Materialien 1982

Von wegen „Kulturwüste“ ...

„Anstand, Ordnung und Sauberkeit …“

Davon träumen viele. Nur manche meinen’s halt besonders gut, – z.B. Obersaubermann Peter Gauweiler (bitte nicht immer mit „Gauleiter“ verwechseln!), der neue Referent des CSU-gesinnten Ordnungsamtes. Schon vor Amtsantritt sah man den guten Mann des öfteren durch die Fußgän-
gerzone Münchens ziehen, väterlich-fürsorglich bemüht, die untragbaren Zustände dort tragbar zu machen. Und mit welch’ strahlender Autorität und Überzeugungskraft! – Ein Fingerzeig genügte und die Penner und deren Artverwandte, die Straßenkünstler, wurden vom „Freund und Helfer“ abgeführt …

Tja, was damals noch sein liebstes Hobby war, wurde schließlich sein Beruf, eine wahre Berufung -, und aus dem Beruf eine steile Karriere. Heute sitzt er auf seinem Thron und ordnet die Flut der Danksagungen, die ihm glückliche Bürger ob der endlich eingekehrten Ordnung und Sauberkeit zukommen lassen. Er freut sich über jeden Brief und kann es kaum erwarten, auch von Euch mal was zu hören … Und Ihr habt ihm wirklich noch nicht geschrieben? Noch nicht mal einen Reini-gungsantrag gestellt? Na, dann mal ran! Schreibt ihm alle, wie glücklich Ihr seid und wenn Ihr’s noch nicht seid, geht einfach durch die Fußgängerzone und werdet es beim Anblick dieser Reine (ein „reines Herz“ …): Keine Penner mehr, kein Gestank, kein Alkohol, keine lärmbelästigenden Gammler, die ohne Erlaubnis stundenlang und steuerfrei spielen und vielleicht sogar Protestlieder dazu singen; keine Ferkel, die die Plätze mit Kreide beschmieren; keine Gaukler, keine Bettler, keine Arbeitsfaulen … Rundum ein friedliches Plätzchen, auf dem Ihr in Ruhe spazieren gehen könnt. Und endlich kann man wieder ungestört seine Einkäufe erledigen.

- Ach ja, was das anbelangt, solltet Ihr Euch natürlich auch bei der „Initiative Fußgängerzone“ be-danken; dies ist ein mutiger und selbstloser Verein, der sich aus lauter Geschäftsinhabern oder -führern oder Angestellten mit Aufstiegschancen oder sonstigen wohlhabenden und wohlwollen-den Naturellen zusammensetzt, welche es sich zur Aufgabe gemacht haben, „erträgliche Formen und Zustände“ in der Fußgängerzone wiedereinkehren zu 1assen. -

Das war ja auch ein wahrhaft unerträglicher Zustand damals, vor dem Juni 1982, als Straßenmusi-
ker mit ihrem Gebrüll die Leute „vom eigentlichen Zweck des Konsumierens“ ablenken durften! Nun ist das andere geregelt: Dank zahlreicher Beschwerden und Gerichtsverhandlungen unserer aktiven Initiative ist es gelungen, das Angebot an Straßenkünstlern auf ein Minimum zu reduzie-
ren: Zehn dürfen noch auftreten, im gesamten Fußgängerzonenbereich der Altstadt. Doch ging man noch subtiler vor: Dadurch, dass so ein Typ nur noch 1 x pro Woche sein Zeug bringen darf und er zuvor noch Riesenentfernungen (Hähähä …) überbrücken muss, um sich seine Spielgeneh-
migung abzuholen (im Baureferat!), verliert er nämlich, nach tiefenpsychologischer Betrachtungs-
weise, die Lust an allem und bleibt lieber zuhause (oder geht endlich zum Arbeiten!) … Und so kommt es, dass am Tag nur etwa 3 – 4 Lizenzierte (im Ø) entstehen (Die Unlizenzierten werden abgeführt …). Und wenn die 3 – 4 Lizenzierten also auftreten und z.B. musizieren und Liederchen trällern, dann machen sie das hübsch leise und mit Anstand (ohne Verstärker und am besten ohne Instrument), damit sie die Schlager- und Jodlermusik, die aus den Lautsprecheranlagen der Ge-
schäfte dröhnt, nicht stören, denn die soll ja, in Form von Platten und Cassetten, gekauft werden …

Und nach einer Stunde müssen sie sich ein neues Plätzchen suchen, damit die Arbeitnehmer in der Fußgängerzone vor „Monotonie am Arbeitsplatz“ bewahrt werden (Falls über die geschäftsinterne Musikberieselung hinaus, sich zufällig ein paar Töne von der Straße ins Büro verirren sollten.)

Wer schützt ’nen Lehrling bei BMW vor Lärm am Arbeitsplatz? (Die Red.)

Tja, ganz früher, vor 15 Jahren, als da noch eine große Straße für Autos an den Geschäften vorbei lief, haben die Initiativler Fußgängerzone (als sie ihre Initiative selber noch nicht kannten) ihren armen, lärmbedrohten Angestellten einfach nicht zu helfen gewusst, da man den Autoverkehr – trotz hoher Steuern – nicht hatte bremsen können; aber jetzt, im Paradies der Fußgänger, ist es gelungen, dieses Problem besser in den Griff zu bekommen, denn Fußgänger gehen ja nur deshalb zu Fuß, weil sie zum Einkaufen in die Geschäfte strömen müssen und das geht ja nur unmotori-
siert. Eine tolle Sache, so ’ne Fußgängerzone! Und da sagen Sie nur nicht, die Fußgängerzone solle auch ein Ort der „Kommunikation“, des Gedanken- und Meinungsaustausches sein und so ’nen Blödsinn! Kommunikation hat man doch zuhause schon genug, mit Familie und Fernseher und allem … Und wenn man mal was neues kennenlernen will, kann man ja in die nächste Kneipe ge-
hen … Aber doch nicht in die Fußgängerzone! Die ist für ALLE da und ALLE wollen kaufen! Und Meinungen braucht man ja wirklich nicht auszutauschen; entweder, man hat eine oder man wird nie eine haben! So ist es doch, oder? Oder nicht? -

Falls Ihr noch nicht überzeugt seid und überhaupt nie überzeugt sein werdet und vielleicht sogar mit diesem „Lumpenvolk“, diesen Anarchisten und Staatsfeinden, diesen Arbeitsfaulen, Gamm-
lern, Nutznichtsen sympathisieren solltet, dann steht auch dazu: Rafft Euch auf und tut was! Noch hat es nämlich Sinn, sich gegen die Lizenzenregelung zu wehren, da erst am 6. Dezember der Stadtrat endgültig über deren Sinn und Erhaltung entscheiden wird. Falls Ihr Ideen oder Anregun-
gen haben solltet oder gar Eure Hilfe anbieten wollt, hier unsere Kontaktadresse:

Evelyn Wirth, Heßstraße 7, 8 München 40, Tel. 195977

Wir sind ein Aktionsbündnis, das sich „Initiative für freies Musizieren in der Fußgängerzone“ nennt und das sich aus Schülern und Studenten zusammenwürfelt.

Neben Aktivitäten, die der Information dienen, führen, wir auch eine Unterschriftensammlung durch, und da wir für diese 10.000 Unterschriften ergattern wollen, sind wir über jeden froh, der

- erstens, seine Unterschrift gibt und

- zweitens, bei der Sammlung hilft.

Also rührt Euch, solang’s noch geht!

Mit unzensierten Grüßen
i.A. Evelyn


Der Spion 10 vom November 1982, 7 ff.

Überraschung

Jahr: 1982
Bereich: Lebensart

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