Materialien 1981
Meine Eindrücke von Brokdorf
Da geht’s mit München los; die ungefähr zwanzig scharfen Polizei-Hunde auf’m Bahnsteig, die Einzel-Durchsuchung im verdunkelten, von außen uneinsehbaren Extra-Waggon. das Abgetastet-Werden, das ‚Am-Arm-Genommenwerden’, allein mit drei oder vier Polizisten und einem Hund in einem Abteil, jeder Personalien festgestellt und heimlich geknipst. Die ‚normalen’ Reisenden den-
ken wahrscheinlich, wir seien jene legendären – ‚TERRORISTEN’, aber es gibt auch genug Kom-
mentare wie ‚Polizeistaat, Diktatur’ usw.
Grund genug für diese Sonderbehandlung ist unser Gruppen-Ticket nach Wilster. Wilster liegt bei Brokdorf. Und in Brokdorf probt die BRD an diesem Wochenende den Atomstaat. Wir wollen trotzdem dorthin. Doch unser Grundrecht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sollen wir nicht wahrnehmen dürfen, meint ein Landrat. Das Verwaltungsgericht widerspricht, die näch-
ste Instanz, das Oberverwaltungsgericht wiederum verbietet die Teilnahme, doch schon vor dem höchstrichterlichen Spruch vom Bundesverfassungsgericht, der erst am Tag der Demo fällt, müs-
sen wir uns entscheiden.
Viele fahren in dieser Situation nicht. Wir, die fahren, fahren illegal, wissen nicht, wie viele kom-
men, worauf wir uns einlassen.
Zwölf Stunden später stehen wir am Bahnhof in Wilster. Schon auf der Fahrt durch die Wilster-
marsch sahen wir die stehenden Auto- und Autobusschlangen, Tausende sitzen fest. In Wilster, vorbei an Polizistenspalieren, Wasserwerfern, kommen wir zum Kirchplatz. Nur zwei (!) Geschäfte, davon eine Bank, sind vernagelt, der Ort allerdings scheint ‚besetzt’: In allen Hinterhöfen Polizei-
fahrzeuge, die Lokale ‚geschlossen’, in ihnen nichts als Polizisten. Hier sind wir schon einige Tau-
send Leute. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Ein Drittel der Leute ist sehr fest gekleidet, tragt Helme. Es ist eisig kalt, Mundtücher sind allein deshalb angebracht. Das sind dann die be-
waffneten und vermummten Gestalten, die dem schaudernden Bundesbürger als Rechtfertigung für 10.000 Polizisten allein in und um Brokdorf geboten werden. Zwei Stunden später: Ein Rie-
senzug, 20.000 Menschen, sitzt vor einer Brückensperre fest. Jo Leinen von BBK und andere Chaoten verhandeln seit einer Stunde. Wann wird die Sperre weggeräumt? Einzeln will uns die Staatsmacht passieren lassen. Die Zeit drängt, wir befinden uns noch 8 oder 10km vom Bauplatz entfernt. Die meisten im Demonstrationszug wissen gar nicht, warum alles steht. Immer mehr überqueren den Kanal auf Brettern, bald sind hinter der Sperre soviel wie vor ihr. Sperre? Schließ-
lich wird erlaubt, dass der Lautsprecherwagen durch darf. Dazu werden die Sandcontainer auf die Seite geschoben. Danach gibt es keine Sperre mehr.
Nach 3,4 Kilometern treffen wir auf den zweiten Zug, größer noch als der unsere. Ein Teil dieses Zugs wird durch Großraumhubschrauber abgeteilt, doch sehr schnell sind die Polizisten dicht umdrängt, durch eine Öffnung können sie unbehelligt nach hinten abziehen, eine beispielhafte Aktion sozialer Verteidigung, die die Gewaltfreiheit der Demonstranten belegt.
Zu diesem Zeitpunkt kehren schon manche um, die eisige Kälte, der Wind, das lange Stehen, die mangelnde Kommunikation darüber, was eigentlich stattfinden soll – das alles zermürbt. Zehn-
tausend ziehen dennoch weiter zum Bauplatz.
Als wir uns diesem nähern, stehen die letzten 500 m schon viele Gruppen zusammen, ca. 200 m vor dem Baugelände ist alles ziemlich dichtgedrängt, nur einige Hundert ganz vorne am Bauzaun liefern sich „Gefechte“: Sie werfen Knüppel, Steine, Erdklumpen und Tränengasgranaten zurück, die zuvor auf sie abgefeuert wurden, in die „Brokburg“. Im übrigen, besonders als die großen Was-
serwerfer eingesetzt werden, haben sie keine organisierte Stärke entgegenzusetzen, sondern müs-
sen halt ganz schnell abhauen.
Immer wieder wogen Menschenmassen vor und zurück, zu einer großen politischen Kundgebung kommt es nicht, wohl aber gelingt es dem Aktionskreis Leben (AKL), eine kleinere Kundgebung mit einer Rede von Robert Jungk durchzuführen.
… Wir sind wieder in München. Für mich war es sehr wichtig, mit dabei gewesen zu sein. An der politischen „Nachlese“ kann ich mich jetzt einfach noch nicht beteiligen. Ich hoffe auf Diskussion.
Stefan
Münchner Zeitung 8 vom 15. März 1981, 7f.