Materialien 1983
Osttimor
„Sie sind überall ringsherum um den Flughafen und in Dili. Bitte helft uns! Sie töten, ohne einen Unterschied zu machen. Sie schleppen Menschen, die sich in die Kirchen flüchten, auf die Straßen. Wir werden alle ermordet! S O S! Unternehmt etwas! Helft uns …!“
Diese letzten Funksprüche, die das australische Festland aus der osttimoresischen Hauptstadt Dili am 7. Dezember 1975 erreichten, signalisierten den Beginn einer Katastrophe, die in zweierlei Hin-
sicht beispiellos war: Darin, wie eine Großmacht ein kleines Volk innerhalb von wenigen Jahren um 25 Prozent dezimieren konnte, ohne dass eine größere Öffentlichkeit diesen Massenmord auch nur zur Kenntnis genommen hätte, und darin, wie der sogenannte „freie Westen“, der selbst-
ernannte Weltpolizist, die Massenmörder politisch, wirtschaftlich und militärisch unterstützen konnte, ohne dabei irgendwelche Empörung hervorzurufen; schließlich gehört Osttimor nicht zu den weltpolitischen Favoriten der „Solidaritätsbewegung“.
Osttimor, eine kleine Insel zwischen Indonesien und Australien gelegen, war von Beginn des 19. Jahrhundert an portugiesische Kolonie, bis die stärkste der osttimoresischen Unabhängigkeits-
bewegungen, die sozialistische FRETILIN, am 28. November 1975 die „Demokratische Republik Osttimor" ausrief.
Das mächtige Indonesien hatte bereits Ansprüche auf die Insel angemeldet. Die Durchsetzung dieser Ansprüche begann am 7. Dezember, als indonesische Fallschirmspringer und Marine-
infanteristen in Dili landeten.
Um den Unabhängigkeitswillen der Osttimoresen zu brechen, scheuten die indonesischen Militärs vor keiner Grausamkeit zurück. Innerhalb der ersten Wochen fielen nach Schätzungen etwa 60.000 Menschen dem indonesischen Terror zum Opfer. Langfristig verfolgten die Besatzer die Taktik, die Widerstandsmoral der Bevölkerung durch eine totale Blockade der Insel bei gleichzei-
tigen Bombardements der Ernten im Landesinneren zu brechen. Die Folgen waren eine katastro-
phale Hungersnot sowie Epidemien, die ihren Höhepunkt 1979 und 1980 hatten. Insgesamt ver-
nichteten die Indonesier etwa 200.000 – 300.000 von ehemals 800.000 Osttimoresen.
Maßgeblichen Anteil an dem indonesischen „Erfolg“ kommt den Westmächten zugute, darunter der Bundesrepublik. Der damalige US-Präsident Ford sowie sein Außenminister, Friedensnobel-
preisträger Kissinger, befanden sich am Vorabend des Überfalls in Indonesien. Sie äußerten volles Verständnis für die „kommunistische Bedrohung“ des 140-Millionen-Einwohner-Staates durch 800.000 Osttimoresen und gaben grünes Licht für eine Invasion.
Weniger offensichtlich, wenn auch nicht weniger effektiv, unterstützte die Bundesregierung die Massenmörder. Bei der Verurteilung des Überfalls durch die Vereinten Nationen übte sie vorneh-
me Stimmenthaltung. Der ehemalige Staatsminister im Außenministerium, Mörsch, erklärte dazu, die Situation auf der Insel sei „noch sehr unklar und unübersichtlich“. Bis heute war das Auswärti-
ge Amt offensichtlich nicht in der Lage, sich gründlich zu informieren, denn noch immer enthält sich die Bundesrepublik bei der alljährlichen UN-Debatte, die ebenso regelmäßig wie folgenlos das Selbstbestimmungsrecht für die überfallene Insel fordert, der Stimme.
Weniger zurückhaltend zeigte sich die Bundesregierung bei der militärischen Unterstützung. Als die indonesische Marine Osttimor von der Außenwelt abschnitt, bat dieselbe Marine die Regierung Schmidt/Genscher um Lieferung von zwei U-Booten, die bei den Kieler Howaldt-Werken in Auf-
trag gehen sollten. Das sozialliberale Kabinett, zu dessen Lieblingsvokabeln das Wort „Friedens-
politik“ gehörte, stimmte dem Bau und der Lieferung mit einer Ausnahme (Matthöfer) 1977 zu. Es leistete damit nicht nur einen indirekten Beitrag zum Völkermord, sondern verstieß auch gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, das Waffenlieferungen zu Angriffszwecken untersagt. Ebenso verstieß das Kabinett gegen die eigenen, bis 1982 gültigen „Politischen Grundsätze der Bundes-
regierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“, nach denen keine Waffen in Spannungsgebiete geliefert werden dürfen.
Während der großen Hungersnot 1979/80 demonstrierte der „Unterausschuss für humanitäre Hilfe des deutschen Bundestages“, dass sein Name etwas verfehlt ist. „Unterausschuss für inhu-
manitäre Hilfsverweigerung“ träfe den Charakter besser. Der Ausschuss unter dem Vorsitz des derzeitigen Staatsministers im Auswärtigen Amt, Möllemann, verfügte über einen Etat von 20 Millionen DM zur humanitären Soforthilfe. Einer Kampagne der Gesellschaft für bedrohte Völker, des Komitees Notärzte (Schiff für Vietnam) sowie der Abgeordneten Erler, zumindest die Hälfte dieses Betrages für ein Osttimorprojekt zur Verfügung zu stellen – seit Ende 1979 wurden im bescheidenen Rahmen Projekte durchgeführt – begegnete das Auswärtige Amt als „Gutachter“
mit den üblichen Abwiegelungen, wie übertrieben die Hungermeldungen doch seien. Als auch konservative Zeitungen über die Leiden der Bevölkerung berichteten, konnten selbst Beamte des Auswärtigen Amtes die Hungermeldungen nicht länger als „Propaganda“ abtun. Um sich der Begehren nach humanitärer Soforthilfe entziehen zu können, deren Bereitstellung eine Aner-
kennung des indonesischen Terrors bedeutet hätte, schaltete das Auswärtige Amt bruchlos um: Die vormals gar nicht vorhandene Hungersnot hatte sich plötzlich erheblich gebessert; nicht zuletzt dank tatkräftiger deutscher Hilfeleistungen.
In einem Brief vom 7. März 1980 schrieb Bartels vom Auswärtigen Amt an die Gesellschaft für bedrohte Völker: „Wie Sie wissen, hatte die Bundesregierung wegen der gravierenden Hungersnot und der Krankheiten, unter denen die Bevölkerung von Osttimor litt, im vergangenen Jahr erheb-
liche Mittel zur Verfügung gestellt“. Diese erheblichen Mittel beliefen sich auf insgesamt 300.000 DM, für einen Hungernden 50 Pfennig oder für einen Verhungerten DM 1,50.
Verglichen mit dem Eintreten der Bundesregierung für das ebenfalls überfallene, wenn auch nicht annektierte Afghanistan könnte der Zynismus gegenüber Osttimor überraschen. Er verdeutlicht jedoch den Grundsatz der bundesdeutschen Außenpolitik. Außenpolitik hat die Aufgabe, der deut-
schen Wirtschaft für Absatz und Institutionen im Ausland optimale Bedingungen zu schaffen. Dazu gehören neben niedrigem Lohnniveau sowie Verbot von Gewerkschaftsarbeit und Streiks im Land selbst bilaterale freundschaftliche Beziehungen.
Im Falle Indonesiens bestehen diese Beziehungen nicht nur zwischen den beiden Staaten, sondern auch auf Bündnisebene, zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den ASEAN Staaten (Asso-
ciation of South-East Asian Nations). 1980 betrug der Wert der bundesdeutschen Exporte in das südostasiatische Land 685 Millionen Dollar, eine Steigerung von 48,3 Prozent gegenüber 1979. 1982 eröffnete Mercedes ein großes Montagewerk für DM 30 Millionen in der Nähe der Hauptstadt Djakarta, Siemens erhielt 1982 die Lizenz für die Errichtung von Digital-Telefonanlagen, die sich zur Überwachung der Bevölkerung bereits in Argentinien gut bewährt haben. Bei derartigen Ge-
winnmöglichkeiten stehen auch die Rüstungskonzerne nicht zurück. 1983 begann der Münchener Rüstungsfabrikant Messerschmitt-Bölkow-Blohm zusammen mit dem indonesischen Flugzeug-
werk Nurtania Hubschrauber vom Typ 235 zu produzieren. MBB beteiligt sich darüber hinaus intensiv am Technologietransfer.
Klemens Ludwig
links. Sozialistische Zeitung 164 vom November 1983, 23.