Flusslandschaft 1962

Alternative Szene

1947 erschien in Amsterdam die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor
W. Adorno. Seit Anfang der 60er Jahre finden sich Raubdrucke, die nicht nur in den Kreisen der Studierenden rezipiert werden. Die „Dialektik der Aufklärung“ beschreibt unter anderem illusions-
los, wie kommerzielle Vermarktung jeden Inhalt zur gleich gültigen Ware werden lässt und „Auf-
klärung als Massenbetrug“ generiert. Weitere Veröffentlichungen der Frankfurter Schule begrün-
den ein theoretisches Gerüst für die ersten Zirkel einer alternativen Subkultur.1

Um den blinden, schwerkriegsbeschädigten Rolf Gramke, der über außerordentliche Kenntnisse
in Politologie und Soziologie verfügt und sich auch in Psychologie und Psychoanalyse2 auskennt, sammeln sich in München in der Subversiven Aktion Hans Schneider (später Revolutionärer Kampf Frankfurt), Ulrich Enzensberger (späteres Mitglied der Kommune I in Berlin), W.P. Schmidt, Dieter Kunzelmann, Christofer Baldeney, Rudophe Gasche, Frank Böckelmann, Günter Maschke u.a. 1962/63 entsteht ein Ableger der Subversiven Aktion in Berlin. Viele ihrer Mitglieder bilden später den antiautoritären Flügel im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). „Diese Gruppe … trat mit dem Ziel an, aus den theoretischen Einsichten Marcuses und der Frank-
furter Schule praktische Konsequenzen zu ziehen. Sie versuchte Organisation und Praxis in einem zu lösen, Resultat war die ‚Kohorte’. … Ihr Programm forderte eine Gemeinschaft von Individuen, die in der Lage wäre, an und in sich selber allen Möglichkeiten des Menschlichen Raum zu schaf-
fen. … Die ‚Kohorte’ zerbrach an ihren eigenen Schwierigkeiten, einige ihrer Mitglieder fielen zurück in ihre private Existenz, andere emigrierten nach Berlin.“3

„Zu einem Bruderzwist kam es bei der Berufungsverhandlung gegen Mitglieder der Münchner Künstlergruppe Spur, die wegen ‚Gotteslästerung’ und ‚Verbreitung unzüchtiger Schriften’ in einem ihrer Manifeste von der bayrischen Justiz zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Nachdem die Gruppenmitglieder Kunzelmann und Zimmer am Vorabend der Verhandlung Flug-
blätter verteilen ließen, in denen gefordert wurde, dass der Künstler, ‚seine Pornographie nicht mehr als Kunst drapieren sollte’, legte Anwalt Dr. Kreile ihre Verteidigung nieder und kämpfte nur noch um das Gruppenmitglied Heimrad Prem. Deutsche Spitzenkritiker wie Walter Jens, Joachim Kaiser und Werner Haftmann hatten in Gutachten ausdrücklich den Kunstwert der inkriminierten Schriften hervorgehoben, so dass der pornographische Trotz von Kunzelmann-Zimmer als Dolch-
stoß gegen die Verteidigung und die übrigen Gruppenmitglieder wirken musste. Die deutsche Justiz setzte sich über den Künstlerstreit hinweg: Kunzelmann, Prem und Zimmer wurden zu je fünf Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt.“4 Siehe auch „Kunst/Kultur“.


1 Siehe „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.

2 Gramke hat u.a. engen Kontakt zum Psychotherapeuten Hanscarl Leuner, der an der Uni Göttingen lehrt. Gramke berät ihn ad hoc per Telefon gelegentlich in schwierigen Psycholyse-Sitzungen. In der psycholytischen Psychotherapie werden psychotrope Substanzen eingesetzt, die die Abwehr lockern und so ein besserer Zugang zu unbewußtem Material, zu verdrängten Gefühlen und verborgenen Fähigkeiten ermöglichen. Psycholytische, die Seele lösende, oder psychedelische, das Bewußtsein erweiternde bzw. den Geist offenbarende Stoffe sind z.B. LSD, Mescalin und Ecstasy. Das Standardwerk dazu: Hanscarl Leuner, Halluzinogene. Psychische Grenzzustände in Forschung und Psychotherapie, Bern 1981. Gramke ist damit auch ein Mitstreiter – Ausweitung der Wahrnehmung des eigenen Unbewussten und des politischen Bewusstseins über den Weg der Bearbeitung persönlicher Probleme – in der damaligen deutschen Psycholysebewegung der 60-er und folgenden Jahre. Bis heute, 2014, wird die Psycholyse mit halbwahren oder falschen Informationen diffamiert und tabui-
siert. Das Dilemma begann mit der juristischen Einordnung der Psychodelica unter das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), indem die damalige BRD in pflichtschuldigstem Gehorsam dem internationalen Abkommen über psychotrope Substanzen beitrat statt eigene intelligentere Handhabungsgesetze zu entwickeln. Psychodelica sind nämlich alles andere als Betäu-
bungsmittel.Die neueste seriöse Zusammenfassung der internationalen Psycholyse-Literatur findet sich bei Henrik Jung-
haberle, Peter Gasser, Jan Weinhold, Rolf Verres (Hg.), Therapie mit psychoaktiven Substanzen. Praxis und Kritik der Psychotherapie mit LSD, Psilocybin und MDMA, Bern 2008.

3 SDS-Korrespondenz 6, Frankfurt, 1967, 3 f.; siehe Frank Böckelmann/Herbert Nagel (Hg.), Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Frankfurt am Main 1976; siehe „Subversive Aktion“.

4 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 17/18 vom Dezember 1962, unpag.