Materialien 1983
Nach dem Zweiten Weltkrieg ...
begann dann Anfang der Fünfziger Jahre der große Boom für München, vor allem durch die Teilung Deutschlands und die Verlegung von zahlreichen Betrieben aus dem Osten und aus Berlin nach München (zum Beispiel Siemens).
Während München 1950 noch an 14. Stelle unter den größten Industriestädten der BRD lag, rückte es 1953 bereits auf Platz 9 vor und hatte 1963 den 3. Platz erreicht. Von 1950 bis 1970 verdoppelten sich in der Stadt die Arbeitsplätze, und 1970 konnte München die höchste industrielle Wachstumsrate und die höchste Bevölkerungszunahme in der BRD verzeichnen.
Daraus resultierten zunehmende Verwaltungsaufgaben, ein steigender Bedarf an Dienstleistungen sowie eine überproportionale Zunahme im Bereich Banken und Versicherungen. Dieser so genannte „tertiäre Sektor“ nistete sich vor allem in der City und ihrer unmittelbaren Umgebung ein. U- und S-Bahn sorgten noch für eine bessere Anbindung und die Einrichtung der Fußgängerzone diente in erster Linie dem Einzelhandel. Die Folgen davon: Die Bodenpreise in der City stiegen von 1950 bis 1970 um 1.220 Prozent, in Schwabing und Bogenhausen sogar um 2.400 Prozent.
Doch ab 1970 ging es so langsam bergab. Nach einer kurzen Stagnation bis etwa 1972 ist seit 1974 ein Rückgang der Bevölkerung zu verzeichnen und verstärkt durch die allgemeine Krisenentwicklung mussten allein von 1973 bis 1974 vierhundert Firmen ihren Konkurs anmelden, die Arbeitslosenquote stieg im gleichen Zeitraum um cirka hundertfünfzig Prozent.
Aber auch sonst stinkt es so ziemlich überall in der Stadt. Im wahrsten Sinne des Wortes im Norden, wo die Chemischen Werke Bärlocher die Luft verpesteten und bildlich gemeint im Osten, wo in der Nervenheilanstalt Haar Kinder ans Bett gefesselt werden. Kinderfeindlich ist man auch in Schwabing, wo auf Beschluss der Universitätsverwaltung die Miete für den Unikindergarten um 1.100 (in Worten: elfhundert!) Prozent angehoben werden sollte, um die Kinder aus dem Leopoldpark zu vertreiben. Die „tz“ nannte das schlicht Mietwucher. Kinderfeindlich ist auch die Haltung der Stadtverwaltung in den kinderreichen Arbeitervierteln, wo Spielplätze, Kindergärten, Freizeitheime und Schulen fehlen. In Milbertshofen, einem der bevölkerungsreichsten Stadtteile, gibt es zum Beispiel kein einziges Gymnasium.
Dafür werden die Reichen in der Stadt immer reicher und überall schießen wie Pilze Nobel-Hotels, Luxusrestaurants und Nachtlokal aus dem Boden, in denen sich die Schickeria aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Justiz vergnügt. Dafür werden dann die gewachsenen Wohnviertel, in denen es noch so etwas wie menschliche Kommunikation gibt, zerstört: das Lehel, die Maxvorstadt, Haidhausen und das Westend.
Die Stadt, der Hitler den Ehrennamen „Hauptstadt der Bewegung“ verlieh und die früher als Ordnungszelle des Reiches galt, lebt noch heute in dieser Tradition. Einstmals hatte Heinrich Himmler seine Kumpane aus der Ettstraße nach Berlin geholt und mit ihnen die Gestapo aufgebaut. Heute ist das Landeskriminalamt im der Maillingerstraße mit einem Jahresetat von 32 Millionen Mark und siebenhundertachtunddreißig Mitarbeitern ein Amt der Superlative und besitzt die größte und modernste kriminaltechnische Abteilung in der BRD, in der unter anderem die Fingerabdrücke von mehr als achthunderttausend Personen aufbewahrt werden.
In keiner Stadt der BRD ist die Präsenz der Polizei so offenkundig und wirkt so provozierend wie hier. In keiner Stadt wird man so oft von Ausweiskontrollen belästigt wie in München, wer nachts durch die Stadt geht, wird von jeder Funkstreife argwöhnisch gemustert und meistens kontrolliert. Nirgends ist die Überwachung und die Kontrolle der Bürger so perfekt, die elektronische Datenverwertung so weit fortgeschritten, wie in dieser „Weltstadt mit Herz“.
Das Münchner Klima aus Law-and-Order-Fanatismus und kleinbürgerlichem Untertanengeist prägt auch die Münchner Justiz. Nur hier ist es möglich, dass das NSDAP-Mitglied der ersten Stunde und Angehöriger der Waffen-SS, Karl Friedrich Stempel, der heute der rechtsradikalen Organisation „Aktion Widerstand“ angehört, Richter am Obersten Bayerischen Landesgericht werden konnte, während die Sozialdemokratin Charlotte Nieß nicht zum unteren Justizdienst zugelassen wurde. Nur hier in München ist es möglich, dass drei Menschen lediglich wegen Klebens von Plakaten in Haft genommen werden, während der amerikanische Vietnam-Recke Barry Meeker, der Menschen für Geld aus der CSSR schmuggelte, freigesprochen wird. Nur hier in München kann es zu so spektakulären Polizeiaktionen kommen, wie die gegen das Blatt und den Trikont-Verlag. Nur hier in München ist es möglich, dass diese Repressionen von der Lokalpresse totgeschwiegen werden, denn die Verfilzung von Polizei und Presse ist in dieser Stadt fast schon widerwärtig.
Doch all diesem Widerwärtigen steht auch Hoffnungsvolles gegenüber: Menschen, die sich gegen diese Realität zur Wehr setzen, sei es nun in Bürgerinitiativen, die sich der Planungswillkür der Behörden und dem Profitstreben der Investoren nicht mehr beugen wollen, oder seien es Leute, die begonnen haben, dieser Realität eine andere gegenüberzusetzen. Diese andere wird oft als das „alternative München“ bezeichnet, „Münchner Szene“, oder auch „Münchner Subkultur“ oder „Gegenkultur“, und doch würde keiner dieser Begriffe sie richtig zu deuten vermögen, denn das Spektrum ist zu groß, zu vielgestaltig, zu differenziert, als dass man es in eine Schablone pressen könnte.
Der Kreis derer, die sich in der etablierten, wohl geordneten, geregelten und genormten Gesellschaft unserer Tage nicht mehr wohl fühlen und die nach neuen Lebens- und Gemeinschaftsformen suchen, ist größer als man allgemein annimmt. Er reicht von denen, die zwar noch innerhalb des Systems leben und arbeiten, aber das Unbehagen immer deutlicher verspüren und es zu artikulieren versuchen, über jene, die als bewusste oder unbewusste Verweigerer seit langem ausgestiegen sind, bis hin zu all jenen Gruppen und Individuen, die bereits Ansätze einer Gegengesellschaft oder Übergangsgesellschaft verwirklicht haben oder zu verwirklichen suchen. Sie alle haben ihre bestimmten Kneipen und Lokale, wo sie sich treffen, wo sie trinken, essen oder Musik hören; sie haben ihre Buchhandlungen, wo sie sich informieren und Erfahrungen austauschen, sie haben Läden und Werkstätten, wo sie billig einkaufen und auch mal miteinander reden können. Sie haben ihre bestimmten Viertel, in denen sie in Wohngemeinschaften leben und sie haben ihre Gruppen und Zentren, in denen sie versuchen, ihre Pläne und Vorstellungen zu verwirklichen, sei es auf dem Gebiet der Stadtteilarbeit, der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, der Knast- oder Betriebsarbeit.
Sie stellen in unserem System aus Automation, Statistiken, Datenverarbeitung, Wachstumsraten, Konsumzwang und Karrieredenken so etwas wie das Prinzip Hoffnung dar, die Sehnsucht nach einer besseren, menschlicheren Gesellschaft.
Peter Schult
Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 6 ff.