Materialien 1981

Die fortschrittliche Veranstaltung

Brief an einen Freund

Grundsätzlich knüpfen alle Veranstaltungen, auch die fortschrittlichsten, an die Eltern-Kind-Beziehung an, das heißt an die dort ausgebildeten Strukturen der Über- bzw. Unterordnung. Dabei übernimmt der Veranstalter die Rolle der Eltern und die Veranstalteten die der Kinder.

Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn die Eltern-Kind-Beziehung frei von Erziehung wäre. Ist sie aber nicht frei von Erziehung, dann hat sie erzogene, also zerstörte, zu Bindung und Freiheit gleichermaßen unfähige Menschen produziert.

(Wenn Du die Bücher „Antipädagogik“ oder „Zeit für Kinder“ von Ekkehard von Braunmühl oder das Buch „Das Drama des begabten Kindes“ von Alice Miller kennst, dann weißt Du, warum ich diese Folgen mit dem Begriff der Erziehung, der ja immer noch fraglos positiv besetzt ist, in Verbindung bringe.)

Wer als Kind erzieherisch behandelt wurde, der ist an Erziehung gewöhnt und hat kein Gefühl mehr für die Freiheit, was sich z.B. daran zeigt, dass die äußere Freiheit (wie Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen Automarken zum Beispiel) mit Freiheit schlechthin gleichgesetzt wird.

Wer erzogen wurde, der kann eben dies kaum noch erkennen, zumal er zu der großen Mehrheit gehört. Für den Erzogenen ist Erziehung die Norm, das Richtige, das Selbstverständliche, sogar das undifferenziert für notwendig gehaltene.

Wer erzogen wurde, der kann daher auch kaum noch das Erzieherische an allen Veranstaltungen erkennen, weil das ja im eigenen Kopf beginnen müsste.

Veranstaltungen, die sich selbst als fortschrittlich verstehen und von fortschrittlichen Menschen für fortschrittliche Menschen veranstaltet werden, müssen sich im wesentlichen auf die vertrauten Strukturen stützen wie alle anderen Veranstaltungen auch (sonst würde die Unsicherheit unerträglich werden). Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Aber: in der Regel lösen solche Veranstaltungen den Anspruch, fortschrittlich zu sein, nur oberflächlich, also so gut wie gar nicht ein, ohne sich dessen im geringsten bewusst zu sein. Denn es genügt ja nicht, das Äußere, die Form, die Erscheinung zu verändern, weil sich dadurch die Strukturen in den Köpfen kaum verändern dürften.

Mit dem Fortschritt ist es schließlich ebenso wie mit der Freiheit: das Bewusstsein muss sich ändern, dann kann man fortschreiten oder/frei werden.

Strebt also eine Veranstaltung echten Fortschritt (= Emanzipation) an – und das muss sie unbedingt, sonst verlieren alle Beteiligten gerade dort am meisten, wo ihnen der Gewinn am sichersten scheint -, dann muss sie konsequent auf die Selbstauflösung hinwirken, indem sie sich radikal infragestellt, und zwar von Anfang an. Sie muss also sich Selbst reflektieren und (so) den Weg zu Selbstreflexion der Veranstalteten freimachen. Sie muss sich transparent für allen Widerstand der Veranstalteten machen, gerade auch für den Widerstand gegen die Zumutung der Selbstreflexion. Sie muss sich selbst befähigen, den Widerstand der Veranstalteten als in deren Angst vor der Freiheit begründet zu erkennen. Sie muss sich befähigen, alle Folgen nicht nur auszuhalten, sondern sie laufend umzuwerten. Mit einem Wort: die Veranstaltung muss sich zu relativ totaler Offenheit fähig machen.

Das ist alles ungeheuer schwierig und voller – zunächst negativer – Überraschungen, denn die Effektivität bleibt dabei ebenso auf der Strecke wie die falschen Bedürfnisse der Teilnehmer nach Harmonie und Lustgewinn. Es wird nichts geben, das vorzuweisen wäre, weder den Veranstaltern noch den Veranstalteten noch den Gastgebern noch der Öffentlichkeit. Aber hier hat eben der Prozess der Umwertung anzusetzen. Es ist der Wert im scheinbar wertlosen zu erkennen (das wahrhaft Neue erscheint immer zunächst als absolut wertlos, weil die eigenen Wertvorstellungen absolut sind), was noch viel schwieriger ist. Aber nur diese Anstrengung bringt etwas Unverwechselbares hervor, eine Ahnung von Leben und Freiheit.

Das häufige „muss“ im vorigen, das selbst zwanghaft, erzieherisch wirken mag, knüpft an den unbedingten und nie aufzugebenden Anspruch aller Denkenden an, einen menschenwürdigen Zustand herstellen zu helfen, oder: Demokratie ernst zu nehmen.

Peter Grützmann


Münchner Zeitung 12 vom 15. Juli 1981, 10.