Materialien 1981
Führer und Geführte
Ich stehe mit Funktionären der Gewerkschaft ÖTV in einer heftigen Auseinandersetzung über die Langeweile auf Gewerkschaftsversammlungen. Diese Auseinandersetzung hat mich angeregt, mir grundsätzliche Gedanken zu der folgenden Frage zu machen: Wie stichhaltig sind eigentlich die ständigen Behauptungen von Funktionären (Führern), sie seien machtlos und könnten nichts verändern, wenn sie nicht die Mehrheit hinter sich hätten?
Führer und Geführte bilden in der Regel eine in gegenseitiger Abhängigkeit stehende Gemeinschaft, in der die aus der Kindheit vertraute Hierarchie hergestellt wird. Führer und Geführte haben in der Regel ein starkes Bedürfnis nach Hierarchie und der damit verbundenen Abhängigkeit.
Diese – Bedürfnisse, die beim kleinen Kind richtig waren, sind beim Erwachsenen falsch. Falsch sind sie in dem Sinne, dass sie ihn falsch handeln, denken und fühlen lassen. Diese Bedürfnisse haben sich beim Erwachsenen zu Strukturen verfestigt, also quasi zu unterbewussten Subjekten. Gerade weil sie unbewusst sind, sind diese Strukturen sehr zählebig. Da die von ihnen gespeiste Motivation aber nicht echt ist, ist auch das daraus folgende Handeln, Denken und Fühlen charakteristisch schwach und labil, ungleich labiler z.B. als autonom ausgebildete Strukturen des Widerstands gegen diese Strukturen.
Eben wegen dieser Schwäche brauchen die falschen Bedürfnisse die Schein-Sicherheit der Mehrheit, die als Garant für Richtigkeit gilt, während die autonome, selbstbestimmte Struktur für sich existieren und sich sogar gegen die Mehrheit stellen kann.
Wenn der Führer der Mehrheit meint, er als Führer handelte ebenso selbstbestimmt, dann ist er sich der Abhängigkeit seiner Position nicht bewusst. Er kann nämlich nur im Ausnahmefall gegen die Mehrheit handeln und da auch nur aus guten, also aus moralischen Gründen, nie aus autonomer (moralunabhängiger) Erkenntnis heraus. Die Position des Führers steht und fällt mit dem (falschen) Bewusstsein der Mehrheit. Also können Führer, die ihre Position behalten wollen, gar nicht an einer Bewusstseinsänderung bei der Mehrheit interessiert sein.
Damit ist aber das Problem des (falschen) Bewusstseins der Mehrheit in Wahrheit ein Problem des (falschen) Bewusstseins des Führers. Um ihn geht es, er muss sich ändern. Von allein, ohne dass er etwas vorlebt, ändert sich die Mehrheit bestimmt nicht. Das ist nicht anders als in der Familie, in der alle Appelle an die Kinder, ihr Verhalten zu ändern, ebenso höchstens das Gegenteil bewirken (Gegenteileffekt). Folglich muss der Führer anfangen, Problembewusstsein zu entwickeln, sich bewusst, sensibel und reflektorisch (selbst- und fremdreflektorisch) zu verhalten.
Der Führer muss also, statt wie eh und je die Apathie der Massen zu beklagen, anfangen, seine eigene Position und sein eigenes Denken, Handeln und Fühlen infrage zu stellen. Mit einem Wort: der Führer muß lernen, sich zu emanzipieren.
Peter Grützmann
Münchner Zeitung 14 vom 15. September 1981, 10.