit Erinnerungen aus seinen Agententagen beim BND nicht hatte genehmigen lassen. Im Zuge dieses Verfahrens ist deutlich geworden, dass Langemann langfristig angebahnte Kontakte zu bestimmten Journalisten unterhielt. Wie es so schön in seinem Verfahren hieß, hatte er nach dieser Nacht, als das mit Köhler herausgekommen war, vertrauenswürdige und seriöse Journalisten zu sich gebeten – gemeint waren die Kollegen von Bild am Sonntag und von der Quick. Denen hat er anhand von Dokumenten aus dem Bereich des Verfassungsschutzes aufgezeigt, wie engmaschig die Wehrsportgruppe Hoffmann überwacht worden sei. Die Botschaft sollte lauten: Wir haben diese Rechtsextremisten aufs Genaueste und schärfstens unter Kontrolle gehabt. Hier ging es um die Schadensbegrenzung. Aber, das Ganze war ein Deal. Im Gegenzug hat Langemann diese Journalisten mit aktuellen Informationen über die Ermittlungen versorgt. Noch in der Tatnacht war eine Sonderkommission Theresienwiese beim Bayerischen Kriminalamt gebildet worden. Deren Erkenntnisse wurden mehr oder minder in Echtzeit immer gleich an das Lagezentrum des Bayerischen Innenministeriums vermeldet. Und der Herr Langemann hat diese Informationen sofort an die Quick- und BamS herausgegeben. Die Ermittler der Sonderkommission im LKA hatten davon keine Ahnung. Langemanns Vorgehen hatte zur Folge, dass am Samstagmittag die Stadt Donaueschingen von diesen Reportern sofort quasi aufgerollt worden ist. Reporter sind weniger behäbig als reale polizeiliche Ermittler, sie klapperten alle Jugendtreffs ab, und so waren in Windeseile sämtliche Leute darüber verständigt, was in München geschehen war. Es ging natürlich darum schnelle Informationen zu finden, Bilder von Gundolf Köhler, was man halt so braucht als journalistische Handelsware. Und das ist eine zynische Gefährdung und Zerstörung der Ermittlungen gewesen. Wenn es im unmittelbaren Umfeld von Gundolf Köhler in Donaueschingen Mitwisser, Helfer, Tatbeteiligte oder Auftraggeber gab, so hatten sie, bevor die Behörden auf sie zukamen, die Gelegenheit Spuren zu verwischen und Aussagen abzusprechen.

Gaudiredaktion:

Warum wurde gerade die Quick auserkoren?

Chaussy:

Das war ein Konzept von Dr. Langemann, er nannte es „positiven Verfassungsschutz“. Er wollte immer schon aktive Pressepolitik betreiben. Das hat er mit seinem damaligen Staatssekretär im Innenministerium, Erich Kiesl, besprochen. Langemann hat einfach die Idee gehabt, die Presse nach dem Prinzip „Eine Hand wäscht die andere“ – also mit Informationen – zu bedienen, für die sich jeder Journalist die Finger abschleckt. Um aber auch bestimmte Berichterstattungen zu steuern, in diesem Falle eben mit dem Tenor: Nein, das landläufige Vorurteil über die CSU, über Strauß und Tandler trifft natürlich in keiner Weise zu, wir haben das überhaupt nicht locker genommen, wir haben die Rechtsextremisten aufs Schärfste beobachtet. Immer schon hätten der Ministerpräsident und der Innenminister Hoffmann und die WSG verbieten wollen, und so fort. Langemanns Konzept war es, die erwünschte Berichterstattung durch den Aufbau von Beziehungen zu bestimmten Journalisten zu lenken. Der starke Zusammenhang mit dem Quick-Journalisten und diesem Fall ist auch dadurch belegt, dass die Quick in der Ausgabe der nächsten Woche aus dem Einsatztagebuch des Lagezentrums Bayerns im Innenministerium direkt zitiert. Und das hat der Langemann rausgegeben.

Gaudiredaktion:

Wie kam es zum Krach zwischen Generalbundesanwalt Rebmann und der bayerischen Regierung?

Chaussy:

Eine Rückblende auf die Ermittlungen am Tag nach dem Anschlag: Am Samstag, den 27. September, gab es einen veritablen Krach zwischen dem damaligen Generalbundesanwalt Kurt Rebmann und den Bayern, dem Bayerischen Innenministerium und dem ihm – als Landespolizeibehörde – untergeordneten Landeskriminalamt. Und dieser Konflikt war der, dass der Name Gundolf Köhlers auf Grund der Erkenntnis im Nadis-System als Wehrsportgruppenanhänger bekannt wurde. Die Ermittler konnten also nach Donaueschingen. Sie kamen schnell in das Haus, wo seine Eltern wohnten. In dem Moment, in dem bekannt wurde, dass der Köhler als Sympathisant der rechtsextremistischen WSG Hoffmann bekannt ist, hat der Generalbundesanwalt in Karlsruhe gesagt, das Verfahren gehöre in seine Zuständigkeit als oberster Terrorermittler. Und er hat das Verfahren an sich gezogen und wurde damit der Ermittlungsführer. Er hat eine Nachrichtensperre verhängt, weil er – richtigerweise – sagte, dieses Wissen darüber, dass einer, der an dieser Tat beteiligt war, dessen Identität wir jetzt kennen und wissen, mit welchen Gruppierungen er zusammen ist, muss natürlich unbedingt geheim gehalten werden, um bei Ermittlungen den Überraschungsvorsprung zu haben. Weswegen Rebmann getobt hat in Karlsruhe, als am Abend dieses 27. September trotzdem der Name vom Köhler landauf, landab durch die Medien ging. Ich unterstelle bis heute, dass Rebmann nicht bekannt war, dass Bayerns oberster Staatsschützer Langemann die Ermittlungsergebnisse gezielt herausgegeben hatte.

Gaudiredaktion:

Wie war der Stand der Ermittlungen zur Einzeltäterschaft?

Chaussy:

Von Gundolf Köhler war ein Bild veröffentlicht worden. Es gab eine erhebliche Anzahl von Beobachtungen am Tatabend. Die SoKo des Landeskriminalamtes erhielt Aussagen von Zeugen, die Köhler bis kurz vor der Tat in Gesellschaft anderer Leute in München bzw. am Tatort an der Theresienwiese gesehen hatten. Kurt Rebmann musste gezwungenermaßen – noch ziemlich wütend, dass er überhaupt mit Erkenntnissen an die Öffentlichkeit gehen musste – in Karlsruhe am Sonntagmittag nach der Tat eine Pressekonferenz geben. Rebmann sagte, dass Köhler Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann war, dass er nicht annehme, dass Köhler diese Tat allein begangen hat, und auch keine Hinweise habe, dass Gundolf Köhler Selbstmord begehen wollte. Es sei der Beginn der offiziellen Ermittlungen, der darauf gründet, dass Köhler einerseits aktenmäßig bekannt sei, und andererseits gab es von Anfang an Bekundungen, dass andere Personen am Tatort gewesen sind, die mit ihm zusammen gesehen wurden. Und schließlich habe Köhler die Hände an der explodierenden Bombe gehabt. Da war von vornherein die ganze Spanne aufgemacht, das sei deswegen auch als ein terroristisches Verbrechen nach §129a, das aus einer terroristischen Vereinigung heraus begangen worden sei. Das war der Stand am 27./28. September 1980.

Gaudiredaktion:

Welche These vertrat die Sonderkommission des Bayerischen LKA?

Chaussy:

Dann gibt es die Station im Mai 1981, als die „Soko Theresenwiese“ des Bayerischen LKA ihren Schlussbericht lieferte. Darin wird Gundolf Köhler als der alleinige Täter beschrieben, der sich diesen Anschlag allein ausgedacht und ihn vorbereitet und allein durchgeführt hat. Ein Einzeltäter, der sich alles, was er für seine Bombe benötigte, allein beschafft hat. Und dieser Einzeltäter habe nicht aus irgendeinem politischen Grund gehandelt, sondern ausschließlich aus persönlicher Verzweiflung und einem sogenannten Universalhass, also Hass auf sich selbst und auf die Welt. Und „im Vermutungsbereich“ läge als auslösender Impuls, dass Köhler an diesem Tag einen Bescheid der Universität Tübingen über eine Prüfung bekommen hat, die er nicht bestanden habe. Das habe das Fass zum Überlaufen gebracht und deswegen habe er diese – offenbar schon fertiggestellte Bombe – eingepackt und sei nach München gefahren. Das müsste man eigentlich unter den Begriff eines erweiterten Selbstmords fassen.

Gaudiredaktion:

Wie ging der Streit um die Einzeltäterschaft aus?

Chaussy:

Acht Monate nach dem Attentat sind dem Generalbundesanwalt Rebmann im Mai 1981 achtundzwanzig Bände Ermittlungsakten und der Schlussbericht des Bayerischen Landeskriminalamtes, also der „SoKo Theresienwiese“ übergeben worden. Ermittlungsführer Rebmann hat natürlich diese Ergebnisse relativ kritisch geprüft und hat den einen oder anderen weiteren Ermittlungsauftrag vergeben, um dann im November 1982 mit einer ähnlichen Begründung – aber leicht differenziert – die Akte endgültig zu schließen. Auch er sagte, es sei anzunehmen, dass Gundolf Köhler als Alleintäter gehandelt hat. Bekundungen über die Beteiligung Dritter konnten nicht erhärtet werden. Und das Verfahren

a) gegen Karl-Heinz Hoffmann und noch weitere genannte Unterführer der Wehrsportgruppe Hoffmann wegen des Oktoberfestattentats ist mangels Erhärtung dieses Anfangsverdachtes einzustellen und

b) gegen unbekannte Täter ist es einzustellen, weil sie nicht ermittelt werden konnten.

Gaudiredaktion:

Siehst Du einen Zusammenhang zwischen der Wende in den Ermittlungen und der politischen Wende zu Kohl?

Chaussy:

Im November ’82, wenige Tage nach der politischen, und sogenannten moralischen und geistigen Wende zu Helmut Kohl, nach dem Ende der sozial-liberalen Koalition, passierte diese Wende in den Ermittlungen

Man kann sie eigentlich nur in der Chronologie beschreiben: Bis Anfang/Mitte November 1980 nehmen die Ermittler im Landeskriminalamt all diese Hinweise auf Dritte, die an der Tat beteiligt werden könnten, durchaus ernst. Das wird besonders deutlich an der Behandlung einer Aussage des Zeugen Frank Lauterjung, eines 36jährigen Homosexuellen. Der wohnte in der Nähe der Wiesn. Er ging an diesem Abend auf die Straße und suchte Kontakt. Gundolf Köhler gefiel ihm und mit ihm wollte er ins Gespräch kommen. Deswegen hat er ihn eingehend und länger beobachtet. Er stand auf der Insel mit dem Brausebadhaus und sah Köhler – in erregter, längerer Unterhaltung mit zwei jungen Männern im Parka. Die zwei Begleiter Köhlers habe er nicht beschreiben können. Lauterjung hat – auch das machte ihn zu so einem wichtigen Zeugen – genau beschrieben, was Köhler anhatte und was er bei sich trug. Nämlich in der einen Hand eine schwer belastete – durch einen sehr schweren zylindrischen Körper – nach unten gezogene Plastiktüte und in der anderen Hand einen kleinen Koffer, den er als Kinderkoffer bezeichnet hat. Frank Lauterjung gehörte zu den – durch einen großen Glückszufall – fast überhaupt nicht Verletzten, obwohl er nicht sehr weit vom Detonationszentrum entfernt war. Er ist zwar meterweit durch die Luft geschleudert worden. Doch hatte er nur ein paar Abschürfungen. Er hat den Behörden erzählt, wie er unmittelbar vor der Detonation wieder diesen jungen Mann sah, der vom Brausebad aus den Bavariaring überquert. Er sieht nochmal diese nach unten durchgezogene Plastiktüte und den Koffer. Dann setzte er was ab, das muss wohl der Koffer gewesen sein. Und dann verschwindet er hinter einem Menschenvorhang. Das ist der Grund, warum Lauterjung überlebt hat. Es ist quasi so, dass jeder der nicht so furchtbar Verletzten jemandem in der Nähe des Detonationszentrums zuzuordnen ist, der für ihn sehr schwer verletzt wurde oder gar gestorben ist. Weil der ganz einfach dazwischen stand. Deswegen hat der Lauterjung eines nicht gesehen: wie die Detonation ausgelöst worden ist. Er sieht nur diese meterhohe Stichflamme, danach folgt die Detonation und er verliert das Bewusstsein. Lauterjungs Aussage hat man – weil sie auch durch andere flankiert war – sehr ernst genommen. Deswegen wurden Aufrufe veröffentlicht, die eine Fotomontage mit Gundolf Köhler mit Plastiktüte und Köfferchen zeigen. Die beiden Männer im Parka wurden gebeten, sich zu melden und als Zeugen zur Verfügung zu stehen. Und da gehen diese logischen Merkwürdigkeiten los. Innerhalb der Ermittlungsgruppe wird der Umstand, dass diese jungen Männer sich nicht gemeldet haben, als Beweis dafür angesehen, dass sie mit der Tat nichts zu tun hatten. Das ist eine sehr krude Logik.

Mir fiel immer wieder auf, dass die Leute, die solche Beobachtungen gemacht haben, die auf Helfer, Tatbeteiligte, jedenfalls Menschen die in irgendeiner Art und Weise mit dem Köhler in Verbindung waren, an dem Abend der Tat Hinweise gegeben hatten, dass deren Aussagen nach meinem Dafürhalten einfach zu wenig systematisch ausgewertet worden sind. Denn wenn man in rechtsextremistischen Kreisen, wie dem WSG-Umfeld, ermittelt, dann würde ich schon erwarten, dass man bei all denjenigen, die über Personen sprechen, die mit dem Köhler da waren, mit umfangreichen Lichtbildvorlagen versucht herauszufinden, ob jemand aus diesem Umkreis vielleicht dabei gewesen sein könnte. Ich habe mehrfach bemerkt, dass Tatzeugen eine Aussage machten, und danach nur ein einziges Mal nachgehakt wurde – oder auch gar nicht. Diese ganze Entwicklung geht insgesamt nur bis Anfang November 1980.

Gaudiredaktion:

Siehst Du in Köhler auch einen depressiven Einzelgänger?

Chaussy:

Die Polizei hat mit der schon beschriebenen Verzögerung den Donaueschinger Freundeskreis von Gundolf Köhler aufgerollt und ist nach einiger Zeit auf ein paar seiner Spezln dort gestoßen, von denen einer relativ bald zugab, mit Köhler des Öfteren etwas unternommen zu haben. Ein anderer hat erst einmal zu bestreiten versucht, dass er mit Köhler im näheren Kontakt gewesen sei. Diese beiden werden dann außerordentlich wichtig. Es stellt sich nämlich später heraus, dass diese beiden Zeugen in der Zeit des Bundestagswahlkampfes, in diesem Sommer 1980, Spritztouren gemeinsam mit Köhler in dessen Auto unternommen haben. Sie hätten auf diesen Fahrten Wahlkampfkundgebungen besucht. Köhler interessierte sich im Sommer 1980 durchaus für Verschiedenes, er ist nach meinem Dafürhalten in dieser Zeit vor dem Anschlag in einem politischen Orientierungsprozess befindlich gewesen. Und wahrscheinlich auch in einem Ablösungsprozess von den Rechten. So war er z.B. auch im Ortsverband der Grünen zu Gange. Und er hat wenige Tage vor dem Anschlag eine Veranstaltung der Volkshochschule und da ein KZ-Außenlager besucht. Über die Gespräche auf den Fahrten zu den Wahlkundgebungen sagt der eine seiner beiden Freunde: Wir drei haben darüber gesprochen, vor allem Gundolf, inwiefern man durch einen Anschlag im Wahlkampf den Ausgang desselben beeinflussen könne. Es wurde auch darüber schwadroniert, wem das dann nützt. Ob man das den Linken in die Schuhe schiebt oder den Rechten. Auf alle Fälle sind da diverse Theorien gesprächsweise ventiliert worden. Und der andere belog die Polizei zunächst wochenlang und behauptete, dass er Köhler gar nicht näher gekannt habe. Die Polizisten nahmen ihn dann in den Schwitzkasten. Und dann packte er aus, in einem stundenlangen Verhör, mit großen Pausen, in denen man wiederum nicht weiß, was da gelaufen ist. Der musste dann zugeben, dass er mit Köhler durchaus zu tun hatte; und sagt: Nein, über Wahlkampfbeeinflussung durch einen Anschlag sei überhaupt nicht gesprochen worden, die ganze Tat habe mit Politik nichts zu tun, sondern war ausschließlich Ausfluss der totalen Verzweiflung von Gundolf, der keine rechte Freude mehr an irgendwas gehabt habe; der frustriert gewesen sei in seinen Beziehungen zu Frauen und im Grunde genommen nur noch einen großen Hass auf alles gehabt habe. Die Theorie über die Persönlichkeit von Gundolf Köhler, die auch in den Schlussberichten so verkauft wird, beruht ausschließlich auf den Bekundungen dieses einen Zeugen. Das Erstaunliche ist eben auch, dass es Beweismomente und Indizien gab, die dazu hätten führen müssen, dass man diese Theorie durch einen Psychologen oder weitere Zeugen, z.B. aus der Familie, versucht zu erhärten bzw. zu widerlegen. – Das aber fand nicht statt. Aber wenn solche Dinge behauptet werden wie: Gundolf sei sozial komplett isoliert gewesen, also ein völliger Einzelgänger, und dann finde ich bei meinen Recherchen, dass er in dieser Ferienzeit, in der er angeblich alleine den Anschlag geplant und die Bombe gebaut haben soll, dass er da u.a. nicht nur zwei längere Interrail-Reisen unternommen hat, sondern auch eine Zeitungsannonce aufgegeben hat – er spielte nämlich auch Schlagzeug – und da wieder eine Band gesucht und auch gefunden hat, mit der er zweimal die Woche geübt hat. Und dann hat er bei einer Uranerzbergbaufirma gejobbt – er studierte ja Geologie und interessierte sich da auch für diese ganzen Zusammenhänge; und was er nicht in dieser Interrail-Reise an Geld gebraucht hat, hat er – dieser 21jährige, angeblich perspektivlose Gundolf Köhler, dazu verwendet, einen Bausparvertrag abzuschließen und mehrere hundert Mark Anfangsprämie einzuzahlen. Wenige Wochen vor dem großen Abgang. Ich habe deswegen von allem Anfang gesagt: Die ganze Ausfüllung dieses Persönlichkeitsbildes von Gundolf Köhler, ob das nun von Seiten der Ermittler in diese Richtung gezogen worden ist, dass er dieser verzweifelte und frustrierte und hasserfüllte Einzelgänger war, der quasi einen erweiterten Selbstmord begangen hat, weil er mit sich und der Welt fertig war. Das ist eine Ermittlung, die ich in keiner Weise für schlüssig halte, sondern für außerordentlich manipulativ und einseitig.

Gaudiblattredaktion:

Viele Leute sahen in Gundolf Köhler einen Ideal-Fascho.

Chaussy:

Für sie passte wunderbar ins Bild, dass er der idealtypische, jetzt-zur-Bombe-greifende Rechtsextremist aus dem Wehrsportzusammenhang war. Das war er eine Zeit. Aber für das Jahr 1980 ist weder erwiesen, dass Köhler noch so stramm rechtsextrem dachte und handelte, noch ist in diesem Zeitraum die Verbindung zu Hoffmann und seiner WSG nachgewiesen, allerdings nach meiner Meinung auch nicht intensiv genug erforscht worden. Deswegen musste der Generalbundesanwalt auch das Verfahren gegen Hoffmann einstellen, weil eben ein konkreter Zusammenhang zu ihm und seiner Wehrsportgruppe nicht nachzuweisen war. Klar ist, dass Köhler zwischen 1976 und ’78 auf dieser rechtsextremistischen Schiene gefahren ist. Tatsache ist aber eben, dass sich keine klaren Verbindungen in diesem Jahr, in dem er diese Tat begangen haben soll, mit der Wehrsportgruppe bislang erweisen lassen. Klar ist nur nach dem Bericht der Sonderkommission Theresienwiese vom Landeskriminalamt im Jahre 1981 oder ’82, dass es damals Anlass gegeben hätte, die Ermittlungen in der Wehrsportgruppe Hoffmann bzw. dem gesamten Sympathisantenfeld der WSG nochmal gründlich von vorne zu beginnen. Damals kehrten die Anhänger von Hoffmann, die nach dem Verbot der WSG mit Hoffmann zusammen in den Libanon ausgewichen sind, völlig desillusioniert von ihrem „Chef“ nach Deutschland zurück. Und plötzlich stellte sich alles anders dar als in den Vernehmungen unmittelbar nach der Tat. Damals konnte sich angeblich niemand an Köhler erinnern. Jetzt sagt z.B. der ehemalige WSG-Unterführer Arndt-Heinz Marx aus: „Ja der Köhler, das ist doch der gewesen, der kam einmal mit einer selbstlaborierten Handgranate zu einer Übung und hat sie da explodieren lassen.“ Und in dieser Phase – die Ermittlungen liefen zumindest noch formal, weil die Akte noch nicht geschlossen war – war mit der Rückkehr der Libanon-Wehrsportler eigentlich die Veranlassung gegeben, dass man genauestens der Frage hätte nachgehen müssen: Wer kam zu den Übungen der WSG, wie waren die drauf, womit befassten die sich usw. Ich finde, dass das Wissen nach Abschluss des SOKO-Berichtes, vor Abschluss der Ermittlungen durch den Rebmann, unbedingt dazuhätte führen müssen, dass man mit dieser Perspektive die Ermittlungen vertieft und weiterführt. Das ist aber nach meiner Kenntnis nicht geschehen. Meine Kenntnisse sind allerdings fragmentarisch.

Ich hatte angefangen im Bayerischen Rundfunk über Veranstaltungen des Anwalts einiger Opfer des Anschlags zu berichten. Danach wurden mir Auszüge aus den Ermittlungsakten zugespielt. Das war für mich die Möglichkeit diesen Sachen nachzugehen und mich mit denen zu befassen, die als Zeugen eine Rolle gespielt haben, und die Qualität dieser Ermittlungen stichprobenartig zu überprüfen. Einsehen werde ich diese Akten überhaupt erst in den nächsten Monaten können – wenn alles gut geht.

Ich kenne z.B. die Vernehmungen dieses Zeugen, auf dem diese Einzeltätertheorie beruht. Ich bin mir aber nicht darüber im Klaren, ob die Ermittler die Fakten kannten, etwa die Geschichte mit dem Bausparvertrag und der Band, aufgrund derer man die entscheidende Aussage gegenüber Köhler zumindest mit größter Vorsicht hätte behandeln müssen.

Gaudiredaktion:

Da stellt sich doch die Frage, ob die Ermittlungen nicht politisch beeinflusst waren.

Chaussy:

Ja. Aber das kann man in der Regel nicht aus Akten herauslesen. Das werde ich auch immer gefragt, aber ich verweigere immer deswegen schlichtweg eine Auskunft und sage: dazu kann ich nichts sagen, weil diese Zusammenhänge mir nirgends dokumentiert scheinen. Was man sehen kann, ist dieser Einfluss und die Art Schadensbegrenzung, die der Staatsschutzchef Langemann, der nicht Ermittler ist, vornimmt. Aber da ist völlig klar: Es geht darum, die Geschichte de facto zu individualisieren und auf diesen einen Jungen abzustellen. Wie das aber genau zugegangen ist, dass das Landeskriminalamt, diese SoKo, sich diese Strategie so vehement zu eigen macht, das weiß man nicht. Mich hat es immer nur gewundert, dass sich nicht mal ein Polizist oder Ermittler empört und sagt: Hier wird uns ja systematisch eine Niederlage bereitet und ins Handwerk gepfuscht.

Gaudiredaktion:

War ein politischer Druck da, etwas Bestimmtes hören zu wollen?

Chaussy:

Der Druck war doch klar: Wenn ein Strauß jahrelang sagt, diese Truppe um den Hoffmann ist Opera buffa, lasst die doch rumhampeln. Wenn man über die redet, wertet man sie allenfalls auf. Und dann steht zu befürchten, dass diese Ermittlung erbringt, dass dieser schwerste Terroranschlag in der Bundesrepublik aus den Reihen dieser Gruppe heraus begangen worden ist. Es ist ja dann das Naheliegende, zu versuchen, die Sache zu entpolitisieren und auch zu individualisieren, auf diesen toten Jungen am Tatort, der natürlich beinahe beliebig beschreibbar ist und über den alles Mögliche gemutmaßt werden kann. Und das ist natürlich klar, dass Franz Josef Strauß sich damals aus dieser misslichen Lage rauswinden musste, in der er mit Innenminister Gerhard Baum jemanden beschuldigte, verantwortlich für dieses Geschehen zu sein, und nun selbst neun Tage vor der Wahl als jemand dazustehen droht, der das Wehrsporttreiben immer verharmlost hat.

Gaudiredaktion:

Und trotzdem fragt man sich, warum nicht mal ein Ermittler auspackt. Vermutlich war der Druck sehr groß und die Interessen sehr mächtig.

Chaussy:

Sehr erwünscht wäre das jedenfalls nicht gewesen. Man kann sich’s aber auch so vorstellen: Es gibt viele Schattierungen zwischen einem idealtypischen, zivilcouragierten Polizisten und einem der auf höhere politische Anweisungen Ermittlungen so manipuliert und so abschließt, dass sie der politischen Führung genehm ist. Und zu diesen Schattierungen gehören ganz pragmatische Sachen, Dinge wie: Wir haben hier einen toten Tatbeteiligten, der in irgendeiner Weise an der Tat beteiligt war. Der liegt am Tatort und ist aufgrund der Art seiner Verletzungen als jemand identifiziert, der im Augenblick der Detonation seine Hände an der Bombe gehabt hat. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir bis heute nichts über die Art der Zündung der Bombe wissen. Wir wissen, dass Gundolf Köhler vom Brausebad zu dem Papierkorb marschiert ist und diesen langen zylindrischen Gegenstand da drin hatte, der zu der später ermittelten britischen Werfergranate gut passte. Wir wissen aber nicht, ob das Ding mit einer Lunte gezündet worden ist, oder durch elektrische Fernzündung, weil keinerlei Zündapparat gefunden oder ermittelt worden ist.

Gaudiredaktion:

Was war mit dem Koffer?

Chaussy:

Der Koffer ist verschwunden. Den hat es nicht mehr gegeben. Im Abschlussbericht der Bundesanwaltschaft ist der Koffer dann wieder erwähnt, er sei nach der Detonation noch gesehen worden, dann aber verschwunden. Generalbundesanwalt Rebmann, den ich 1984 vor Drucklegung meines Buches interviewt habe, hat damals selber zu mir gesagt, dass es diesen Koffer vielleicht komplett zerlegt hat. Angeblich gibt es eine Aussage, dass der noch nach der Explosion gesichtet worden sei. Man weiß es aber nicht. Ich weise darauf hin, dass die Brüder von Gundolf Köhler von der Annahme ausgehen, dass ihr Bruder das unglücklichste aller Opfer gewesen ist. Dadurch dass man nichts über die Zündung aussagen kann, rückt das zumindest in den Bereich des Möglichen.

Gaudiredaktion:

Was genau vermuten die Brüder?

Chaussy:

Seine Brüder wissen nichts positiv darüber auszusagen, wer sonst diesen Anschlag begangen haben soll, aber sie verweisen darauf, dass er aufgrund dessen, dass nicht erwiesen ist, wer diese Bombe zur Zündung gebracht hat, auch ein Opfer gewesen sein könnte.

Gaudiredaktion:

Also benutzt worden sein könnte.

Chaussy:

Ja, auch benutzt worden sein könnte.

Gaudiredaktion:

Und vielleicht jemand anderes die Bombe mit einer Fernzündung gezündet hat?

Chaussy:

Ich habe der Familie von Gundolf Köhler immer gesagt: Ich kann ihren Verdacht insofern folgen, weil es so viele Fehlstellen in der Theorie gibt, die besagt, dass er diesen Anschlag ganz alleine ausgedacht, vorbereitet und das Material beschafft hat, und dass ich daher nicht davon ausgehe, dass er das ganz alleine gewesen ist. Aber für mich steht beispielsweise fest, dass er die Bombe in seinen Händen trug; in dieser Plastiktüte. Mindestens von dieser Brausebadinsel, wo das zum ersten Mal gesichtet worden ist, bis zur Detonationsstelle hat er sie transportiert und offensichtlich in diesen Abfallkorb gelegt. Von da an eröffnet sich ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Wenn das ein Aufschlagzünder gewesen wäre, dass Köhler die Bombe praktisch aus den Händen gerutscht und dann detoniert ist. Es gibt eine Zeugenaussage von einer Frau, die zwei andere Männer an der Sprengstelle gesehen hat und der eine ist im Lichtschein dieses Abflammens vor der Detonation angeblich davongerannt. Zwar eine vage Aussage, aber im Kern scheint mir diese Zeugin glaubwürdig. Die ist auch sehr intensiv von der Polizei vernommen worden. Es besteht eine sehr große Neigung, diese Tat mit den Fragmenten von Wissen, das wir haben, in jeweils genehme Zusammenhänge zu stellen. Das halte ich für sehr problematisch. Denn wir haben keine Gewissheit. Wir wissen absolut wenig über dieses Oktoberfestattentat. Das möchte ich wirklich betonen. Ich werde auch sehr gerne dafür in Anspruch genommen, als Kritiker an der Einzeltätertheorie, und daraus wird dann gleich der Schluss gezogen, dass es die Wehrsportgruppe Hoffmann gewesen sein muss. Pustekuchen! Der Beweis ist nicht erbracht.

Gaudiredaktion:

Ich muss sagen, dass ich jetzt auch ein anderes Bild bekommen habe. Aber es bleiben natürlich Fragen offen. Vor allem die Frage, wie es möglich ist, dass diese ganzen Indizien und Zeugenaussagen derartig abgeschmettert und weggebügelt werden können.

Chaussy:

Es sind einfach so viele Fragen offen. Z.B. diese Persönlichkeitstheorie über Köhler vom persönlich Verzweifelten und isolierten Einzelgänger. Dagegen stelle ich, dass er eher ein Suchender war. Und sozial isoliert war er mitnichten Aber das ist natürlich Psychologie meinerseits, und meine Annahmen kann man genauso in Frage stellen, so wie ich mir erlaube, die Theorie der Behörden in Frage zu stellen, aufgrund gewichtiger Indizien. Aber die Tatsache, dass Gundolf Köhler über diese Werkstatt im Hause seiner Eltern verfügte und da noch Chemikalien aus dem Chemiestudium seines Bruders waren und da auch Aufzeichnungen von ihm gefunden wurden, die davon zeugen, dass er sich über einem längeren Zeitraum fasziniert mit der Herstellung von Sprengstoff auseinander setzte. Und dass er selber Handgranaten herstellte. Aber eben mit Schwarzpulver gefüllte Handgranaten. Es ist aber erwiesen, dass in der Oktoberfest-Bombe hochexplosiver, militärischer, professioneller Sprengstoff verwendet wurde. Und in dieser sogenannten Bomben-Werkstatt im Hause Köhler sind keinerlei Spuren dieses hochexplosiven Sprengstoffes gefunden worden. Dabei soll die komplette Bombe dort gebaut worden sein. Deswegen sind ja auch die Ermittler der Sonderkommission in den Tagen nach der Tat Hinweisen nachgegangen, die von Mitgliedern der rechtsextremistischen „Deutschen Aktionsgruppen“ kamen. Der Bombenbauer dieser Gruppe, der in einer Art Lebensbeichte sowieso Tabula Rasa machte, wies die Ermittler darauf hin, dass ihm für seine Aktionen und Terroranschläge gegen Asylantenheime von einem Rechtsextremisten aus der Lüneburger Heide, dem bekannten Forstmeister Lembke, militärischer Sprengstoff angeboten worden war. Und die Ermittler sind wenige Tage nach dem Anschlag bei Lembke aufgetaucht. Sie haben eine Hausdurchsuchung durchgeführt, die aber sehr oberflächlich war. Lembke hat abgestritten, mit so etwas irgendwie in Verbindung zu stehen. Da sind die Ermittler wieder abgezogen. Ein Jahr später, als die SoKo Theresienwiese ihren Schlussvermerk verfasst hatte, aber Generalbundesanwalt Rebmann weiter ermittelte, hat ein Waldarbeiter per Zufall ein Erddepot ganz in der Nähe vom Lembkes Forsthaus entdeckt. Dann hat man ihn in U-Haft genommen und er hat schließlich ca. 30 Erddepots offen gelegt. Bei einem hat er sich geweigert, es offen zu legen. Er sagte, er möchte niemanden verraten. Dieses Depot ist niemals gefunden worden. Und dann hat Lembke angekündigt, dass er eine Aussage machen würde. Aber kurz davor wurde er erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Die Lembke-Spur beispielsweise wird besonders stark von dem Politologen und Gladio1 -Erforscher Daniele Ganser betont. Ganser hat aber keinerlei eigene Recherchen in Sachen Oktoberfest-Attentat gemacht. Diese Lembke-Spur ist einfach auch nur ein sehr dünne Rinnsal. Denn es gibt bis heute nichts, was eine Verbindung zwischen Lembke und Köhler belegen kann. Es gab wohl Verbindungen zwischen Hoffmann und Lembke, die hatten mal Pläne zu einer Rudolf Hess-Befreiungsaktion. Es gab schon in den 80er Jahren ein rechtsterroristisches Netz in der BRD, das nicht gut untersucht und ausgeforscht wurde. Das ist eine Möglichkeit, aber mehr auch nicht. Wer dann hergeht, nur weil es Anzeichen dafür gab, dass der Lembke diesen sog. Gladio-Strukturen angehört hat, das ganze Oktoberfest-Attentat gleich zu eine Gladio-Aktion zu erklären, der kann dies bis heute nicht wirklich belegen. Da ist vor allem der verschwörungstheoretische Wunsch der Vater des Gedankens. Ich finde, dass Linke mindestens doppelt so gut wie andere recherchieren müssen, wenn sie etwas belegen wollen. Nur weil es so schön passt, wenn es die NATO oder der Hoffmann oder sonstwer ist – dem kann ich nur immer etwas amüsiert oder genervt zuschauen. Ich wiederhole einfach immer gebetsmühlenartig: Wir wissen so gut wie nichts über diesen Anschlag.

Gaudiredaktion:

Es bleibt einfach der Eindruck, dass der Fall viel zu schnell abgeschlossen wurde.

Chaussy:

Der Anschlag war immer, unter den verschiedensten Gesichtspunkten, einer sehr starken Verdrängungsleistung der Menschen ausgesetzt. Bei den Opfern verstehe ich das. Sie müssen über ihre eigenen Überlebensstrategien selber entscheiden. Was diese Gewerkschafter, die Leute vom Arbeiterbund oder diese KPDler angeht, die jährlich diese Mahn- und Schutzwachen gemacht haben, da habe ich diesen Terminus nie verstanden. „Schutzwache“ – was das soll? Ich habe mehrfach beobachtet, dass die Mitglieder der „Schutzwache“, die sich schweigend in einem Karree um das Mahnmal aufstellten, direkter Aggression von Wiesnbesuchern ausgesetzt waren. Vermutlich, weil die Menschen, die auf die Wiesn gehen, einfach und schlicht einen drauf machen wollen. Auf der Wiesn wollen die Leute der Politik, der Arbeit und dem Alltag entkommen. Zumindest für diese paar Stunden wollen sie einfach nichts damit zu schaffen haben. Und diese Leute vom Arbeiterbund, die dann da immer auf der Wiesn rumgestanden sind, das kam mir ein bisschen so vor wie das „Lenor-Gewissen“. Von wegen so: „Du gehst jetzt auf die Wiesn, um dich zu amüsieren und zu besaufen, aber hier sind 13 Menschen gestorben.“ usw.

Der Anschlag auf die Wiesn mit diesem völlig unstrukturierten Opfer-Profil galt tendenziell einem jeden von uns. Und damit unterliegt er natürlich einer viel massiveren Verdrängung als ein Terroranschlag, der von irgendeiner politischen Gruppierung gegen irgendjemanden begangen wird, den diese Gruppe aus ihrer ideologischen Sicht als Schurken, Bösewicht oder Schuldigen bezeichnet. Damit ließe sich viel leichter umgehen. Das ist auch wohl der Grund, warum es so wenige gibt, die sagen: Wir wollen es genau wissen, was hinter dem Oktoberfest-Attentat steht. Die Opfer sind zu schwach. Ihnen kann man nicht aufbürden, dass sie das mit ihren Kräften voran treiben. Die brauchen die Kräfte für sich. Und die anderen haben dieses diffuse Unwohlsein, dass das ein Anschlag auf unser aller gutes Lebensgefühl ist, was sich genau an der Wiesn so zeigt.


Oktoberfest-Gaudiblatt, München September 2010.

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1 Gladio, eigentlich Stay-behind-Organisation, war eine paramilitärische Geheimorganisation der NATO, der CIA und des britischen MI6 während des Kalten Krieges.