Materialien 1981

NORD-SÜD; das Überleben sichern

Hotel Holiday Inn. Ich komme sonst nie hierher in diese Gegend: Leopoldstraße 200 und schon gar nicht in dieses Hotel, in den Konferenzraum „König Ludwig“. Es ist Freitagabend, der 8. Mai 1981, und der „Einlass ist nur gegen Vorzeigen der Einladung“, auf der steht:

„Der Vorstand des ,Wirtschaftsbeirat der SPD in Bayern e.V.’ lädt zu einer VORTRAGSVERANSTALTUNG mit anschließender Aussprache ein … Es spricht: WILLY BRANDT. Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zum Thema: ,DAS ÜBERLEBEN SICHERNGEMEINSAME INTERESSEN DER INDUSTRIE- UND ENTWICKLUNGSLÄNDER’. Nach dem Vortrag ist die Möglichkeit zu Anfragen gegeben.“

An einem langen Tisch auf der Bühne sitzen acht Männer, darunter Erwin Essl vom DGB, Stadtkämmerer Max von Heckel … Der Saal ist voll, Beifall brandet auf, der Matador schreitet lächelnd durch die Stuhlreihen: Gefühl von Identifikation, Gemeinsamkeit, Stärke, Willy Brandt ist da.

Erwin Essl begrüßt den Vorsitzenden, Vertreter des Patentamts und der Bundeswehr, die lieben Genossen … Dann Willy Brandt: „Ich, wir, die Nord-Süd-Kommission, ich und UNO-Generalsekretär Waldheim. Nein, die Lage ist schlimm; es gibt wenig Lichtpunkte. Aber im Oktober begrenzter Gipfel: Lopez Portillo aus Mexiko und Kreisky mit Reagan – wir werden das in die Wege leiten (rechts hinter mir schläft ein junger Juso selig). Ich habe Wert darauf gelegt, dass die Weltbank keine müde Mark … (überall brave Gesichter, gläubige Gesichter, man macht Fotos vom Vorstandstisch, vom Redner). Und dann Eduardo Frei, Edvard Heath – das ist interessant-, und Olof Palme, ja, das sind wir, das bin ich, Willy Brandt. Nein, mitmenschliche Solidarität hilft uns nichts, wir müssen unsere verschiedenen Standpunkte annähern. Wie sichern wir das Überleben? Wir haben unendlich viel Raum, den Ärmsten Hilfe zu leisten … Infrastrukturvorhaben in Afrika …“

Am langen Tisch auf der Bühne lächelnde Buddhas, lächelnde Negerkinder, die mit dem Kopf nicken, wenn die Münze eingeworfen wird. Das dachte ich nicht, dass es das heute noch gibt: nicken, lächeln. Und Willy, braungebrannt, schlank, kein Rhetoriker, aber anhörbar auch von links nach rechts, rechts nach links:

„Ich habe vor großen Studentenversammlungen in Oxford und Southampton gesprochen, wir geben gute Verträge, aber langfristig gibt meine Kommission zu bedenken, dass langfristig aus Ölgeldern feste Summen für Entwicklungshilfe …, denn die internationale Gemeinschaft hat den armen Ländern zu helfen. Neben der Weltbank soll ein neues Institut entstehen, das dies finanziell ankurbelt. Um das Jahr 2000 sechs Milliarden Menschen, und eine Milliarde hat nichts zu essen. Wenn ich herumkomme in der Bundesrepublik und mit den Jungen spreche, dann finden sie es empörend; die Jungen spüren, dass künftige Arbeitsplätze abnehmen, und dass der Lebensstandard sinkt. Aber die Verflechtung unserer Industrie mit der 3. Welt sichert uns Arbeitsplätze. Die zukünftigen Entwicklungen werden uns neue Märkte erschließen. Wir werden Zeichen setzen, denn die Zeit der Diskussion ist knapp …“

Die Zeit der anschließenden Diskussion ist wirklich knapp. Zwei Frauen versuchen, auf Brandts Rede einzugehen. Die erste verfällt unvermutet in eine zusammenhanglose Polemik gegen Atomkraftgegner, die zweite, rhetorisch nicht sehr begabt, erwähnt Gewalttechnologien, Wachstumsideologie; das Auditorium ruft „Aufhören, aufhören!“ Willy Brandt antwortet, dass Wachstumsideologie ein Reizwort sei, dass Nullwachstum in Wirklichkeit Rückschritt bedeute, und dass Saudi-Arabien viel Geld habe („die dortige Gesellschaftsordnung da ist uns wurscht, denn die reine Lehre allein trägt nicht!“), und dass noch mehr Elemente sozialer Gerechtigkeit nur dann möglich, wenn wirtschaftliches Wachstum …

Aber leider muss die Diskussion jetzt abgebrochen werden, denn unser Willy Brandt hat heute Abend noch eine Veranstaltung und ist sowieso schon spät dran, sagt Erwin Essl, faszinierend, aber er muss heute noch woanders sprechen, und deshalb muss er gehen, ganz schnell. Und die Figuren am langen Tisch sitzen immer noch stumm und tun mir leid. Ob der Heckel gerade denkt, er habe Zeit verloren? Ob überhaupt einer von denen denkt?

Brandt also, der Manager muss gehen, und deshalb noch schnell das Geschenk, den Zinnkrug (alt mit Expertise), schnell ein paar Fotos: Brandt mit erhobenem Zinnkrug, schnell noch ein paar Autogramme, und der Matador verlässt – tosender Applaus – verlässt die Arena. Es ist genau 21 Uhr, ein angebrochener Abend für Willy und mich, und für mich ein paar zerstörte Illusionen mehr.

Nein, ich will, ich wollte nichts Negatives schreiben. Ich sage mir, der Willy Brandt ist auch ein Produkt, hat keine Chance, gegen den herrschenden Wahnsinn zu reden, und so ist er zu einer Schablone seiner selbst geworden: eine gutwillige Vaterfigur, ein Märchenonkel, ein Vertreter des Menschlichen. Zynisch ist er bestimmt nicht geworden, aber was dann? Für diesen Brandt haben wir einmal Initiativen gegründet vor mehr als zehn Jahren. In diesen integren Sozialisten haben wir Hoffnungen gesetzt.

Ich denke mir, was mir ein Freund erzählt hat, ein Juso   (und das ist wie diese ganze Geschichte kein Schmäh, sondern wirklich!): Die lassen uns werkeln, die da oben in der Partei, lassen uns Filme drehen über Müllverbrennungsanlagen, kommunale Probleme durchhecheln bis zum Schlusswort, wir können uns da so engagieren, dass uns am Schluss die Luft wegbleibt. Und dann lassen sie uns auflaufen und machen doch etwas anderes. Wir Jusos, wir sind schon nützliche Idioten.

Günther


Münchner Zeitung 11 vom Juni/Juli 1981, 3.

Überraschung

Jahr: 1981
Bereich: Internationales

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