Materialien 1981

Liebe Tante Hildegard

Wie reagiert die Bundesregierung auf den Hungerstreik
türkischer Demokraten gegen die Militärdiktatur?

Vier Wochen ist es nun her, dass türkische Kollegen in München, in den Räumen der Evangelischen Hochschulgemeinde, in den Hungerstreik getreten sind, um politischen Druck zu erzeugen, dass von Regierungsseite etwas für die Freiheit ihrer demokratischen Genossen in der Türkei geschieht; dass die faschistische Militärdiktatur, Blutrichter und Folterknechte nicht weiter politisch, finanziell und militärisch unterstützt werden.

Der Studentenpfarrer Purrer hat entsprechend dieser Forderung am 13. Januar 1981 einen Appell an die Bundesregierung gerichtet. Frau Staatsminister Dr. Hamm-Brücher antwortete im Namen der Bundesregierung! Ihr Neffe Michael Brücher, Mitglied der ESG, hat auf diesen Brief kritisch und überzeugend geantwortet. Bis heute gab es keinerlei Reaktion von Seiten „Tante Hildegard’s“!

Herrn Ekkehard Purrer
Studentenpfarrer der Evangelischen Studentengemeinde München
Friedrichstraße 25
8000 München 40

Sehr geehrte Herren,

haben Sie Dank für Ihr Schreiben vom 13. Januar 1981 …

Die Bundesregierung beobachtet die Lage in der Türkei aufmerksam und mit Besorgnis. Sie hat bereits die Entwicklung, die zur Übernahme der Macht durch das Militär führte, mit Sorge verfolgt. Über fünftausendzweihundert Tote und mehr als vierzehntausend Verletzte waren in den beiden letzten Jahren vor dem 12. September 1980 als Opfer eines immer weiter um sich greifenden Terrors zu beklagen. Unmittelbar vor dem Putsch der Militärs lag die Zahl der täglichen Todesopfer bei mehr als zwanzig Personen. In diesem bürgerkriegsähnlichen Zustand konnte vom Schutz des ersten Menschenrechtes, nämlich des Rechts auf Leib und Leben, keine Rede mehr sein. Es war in dieser Situation, dass das türkische Militär nicht mehr länger zusehen zu können glaubte und die Macht im Lande übernahm …

Die Bundesregierung hat auf der Grundlage der zitierten Erklärung der Neun (EG-Staaten) vom 16. September das Militärregime wiederholt auf die Bedeutung hingewiesen, die in der Bundesrepublik Deutschland der Achtung vor den Menschenrechten durch die türkische Führung beigelegt wird und wird dies weiter tun. Sie verfolgt mit großer Aufmerksamkeit und Sorge die Entwicklung in der Türkei und erwartet, dass die Weichen für eine Redemokratisierung des Landes bald gestellt werden … Die türkische Militärregierung ist sich dieser Erwartungen bewusst. Zu starke offizielle Einmischung des Auslands könnte jedoch nach Ansicht aller Kenner türkischer Mentalität einer positiven Entwicklung eher entgegenwirken. Ich bitte Sie daher um Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen, die sich für die Bundesregierung in diesem Zusammenhang ergeben. Sie dürfen versichert sein, dass die Bundesregierung die erforderlichen Schritte – unter Abwägung aller Umstände – entschlossen tun wird.

Mit persönlicher Anteilnahme an Ihrem Engagement
grüßt Sie Ihre
H. Hamm-Brücher
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Offener Brief

Michael Brücher
Roter Turmplatz 17
8000 München 70

München, 21. Januar 1981

An Frau Dr. Hildegard Hamm-Brücher
Staatsminister im Auswärtigen Amt
Adenauerallee 99 – 103
5300 Bonn 1

Sehr geehrte Frau Staatsminister Dr. Hamm-Brücher!
Liebe Tante Hildegard!

Als ich vor ein paar Tagen die türkischen Kollegen besuchte, die sich in München im Hungerstreik befinden, zeigten mir meine türkischen Freunde in den Räumen der Evangelischen Studentengemeinde neben den neu eingetroffenen Solidaritätsadressen die erste schriftliche Reaktion eines Mitglieds der Bundesregierung. Die interessierte mich umso mehr, als es sich um Deinen Brief an den Münchner Studentenpfarrer Ekkehard Purrer vom 15. Januar 1981 handelte. Wie würde meine frühere „Lieblingstante“ die zynische Haltung der Bundesregierung zur Folter in der Türkei, ihre Freundschaft mit einer faschistischen Militärdiktatur und die Militärhilfe an dieses Regime vertreten?

Dass dieser Brief ein Versuch sein würde, die Haltung der Bundesregierung und die Ablehnung der Forderungen der hungerstreikenden Kollegen zu rechtfertigen, dachte ich mir, ehe ich ihn gelesen hatte. Ich hatte nicht erwartet, dass Du innerhalb der Bundesregierung auf einmal (wieder?) zu einem Rebellen geworden wärst, zu jener Tante Hildegard, die ich in den sechziger Jahren verehrte, die das Volksbegehren für die Gemeinschaftsschulen in Bayern gegen schwarze Borniertheit und Reaktion in Gang gesetzt hatte, die den bayerischen Kultusminister Maunz abgesägt hatte mit seiner Nazi-Vergangenheit, deren Reden „Gegen Unfreiheit in der demokratischen Gesellschaft“ ich begeistert las als eines der ersten politischen Bücher überhaupt. Ich erinnere mich noch, wie 1967 einmal bei Euch zum Mittagessen eingeladen war, wie Du mich – nicht ohne Erfolg – für die rebellierenden Studenten zu interessieren versuchtest und wütend den Tisch verließt, als Onkel Erwin dauernd „Roter Terror, roter Terror“ rief und Dich als „Ho-Chi-Minh-Anhängerin“ beschimpfte.

Ich weiß, dass all das vierzehn Jahre und länger her ist und dass wir beide anders geworden sind und gegensätzliche politische Auffassungen vertreten, sonst säßest Du nicht in der Regierung und schriebst die Briefe, mit denen befreundete Militärdiktaturen gerechtfertigt und verharmlost werden, und stünde ich nicht hier in der ESG an der Seite meiner türkischen Genossen, die Gesundheit und Leben riskieren, beschämt und wütend über die Haltung dieser Regierung.

Persönlich erschüttert hat mich insbesondere eine Stelle in Deinem Brief, ein Satz, eine Begründung für die ablehnende Haltung der Bundesregierung: „Zu starke offizielle Einmischung des Auslands könnte jedoch nach Ansicht aller Kenner türkischer Mentalität einer positiven Entwicklung eher entgegenwirken.“

Ist Dir denn gar nicht aufgefallen, was für ein Rassismus und Chauvinismus in diesen Worten steckt? Hast Du Dir einmal überlegt, welche Beleidigung für jeden demokratisch gesinnten Türken es bedeutet, wenn ihm eine gemeinsame „Mentalität“ mit den Generalen, Blutrichtern und Folterknechten angedichtet wird, die seine Brüder ihrer Freiheit berauben, sie quälen und ermorden?

Du wirst das sicher auch schon erlebt haben: Wie wütend Dein Bruder reagiert, wenn jemand in einem Gespräch auch nur von den Bayern und den Preußen spricht, von den Engländern oder den Deutschen und den Juden. Das gehört wirklich zu dem wenigen, was ich seit frühester Kindheit von meinem Vater gelernt habe – wie gefährlich solche Verallgemeinerungen sind. Und er weiß ja wahrlich, wovon er spricht, und auch Du solltest es wissen: Schließlich haben die Nazis Deine Brüder als „Halbjuden“ ins Lager gesteckt und meine Urgroßmutter in den Tod getrieben. Schließlich hast Du noch in den fünfziger und sechziger Jahren selbst am eigenen Leib erfahren, dass mehr oder weniger unterschwelliger Antisemitismus in der BRD keineswegs überwunden ist, sogar in den Reihen Deiner eigenen Parteifreunde. Und heute – wo sich in unserem Land zunehmend der Chauvinismus und Rassismus gegen „die Ausländer“, insbesondere gegen die türkischen Arbeitsemigranten und Asylsuchenden richtet – da machst Du mit.

Ich will Dich wahrlich nicht in die Nähe von Judenmördern und Pogromhetzern rücken, wohl aber jener ebenso überheblichen wie törichten Bildungsbürger, die heute blauäugig und menschenverachtend zugleich „das Türkenproblem“ erörtern, in einer durchaus vergleichbaren Weise, wie in denselben Kreisen Ende der zwanziger Jahre über „die Judenfrage“ und die „jüdische Mentalität“ schwadroniert wurde – natürlich ohne dass dabei im Traum einer an Auschwitz oder auch nur die Reichskristallnacht dachte. Gerade wir Deutschen sollten uns doch tunlichst davor hüten, dass die Mentalität des Faschismus zu einer rassischen oder völkischen Eigenart erklärt wird – und das auch noch, um die militärische Unterstützung, politische Rückendeckung und moralische Verharmlosung eines faschistischen Militärregimes zu rechtfertigen!

Ich fordere Dich auf, Dich für diese rassistische Äußerung gegenüber den türkischen Antifaschisten und Demokraten zu entschuldigen und die Behauptung, die Mentalität von General Evren, seinen Kumpanen und Folterknechten, sei die Mentalität des türkischen Volkes, zurückzunehmen. Sonst musst Du Dir den Vorwurf gefallen lassen, deutsch-nationaler Überheblichkeit und Rassismus Vorschub zu leisten. Wenn Dir Dein Ruf als engagierte Demokratin, den Du einmal besessen hast, bevor Du Regierungsposten bekamst, etwas wert ist, solltest Du Dich außerdem in dieser Bundesregierung einsetzen für die Forderungen der türkischen Kollegen und Freunde im Hungerstreik. Dann könnte ich wieder ein klein wenig stolz sein, wenn ich irgendwo, kaum dass ich meinen Namen angegeben habe, gefragt werde: „Ah, dann sind Sie vielleicht verwandt mit der …?“

Es grüßt Dich
Dein Neffe Michi

P.S.: Ich stelle diesen Brief auch den türkischen Freunden und der Presse zur Verfügung, damit nicht etwa der Eindruck entstehen kann, Deine Äußerungen entsprächen „Brücher’ scher Mentalität“.


Münchner Zeitung 7, Februar/März 1981, 5.

Überraschung

Jahr: 1981
Bereich: Internationales

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