Materialien 1982

Alles verboten

Hausverbot für Netzwerk Psychiatrie

München (taz) – Seit seiner zweiten Ausgabe ist die Verteilung der Psychiatriezeitung „Türspalt“ im Bezirkskrankenhaus (BKH) Haar bei München verboten. Auch die Verteilung der „Unbeque-
men Nachrichten“, einem Informationsblatt des „Beschwerdezentrums Psychiatrie“ ist inzwi-
schen untersagt. Aber nicht nur das: nun ist auch die Kritik an diesen Verboten untersagt. Mit-
glieder/innen des Netzwerks Psychiatrie, die in Haar eine Flugblattaktion gemacht hatten, in der sie gegen die Verbote und ihre „Rechts“grundlage protestierten, bekamen Anzeigen wegen Haus-
friedensbruch und Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung.

Vor einem Jahr berichteten wir in der taz (24.6.81) über das Verbot des „Türspalts“ in Haar. Nach-
dem er zuerst von Direktoren des BKH in Haar, Dr. Schulz, und der Uni-Nervenklinik, Prof. Dr. Hippius, kommentarlos eingezogen worden war, war man dazu übergegangen, Patienten/innen, die den „Türspalt“ lesen, durch Drohungen unter Druck zu setzen. Abos wurden von der Kliniklei-
tung mit dem Vermerk „Annahme verweigert“ zurückgeschickt oder von den Insassen/innen aus Angst gekündigt. Proteste des „Schutzbundes für Untergebrachte in Nervenkliniken“ (SUN) gegen den „rechtsfreien Raum“ in den Anstalten verhallten ebenso ungehört wie Anfragen im Landtag. Die Situation hat sich im Gegenteil noch verschärft. In Haar wurde das Personal mit Disziplinar-
strafen bedroht. Mit dem Hinweis auf die Treuepflicht wurde in einem Schreiben der Direktion die Verteilung des „Türspalts“ als Verstoß gegen den Dienstvertrag gewertet, der sofortige Kündigung zur Folge haben könne. Das „Beschwerdezentrum Psychiatrie“ (BZ) wartet noch heute auf die Ge-
nehmigung, Flugblätter auf dem Klinikgelände verteilen zu dürfen. Umso schneller reagierte dafür die Staatsanwaltschaft: aufgrund einer Anzeige des BZ in der Stadtzeitung „Blatt“ wurde ein Ord-
nungsrechtsverfahren wegen Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz eingeleite.

Das Münchner Netzwerk Psychiatrie, ein Zusammenschluss mehrerer Münchner Gruppen (z.B. Therapeutischer Club, Rote Hilfe, AG Psychologie u.a.) wollte diese totale Informationssperre durchbrechen. Sie berichten über ihre Aktion am 13. Juni (Vorabdruck aus „Türspalt“ 2/82)

„Uns geht diese Nervenheilanstalt auf die Nerven! Zu dieser Friedhofsruhe gehört ein ganzes Arse-
nal von Pharmaka, das die Menschen körperlich so fertig macht, dass sie gar keine Kraft mehr für etwas anderes haben. Hierzu gehört das brutalste ‚Unterbringungsgesetz’ der bisherigen Geschich-
te und ein Hausrecht, das dem Klinikleiter praktisch alles ermöglicht in der Disziplinierung von jeder Unruhe und in der Sperre von jedem Kontakt und in der Verhinderung von jeder Information … Deshalb mussten wir etwas tun. Wir haben ein Flugblatt gemacht, dazu eine Liste aller Münch-
ner Laiengruppen und sind reingegangen.

Im Café von Haar haben wir die Flugblätter auf den Tisch gelegt. Die meisten haben es sofort gele-
sen, zusammengefaltet und sofort eingesteckt. Wir haben es an die Wände der Räume gehängt, an die Garagen, an die Haustür, haben es durch vergitterte Fenster geworfen und haben denen, die wir erreichen konnten, den ‚Türspalt’ geschenkt. Einige Insassen halfen uns sofort an die richtigen Stellen, an die offenen Haustüren zu kommen. Bei den ‚Geschlossenen’ schoben wir es unter den Türen durch. Es war mal ganz kurz was los in Haar … Dann war’s soweit: Die Direktion trat an. Dr. Rainer, der Chef vom Dienst, zusammen mit Oberpfleger Mayer, kam im echt bayerischen Loden-
mantel auf uns zu. Er wollte sofort unsere Adressen wissen. Wir gaben ihm die Listen der Münch-
ner Laiengruppen, an die er sich gerne wenden könnte, wenn er sich mal allein fühlt. Und plötzlich gab es auch Verkehr in Haar. Zwei Polizeiwagen hielten vor uns. Dr. Rainer sagte, wir sollten sofort das Gelände verlassen, weil das sonst ‚Hausfriedensbruch’ sei. Die Polizei nahm uns vorläufig fest und hinderte uns daran zu gehen … Zehn Tage später hatten wir eine Anzeige wegen ‚Hausfrie-
densbruch und das Durchführen einer nicht angemeldeten Versammlung’.“

Bei zehn Anzeigen sind inzwischen die Ermittlungen aufgenommen worden. Drei Wochen später erteilte das BZ in Haar Flugblätter, in denen die Patienten/innen über die Vorfälle bei der ersten Aktion informiert wurden. Es kam diesmal zu keinen weiteren Zwischenfallen, da die Verteiler/-
innen wieder verschwanden, als sie alle Flugblätter verteilt hatten.

Diese Aktionen waren bei anderen Psychiatriegruppen nicht unumstritten. Man warf dem Netz-
werk Psychiatrie vor, dass es naiver Aktionismus sei, in Haar durch ein Flugblatt etwas erreichen zu wollen, dass die Patienten darunter leiden könnten, und dass es für die eigene Kasse nicht gut sei, wenn man mitmacht, weil dann die Gefahr bestünde, dass man von der Stadt oder dem Bezirk nichts mehr kriegt. Die Post, die das Netzwerk Psychiatrie inzwischen bekommen hat, gibt ihnen jedoch recht, viele Insassen haben schon geschrieben, zudem haben sie jetzt eine Adressenliste, mit deren Hilfe sie Kontakt aufnehmen können. Die Vorgänge lösten auch bei den Schwestern und Pflegern und dem ärztlichen Personal heftige Diskussionen aus. Eine Teilnehmerin sagte uns dazu: „Ich kann mich in meiner langen Geschichte nicht erinnern, dass ein Flugblatt so begierig aufge-
nommen worden ist. Die Insassen haben uns die Blätter förmlich aus der Hand gerissen und sich bedankt. Diese Aktion wird nicht die einzige bleiben, da können auch die Versuche, Leute, die sich nicht ins Versorgungssystem einpassen lassen, zu kriminalisieren, nichts ändern. Und die Angst, die die Gesundheitsverwalter hier haben, ist nicht unberechtigt. Schließlich handelt es sich nicht um eine vereinzelte Aktion, sondern um kontinuierlich arbeitende Gruppen, die die innere und äußere Isolation in der Psychiatrie durchbrechen können.“

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Netzwerk Psychiatrie, Postfach 46, 8 München 65, Tel.: 089/ 53 43 74 (Mo. 14 – 18 Uhr), jeden
3. Mo. im Monat Diskussionstreff: 20 Uhr, Kidlerstr. 18, 8 München 70. Die Selbstdarstellung des Netzwerks Psychiatrie kann bei dieser Adresse angefordert werden.

Beschwerdezentrum Psychiatrie, Baaderstr. 49, 8 München 5, Tel.: 089/ 201 25 53
(Mo. – Fr. 16 – 22 Uhr)

„Türspalt“, Postfach 46, 8 München 65 (Insassen von Nervenkliniken können den „Türspalt“ kostenlos bestellen, andere für 5 Mark).

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Christa, taz-m


taz. Die Tageszeitung vom 26. Juli 1982.

Überraschung

Jahr: 1982
Bereich: Psychiatrie

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