Materialien 1983
Eins meiner Photos
Franz Dobler
Ich weiß nicht, ob Kneipen die echte Schule des Lebens sind, aber auch ich musste einiges dort lernen. Für ein letztes Glas, das mir der Barmann nicht mehr geben wollte, ließ ich die Hosen runter und ihn meinen Schwanz anfassen. Ich rührte mich keinen Millimeter, als einer ausholte, um mir die Faust ins Gesicht zu schlagen. Und dieses Gefühl, wenn man besoffen in der Toilette aufwacht mit Blick auf die Unterseite eines Pissbeckens, das muss Scham sein. Oder das Mädchen, das durchs Lokal rief, ob sie sich zu mir an den Tisch setzen dürfte. Oder der Mann, der mir ungebeten ein paar Würfeltricks erklärte, bevor es zu spät war.
Keine großen Photos, und doch sind sie in meine Erinnerung eintätowiert, gleichwertig den Photos, die doch wichtiger sein sollten in diesem Reservoir, das für jeden so einzigartig ist wie sein Fingerabdruck und das sein Leben prägt. Der Mann neben mir an der Theke, dessen Gesicht bei mir einschlug. Als er merkte, dass ich ihn erkannt hatte, mich aber nicht traute, ihn anzusprechen, nickte er mir zu.
Drei Häuser weiter hatte ich endlich mein erstes Zimmer für mich allein ergattert, nachdem ich fast ein Jahr auf Sofas von Freunden oder bei miesen Vermietern untergekommen war, die in meinen Sachen schnüffelten. Dass ich die abgetakelten Möbel drin stehenlassen musste, machte mir nichts aus, und dass mein Zimmernachbar ein alter Säufer war, der einen Begleiter beim Sterben brauchte, merkte ich zu spät. Tag und Nacht rief er dann meinen Namen, und es half nichts, wenn ich mich schlafend stellte, und mehr als einmal war ich nackt und zog mich wieder an, im Bett eine Frau, die besser nicht auf meine Rückkehr gewartet hätte. Das Haus stand auf der besseren Seite von Schwabing, auf der linken vom Marienplatz aus gesehen, in einer kurzen schmalen Straße mit fünfstöckigen Häusern. In einem davon hatte Oskar Maria Graf eine Zeitlang gewohnt, und in einem Eckhaus zur Schellingstraße hin konnte man immer noch in Adolf Hitlers Lieblingsrestaurant seiner Münchner Zeit essen. Mein Zimmer war am anderen Ende der Straße. Wenige Schritte rechts von mir war meine Stammkneipe, eine Dartkneipe, wo öfters nach der Sperrstunde die Vorhänge zugezogen und die meisten Lampen ausgeschaltet wurden. Gleich links ums Eck war ein etwas feineres Bistro, in dem, so kommt mir heute vor, alle Frauen Blondinen waren, und schräg gegenüber von meinem Fenster war ein klassisches Rockmusiklokal, das von seinem alten Ruf zehrte. Ich ging hin, wenn ich die Gesichter in der Stammkneipe nicht sehen wollte.
Ich stellte mich an die Theke, um schneller ein Bier zu bekommen, und schaute mich um, und dann sah ich das Gesicht von dem Mann, der neben mir stand, allein, der Blick umherschweifend, ohne einen Bekannten hier zu haben und ohne auf jemanden zu warten. Das Gesicht schlug sofort in meinem Kopf ein.
Immer wieder starrte ich ihn an, bis ich endlich das Photo gefunden hatte: Er, im Eingang eines Flugzeugs stehend, ich glaube eine Pistole in der Hand, was aber vielleicht nur Wunschdenken ist, und einen vermittelnden Pfarrer neben sich. Sie hatten ihn und andere aus dem Gefängnis freigepresst. Sicher machte ich ein dummes Gesicht, bis ich ihn identifiziert hatte, und dann ein noch dümmeres, denn es war ganz unmöglich, dass der gleiche Mann hier stand mit einem Glas Bier in der Hand. Ich hätte mich nicht getraut, ihn anzusprechen, wenn er mir nicht zugenickt hätte.
Ich machte einen Schritt auf ihn zu und fragte, ob er der wäre, und als er nickte, erklärte ich ihm das mit dem Zeitungsphoto. Das passierte ihm fast täglich, seit sie ihn vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen hatten. Ich will hier nichts ausschmücken, ich kann unser Gespräch nicht detailliert wiedergeben. Es hat eine gute Stunde gedauert, und wir sprachen über Politik, über die Veränderungen, die es während seiner Inhaftierung gegeben hatte, und über das, was er und seine Leute in all den Jahren für mich bedeuteten. Er schilderte, wie er aus einem Lokal herausgeholt worden war, Waffen auf ihn gerichtet und eine Hundertschaft im Einsatz, und dass er überall und ständig überwacht wurde. Worauf ich natürlich gleich mehrere Gestalten entdeckte, die womöglich im Dienst waren.
Stärker als das Gespräch ist mir die Stimmung in Erinnerung geblieben. In diesem Trubel ein altmodisch gekleideter Vierziger mit vernarbtem Gesicht, der irgendwas Trauriges ausstrahlte, das für mich nicht nur mit dem Verlust einiger Jahre zu tun hatte, sondern damit, dass sich seit Mitte der 70er nicht nur die Haarmode geändert hatte. Aber meine Gehirntätowierung zeigt auf was anderes. Seit wir etwa sechzehn waren, hatten wir diese Leute immer bewundert, wie Popstars, vielleicht weniger für die Fähigkeit zur Gewalt als für den Mut, das anzugreifen mit Gewalt, von dem auch wir dachten, dass man es angreifen muss, wenn man deutsche Dreckhaufen beseitigen will. Todesverachtung, Intelligenz, auf der Seite der Unterdrückten und natürlich die Knarren. Und dann ’83 diese Begegnung mit einem von ihnen. Nachdem er die Rechnung bezahlt hatte. Und nicht nur seine, sondern auch die für viele andere und auch meine. Ans Bezahlen hatten wir nie gedacht, an den möglichen Preis.
Eine Weile prahlte ich dann damit, mich mit diesem Mann unterhalten zu haben.
Nautilus Literarischer Taschenkalender 1994, Hamburg 1993, unpag.