Flusslandschaft 1982

Lebensart

Straßenmusikanten protestieren am 1. Juni gegen Einschränkungen ihrer Auftrittsmöglichkeiten in der Fußgängerzone.1 — Am 2. Juli demonstrieren sie vor dem Jagdmuseum gegen die Fußgänger-zonen-Satzung. Auf Transparenten steht „Freiheit für Straßenmusik“ und „Stoppt Gauweiler“.2 — Am 14. Oktober kommt es auf dem Marienplatz zu Protesten gegen die Einschränkungen der Stra-ßenmusik.3 Eine „Initiative für freies Musizieren in der Fußgängerzone“ sammelt Unterschriften.4

Prüde Mitbürgerinnen und Mitbürger sind entsetzt: München erlässt eine „Nacktbadeverordnung“ für sechs offizielle FKK-Gebiete, darunter die Schönfeldwiese im Englischen Garten. Die Nackten im Englischen Garten werden zu einer Touristenattraktion.

Schon immer heißt es, in dieser Stadt gäbe es Männer, durchaus auch einige Frauen, die gewöhn-
lich grantig raunzend und räsonierend hinter einer Maß Bier hockend über Gott und die Welt vom Leder ziehen. Ändern tun sie nichts. Im Gegenteil. Einer aber – nicht ganz dem Zerrbild entspre-
chend – geht ins Kino und wird so Vorbild für eine literarische Figur. Joseph von Westphalen be-
sucht eine Filmvorführung im Leopold-Kino und erinnert sich später an den Anstoß zur Schöpfung seines hinreißenden Harry von Duckwitz5: „… Früh dran, es war noch hell, und diese idiotische Musik. In der ersten Reihe saß, vielleicht angetrunken, zumindest erheblich enthemmt oder auch etwas verwirrt, jener Herr: ein bisschen unordentlich und zerlumpt, möglicherweise asozial, viel-
leicht aber auch vornehm, sehr elegant, offener Mantel, Schal um den Hals, schräg im Sitz, die Beine weit von sich übereinandergeschlagen. Dunkler Wuschelkopf, nur das hintere Halbprofil erkennbar. Eine eindrucksvolle Erscheinung. Er wäre dennoch kaum aufgefallen, wenn er nicht schon während der Säuselmusik sympathisch-ungehalten vor sich hingemurrt hätte. Als die Wer-
befilme abgespielt wurden, steigerte sich sein Murren, und einzelne Worte waren herauszuhören: ,Alles Quatsch!‘ ,Dummes Zeug!‘ Der Gentleman hatte eine schöne Stimme, nicht laut, aber tra-
gend und gut vernehmlich. Kein soldatisches Befehlsgeschrei, sondern zivile Rufe, exakt an der richtigen Stelle. Als die Vorankündigungs-Filmausschnitte liefen, wurde er noch prägnanter, seine Kommentare noch schwungvoller, souverän und unüberhörbar. Tauchte eine Figur bedeutungsvoll im Bild auf, rief er ‚Hau ab!‘ und siehe, die Figur haute ab. Fing eine andere Figur an, irgendwel-
chen Hollywoodblödsinn von sich zu geben, sagte er ‚Halt’s Maul!‘ und siehe, die Figur hielt ihr Maul. Jeder Ruf eine knallende Ohrfeige. Es war, als ob dieser wunderbare Mann die Handlung der Filmausschnitte unter Kontrolle hatte. Er verjagte die Figuren von der Bildfläche, er brachte sie zum Schweigen, nicht hysterisch zeternd, sondern sonor, gelassen, überzeugend und von grandio-
ser Unduldsamkeit. Widerspruch zwecklos. – Die Leute im Kino aßen Pfefferminz und Gummibär-
chen und begriffen nicht, dass hier Großartiges geschah. Es war keine Vision. Ich habe eine Zeugin. Ich war mit meiner Frau im Kino, und uns beiden war sehr schnell klar: dies war Duckwitz. ‚Zisch ab, dumme Sau!‘ sagte er und verjagte wieder eine Null von der Leinwand. Dann stand er auf, ver-
schwand und kam nicht mehr wieder. – Dieser Mann beherrschte perfekt die Kunst, missliebigen Gestalten Verwünschungen imposant entgegenzuschleudern. Ich habe Duckwitz mit dieser Fähig-
keit ausgestattet, und in vielen meiner Texte bemühe ich mich seither selbst, diesen Ton zu treffen. Die Theorien bezüglich der Hohen Schule der Verunglimpfung, die ich Duckwitz in der Reportage zu nächtlicher Stunde entwickeln lasse, waren der Anfang meiner eigenen Überlegungen in dieser Richtung …“6

Vieles, was nach 1945 aus den USA zu uns herüberschwappte, war erfrischend neu und wurde be-
geistert adaptiert. Erkenntnisse über den US-Imperialismus trübten in den folgenden Jahren die Empfindungen. Mit einer neuen Kapitalismuskritik rückte nach 1968 auch das Mutterland des Kapitalismus in den Focus. Von dieser Kritik kann der Weg auch zu einer Position der kulturellen Überfremdung Deutschlands durch den us-amerikanischen Kulturimperialismus führen. Rüdiger hat diese Konnotation vermieden.7

(zuletzt geändert am 28.8.2020)


1 Vgl. Süddeutsche Zeitung 124/1982.

2 Vgl. Abendzeitung 149 vom 3./4.Juli 1982, 21; siehe „Meister Gauweiler putzt so sauber, dass man sich drin spiegeln kann“.

3 Vgl. Süddeutsche Zeitung 238/1982.

4 Siehe „Von wegen ‚Kulturwüste’ …“ von Evelyn Wirth.

5 Siehe Joseph von Westphalen, Im diplomatischen Dienst, Hamburg 1991.

6 Joseph von Westphalen, Moderne Zeiten. Blätter zur Pflege der Urteilskraft 1981 — 1989. 1. Folge, Zürich 1989, 307 f.

7 Siehe Rüdigers „Little Big Mac ist tot“.