Materialien 1983

Hermann K.A. Döll, Philosoph in Haar

I

Ein 67-jähriger Mann, emeritierter Professor für philosophische Anthropologie, als Ruheständler in München lebend, leidet an einer Stoffwechselkrankheit. In ihrem Gefolge treten Symptome von „Verwirrung“ auf: Angst, Unruhe, Aggressivität, die der geordnete und behagliche Pensionistenhaushalt nicht erträgt. Die hilflosen Angehörigen bringen den Kranken unter einem Vorwand zur psychiatrischen Ambulanz der Universitätsklinik. Von dort wird er sofort in das Bezirkskrankenhaus Haar eingewiesen.

Bis dahin eine in der Bundesrepublik recht alltägliche Begebenheit. Wer sich, wenn auch nur zeitweise, nicht in das akzeptierte Raster einfügt, wer etwa Angst macht, weil er Angst hat oder auf Aggressionen mit Aggressionen antwortet, wird schnell „zu seinem eigenen Besten“ der Psychiatrie übergeben. Das Raster mag enger oder weiter sein. – es ist in jedem Falle vorhanden. Die Ausgrenzung des Störenden ist übliches Verfahren; man kennt und beklagt sie, auch von Staats wegen – und belässt es (von kosmetischen Veränderungen abgesehen) beim alten. Beispiel: in Bayern soll die Bettenzahl der Großkliniken reduziert werden; das „neue“ bayrische Einweisungsgesetz hat aber seinen repressiven Charakter behalten.

Die konventionelle Psychiatrie (samt ihren „sozialpsychiatrischen“ Anhängseln) als Mittel der Disziplinierung, als Gehilfin der Gesellschaft, die, um welchen Preis auch immer, den Betroffenen dem Prokrustesbett der anerkannten Normen anpassen oder, gelingt das nicht, ihn behalten und verwahren soll – das ist für viele schon beinah ein Gemeinplatz. Trotzdem sind authentische Berichte von Betroffenen immer wieder Anlass zu Erschrecken und Empörung, stärker als Berichte von Publizisten, die, wenn sie nicht in das Horn der Träger und Verwalter der Institutionen stoßen, doch häufig an der Oberfläche bleiben und Effekte einer Differenzierung vorziehen. Erschrecken und Empörung nicht so sehr wegen ungerechtfertigter Einlieferungen oder falscher Diagnosen, sondern wegen dem, was nach der Aufnahme geschieht oder nicht geschieht.

Der anfangs erwähnte Philosophieprofessor – er nennt sich Hermann K.A. Döll – hat einen solchen authentischen Bericht seines dreimonatigen unfreiwilligen Aufenthalts im Haarer Bezirkskrankenhaus gegeben. Er zeichnet sich aus durch professorale Tugenden und Untugenden: durch das Bemühen um „intellektuelle Redlichkeit“ und um Fairneß ebenso wie durch den bisweilen schon arrogant wirkenden Stolz auf den eigenen Status, den eigenen Bildungsstand (schon der Titel lässt das anklingen) und durch einen Wust an Zitaten und Anspielungen, an philosophischen und literarischen Reminiszenzen, der das Lesen nicht eben erleichtert.

Freilich, für mich überwiegen die Tugenden. Denn erstens verdeckt oder trübt das von früher und von draußen Mitgenommene, das wie unnützer, vielleicht auch ärgerlicher Ballast erscheint, nirgends den Blick für die Eigenart der Institution und für die Menschen, die in ihr leben, arbeiten und leiden. Außerdem ist es keineswegs nur Ballast, jedenfalls nicht für Hermann Döll. Für ihn ist es notwendige Stütze, um nicht unterzugehen in der menschenfeindlichen, kafkaesken Atmosphäre der „Medizinfabrik“, um seine Identität zu bewahren. Das ganze Buch ist Darstellung einer Möglichkeit des Überlebens in der totalen Institution. Damit ist aber auch die Frage gestellt: was hilft denjenigen zu überleben, sich zu behaupten, denen der Zugang zu humanistischem Bildungsgut versperrt geblieben ist? Und schließlich: der professorale Hochmut (gewiss nicht Attribut eines jeden, der diesen Beruf ausübt) wird gemildert durch Selbstironie, durch leisen Spott über die eigene Bürgerlichkeit und den Verdacht gegen sich selbst, manchmal in „unsympathischer Aufgeblasenheit“ vor potentiellen Lesern zu kokettieren. (Nebenbei: manche Psychiatrie-Mitarbeiter, die ihre Vorstellungen von Sitte und Anstand durchsetzen wollen, könnten von dem Professor lernen.)Wer meint, über die Passagen des Buches die von Tradiertem und oft von einer gewissen Abstraktheit bestimmt werden, hinweglesen zu sollen, tue es; einen Gefallen denke ich, erweist er sich damit aber nicht.

II

Das Buch ist gewiss nicht die radikalste Kritik eines psychiatrischen Großkrankenhauses. Die Beobachtungen, die Döll sammelt und reflektiert und deren Gegenstand die Institution, vor allem aber die Menschen in dieser Institution, einschließlich seiner selbst sind, werden nicht zu einer Theorie verknüpft. Basaglia oder Laing, Cooper oder Gerard Hof, Jervis oder Szasz werden nicht erwähnt, die antipsychiatrische Debatte wird nicht geführt. Stattdessen Sprünge und Widersprüche, Dissonanzen im Dreiklang aus Institutionskritik, der Beschreibung subjektiven Empfindens und interpersoneller Beziehungen sowie dem Bemühen, Erlebtes in den Zusammenhang der Geistesgeschichte einzuordnen und zu interpretieren.

Döll bietet also kein glattes, eindeutiges Bild der Haarer Realität, weder das ihrer Funktionäre, die (vielleicht guten Glaubens) vorgeben, das Beste für die Verwahrten zu tun, noch das derer, die pauschal das Irrenhaus zur Hölle erklären. Der Eingesperrte sucht Spuren der Humanität, Ansätze menschlicher Kommunikation – und findet sie: bei Mitpatienten, die die letzte Zigarette verschenken, oder die wie er, wenn auch mit anderen Mitteln, um ihre Selbstachtung kämpfen, „Haltung bewahren“ wollen. Bei Schwestern, die zuhören können, die die Verstellung nicht mitmachen, nicht nur die Anstaltsordnung im Sinn haben, sondern, selbst oft hilflos, einfach da sind, „unideologisch“; ihr Lob nimmt manchmal geradezu hymnische Töne an. Er findet die manchmal fast verzweifelt gesucht Humanität nicht oft, aber gelegentlich auch bei Ärzten, die „verstehen“, die den ganzen Menschen im Blick haben, nicht nur seine messbaren Symptome. Es sind alltägliche Kleinigkeiten, die ihm das Gefühl von Wärme und Menschlichkeit vermitteln, ihm zeigen, dass es in Haar zu weinen und zu lachen gibt, vergleichbar der Ameise in der Zelle des von ihm oft zitierten Ezra Pound. Es ist nicht nur das Bemühen um intellektuelle Redlichkeit, das ihm nicht erlaubt, „Humanes wegzugeneralisieren“ – es ist mehr noch kreatürliches Bedürfnis nach Nähe, Kommunikation, Aufrichtigkeit.

III

Dass aber diese Alltäglichkeiten und Kleinigkeiten lebensnotwendig werden, zeigt das ganze Elend der Haarer Wirklichkeit, den „Beschiss“ (so wörtlich und ganz unprofessoral) der als Therapie ausgegebenen Praxis. Ihre ideologischen Grundlagen sind der naive Glaube an eine mechanistisch-naturwissenschaftliche Medizin, das ungebrochene Vertrauen auf das Test- und Messbare, repräsentiert durch die ärztlichen „Organiker“, die neben der medikamentösen Behandlung bestenfalls noch Techniken der Verhaltenspsychologie akzeptieren. Eine weitere Grundlage sieht Döll in dem „faustischen Wahn“, dem „abendländischen Streben und Tätertum“, das durch seine Scheuklappen jedes Verstehen des Menschlichen verhindert.

Die konkreten Auswirkungen zeigen sich in der konsequenten Hierarchie auf allen Ebenen, in den sich gegenseitig bedingenden Ängsten und Kontrollmechanismen, denen alle unterliegen, in der unmenschlichen Kälte, die Kontakte fast unmöglich macht (von den technischen abgesehen), zumindest missbilligt, die Zynismus erzeugt und mit der Zeit aus den Insassen „menschlichen Schrott“ macht. Die Angst, die alles beherrschende, zeigt sich bei den Ärzten in Abwehrmechanismen: sie flüchten in ihre Dienstzimmer, um Begegnungen zu vermeiden. Die Schwestern haben Angst, ihre Stellen zu verlieren oder dass man ihnen „etwas anhängen“ könnte. Und die Angst der Patienten tut sich kund in ihrer Sprachlosigkeit und in den Symptomen, auf Grund derer der „Firlefanz“ und das „Schmierentheater“ der Diagnostik inszeniert wird.

Deutlich wird: Hermann Döll prangert Methoden an, die zu kritisieren wahrhaftig aller Anlass besteht. Weniger klar kommt heraus, dass es nicht allein die Methoden sind, sondern zuerst und vor allem die Ziele, denen die Kritik zu gelten hat. Zwar stellt er einer Gesellschaft, die eine Institution wie Haar ermöglicht und braucht, die Unangepassten, Haltlosen, als Irre geltenden gegenüber. Aber auf wen beruft er sich? Auf Verlaine, auf Pound – auf Poeten also, deren Produkte inzwischen zum anerkannten Bildungsgut gehören. Wer wollte ihm übelnehmen, dass er nicht für die spricht, die stumm gemacht worden und stumm geblieben sind? Er muss zunächst einmal für sich sprechen. Zwar stellt er, bei einem Spaziergang über den Anstaltsfriedhof, den „Schindanger des Versorgungsbetriebes“, betroffen und ironisch zugleich fest, dass selbst die Verheißung eines Fortlebens nach dem Tode (an das er nicht glaubt) nur den Angepassten gilt. Aber der Eindruck bleibt: zu schwer wiegen eigene Biographie und Tradition, als dass er das Ziel der Anpassung grundsätzlich in Zweifel ziehen, gar negieren könnte.

So gibt es auch viel Distanz, bis hin zu Verständnislosigkeit, in den Bemerkungen über seine Leidensgenossinen und -genossen. Erst langsam erkennt er einige ihrer ihn zunächst störenden Eigenheiten als Versuche, wenigstens einen Rest ihrer bedrohten Identität zu retten. Dass er Abneigung und Scheu manchen Patienten gegenüber (bei der Beschreibung des Patientencafes auch offensichtlichen Ekel) empfindet, leugnet Döll nicht – aber er weiß, dass der Grund dafür auch in ihm selbst liegt. Den selbstgefälligen Hierarchen mit ihren „Scheuklappen, Verdrängungen, Komplexen – und Aggressivitäten“, die nur Gehorsam fordern können und Despoten sind, auch wenn sie Rilke lesen, weiß er sich da mit Recht weit überlegen. Sein Verhältnis zu den anderen Eingesperrten ist ambivalent: „Ich verstehe sie und verstehe sie nicht.“ Wem von uns, seinen Lesern, ginge es wohl anders?

IV

Manches ließe sich noch sagen über den Menschen „Hermann Döll“, den sympathischen alternden Professor, der sich seiner Hinfälligkeit (im wörtlichen und im übertragenen Sinn) bewusst ist. Der weiß, dass er nicht in heroischem Alleingang seine Situation zu bewältigen vermag, und vom dem, sich durch Missbrauch desavouierte, aber deshalb nicht automatisch auch überholte Tugenden lernen ließen: Dankbarkeit oder Demut. Dankbarkeit gegenüber der Ehefrau, die aufrichtig ist, und gegenüber den Schwestern, die ihn akzeptieren; gelegentlich auch gegenüber einem Arzt und Mitpatienten. Demut, die ihren Ausdruck am deutlichsten in der sokratischen Redewendung „ich weiß nicht-wissend“ findet und ihn abgrenzt von der Arroganz derer, die in ihrer Borniertheit alles zu wissen glauben und daraus das Recht ableiten, andere zu entmündigen.

Arrogant freilich kann auch Döll sein: eben diesen Mächtigen gegenüber – eine notwendige Arroganz. Ihre wissenschaftlichen und menschlichen Defizite werden knapp, aber umbarmherzig scharf gezeichnet – vielleicht auch, weil Döll sie als Angehörige seiner eigenen Klasse besser durchschaut und versteht als etwa die Mitpatienten. Denen gegenüber zeigt er eher Verlegenheit, auch Mitleid, weil sie des Schutzes und Trostes humanistischer Bildung entbehren. Natürlich kann man das auch Eitelkeit nennen. Döll selbst würde sich dagegen vermutlich nicht wehren.

Dem klassischen Persönlichkeitsideal, über das er die Schwestern, die von ihm lernen wollen, unterweist, dem Ideal der Mitte, gleichweit entfernt von Selbstüberschätzung wie von Selbstentwertung, hat der Autor in Haar sicher nicht immer entsprochen. Dann wäre es ja auch kein Ideal mehr. Dass es ihm geholfen hat, den Aufenthalt in der Klinik „anständig“ (in seinem Sinne) zu überstehen, scheint mir unbestreitbar. Und wenn jemand im Hintergrund Degenhardts „Notar Bolamus“ winken sieht, für den alles „Maß und Ziel“ haben musste – der war ja wohl in einer anderen Situation, keineswegs bedroht. Für mich grüßt da eher ein anderer Humanist: Alfred Adler (den Döll allerdings nicht erwähnt, anders als Freud). Viel von dem, was Hermann Döll über sich, seine Eindrücke, Hoffnungen, Gefühle berichtet, lädt ein zu Identifizierung. Den Zorn darüber, dass „unnütze Nullen“ und „Hanswürste“ das Sagen dort haben, wo „Leid, Anfechtung, dunkler Ernst“ regieren; die Angst vor Isolation, den Hunger nach Kommunikation, die Selbstzweifel und die Erfahrung, die Verantwortung für sich selbst an diverse Kontrolleure abgeben zu müssen – das gibt es ja nicht nur im Irrenhaus. Davon weiß sich, wenn auch unauffälliger als in der Anstalt, nahezu jeder betroffen, der sich einen Rest von Sensibilität hat bewahren können. Anderes wirkt befremdlicher, gelegentlich hypochondrisch oder auch ein wenig museal – wenn man die eigenen Maßstäbe anlegt und die Situation vergisst, in der der Autor schreibt. Gerade die Subjektivität der Schilderung, die das „Menschlich-Allzumenschliche“ anvisiert und weder Banalitäten noch die Darstellung der eigenen Begrenztheit fürchtet, hat mir über die innere Struktur eines Bezirkskrankenhauses (es geht ja nicht nur um Haar) mehr gesagt als „wissenschaftlich“ distanzierte Beschreibungen, mögen die auch, wie etwa bei Goffman, detailliert und subtil sein.

V

Brecht (von Döll häufig zitiert) lässt seinen Herrn Keuner gefragt werden, ob es Gott gäbe. Die Antwort, sinngemäß: „Würde sich je nach der Antwort auf deine Frage dein Verhalten ändern, hast du dich schon entschieden: du brauchst einen Gott.“ Hat die Begegnung mit der traditionellen Psychiatrie den, der sie erlitten hat, verändert? Ich weiß nicht, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt, obgleich ich zur selben Zeit, als „Hermann Döll“ in Göttingen lehrte, dort studierte – ich habe mich freilich auch nicht sonderlich bemüht, es herauszufinden. Deshalb kann ich nichts darüber sagen, ob und inwiefern sich der Philosoph vor Haar von dem nach Haar unterscheidet.

Aber er selbst kann etwas darüber sagen, und das ist wichtiger. „Ich bin im Narrenhaus ziemlich vernünftig geworden auf meine alten Tage“. Die „Selbstentfremdung“, über die er vorher nur nachgedacht und geschrieben hatte, hat er jetzt erfahren. Er ist mit „neuen Lebenswelten“ konfrontiert worden, hat „langsam das Umlernen gelernt“. Anders, unter Benutzung eines „altmodischen“, ihm aber wohl eben deshalb entsprechenden Begriffes gesagt: er hat einen wichtigen zusätzlichen Schritt vom Wissen zur Weisheit getan.

Dazu meine Phantasie: hat der „philosophische Anthropologe“, der Wissenschaftler und Hochschullehrer, die Nähe dessen, was er betrieben hat und weiter betreiben möchte, zu dem erkannt, was entfremdende, unpersönliche, objektivierende Praxis der Psychiatrie ist? Ist das Medusenhaupt, das ihn so erschreckt, nicht auch das Gesicht der ihm sehr wohl bekannten eigenen Klasse und Tradition – und deshalb besonders grauenhaft für ihn? Möglich, dass er sich auch deshalb nicht so vehement gegen die verständnislose, überhebliche Attitüde der „Organiket“-Ärzte, seiner feindlichen Brüder, wehrt.

Es ist, weiß Gott, nicht gut, dass es Haar (und Vergleichbares) gibt. Da derlei aber noch zu unserer Wirklichkeit gehört, ist es nicht nur von Übel, dass jemand wie Hermann Döll hinein- ( und notabene: auch bald wieder heraus-) kommt: einer, der seine Betroffenheit mitteilen und Zusammenhänge herstellen kann, der die kleine, aber reale Hoffnung verbreitet, dass selbst gegen Haar ein Kraut gewachsen ist – und wohl nicht nur das der humanistischen Bildung. Brisanz erhält der Bericht gerade dadurch, dass ihn ein Vertreter der bürgerlichen Kultur schreibt, die unter anderem auch das Irrenhaus in dieser Form hervorgebracht hat. Vielleicht gibt es wenigstens das den Verteidigern ihrer Institutionen zu denken. Ich möchte die Chance nicht völlig verneinen, dass auch sie lernen können, wie Hermann Döll gelernt hat. Er hat die Anstalt verlassen, um Erfahrungen reicher, die alles Nachdenken nicht vermitteln kann – erst recht nicht, versteht sich, eine Besprechung ihres literarischen Niederschlags.

VI

Für Döll besteht der eigentliche Skandal von Haars Psychiatrie darin, dass ihre Ideologie die notwendige Therapie verhindert. Der Skandal geht aber weiter: er ist nicht nur einer der Institution, sondern einer der Gesellschaft, die Irrenhäuser und Gefängnisse (beides ist auswechselbar; die „Burg“ in Haar, die Abteilung für „psychisch kranke Rechtsbrecher“ zeigt es) als extremste Formen der Ausgrenzung, keineswegs die einzigen, hervorbringt und unterhält. Auch die Herrschaft der Apparate in der Psychiatrie, ihre Vorliebe für das Messbare haben ihre gesellschaftliche Funktion. Am Beispiel der Computertomografie: indem sie Risse und Lücken in der Gehirnmasse zu zeigen vorgibt, verschleiert sie die Risse in der gesellschaftlichen Realität. Diese wird entlastet, wenn ihre Probleme und Widersprüche dem Individuum zurückgegeben werden können. Auch Döll erfährt: die Verwahrung bestimmter Leute ist nützlich für die „Gesellschaftselite“, am wenigsten für die Verwahrten selbst, entgegen allen Beteuerungen.

Haar als ein Modell der Gesellschaft: in ihm bildet sie sich ab wie in einem Hohlspiegel, verkleinert, ein wenig verzerrt, aber durchaus erkennbar. Die gleichen Eigenschaften hier wie dort: die Kontrollmechanismen, der zynische „Escapismus“, der Patienten als „Mitarbeiter“ deklariert (das tut auch der Kapitalismus mit denen, deren Arbeitskraft er kauft) und alles zu ihrem eigenen Besten zu tun vorgibt, die Erniedrigung, Entpersönlichung und Verdinglichung des Individuums. Dazu passt, dass die „Fütterung gut“ ist, dass man mit „liberalen“ Ärzten über Rilke diskutieren kann, dass die Verstellung zu einem Element des Überlebens wird, dass die Angst in allen Winkeln sitzt. Dazu passt auch die Verquickung von juristischen und medizinischen Aktionen, die Döll noch verfolgt, als er alles längst hinter sich zu haben glaubt.

Döll gebraucht den Begriff „Kapitalismus“ nicht, obwohl Marx ihm keineswegs fremd ist. Die ökonomische Begründung für den Zustand unserer Gesellschaft tritt bei ihm hinter der geistesgeschichtlichen zurück. Aber ob Marx oder Döll: beide sehen die Notwendigkeit, bestehende Machtverhältnisse zu verändern. Im Irrenhaus (wo manchmal und auch auf Dölls Station solche einsitzen, die als Kapitalisten zu bezeichnen nicht abwegig wäre) rekrutieren sich die Ohnmächtigen aus den „antifaustischen Versagern im Leben“, die hier versteckt, vergessen werden können, um nicht ansteckend zu wirken, und denen ständig ihre faktische Ohnmacht vor Augen geführt wird, das Leiden vertiefend. Der „Edelpatient“ Döll kennt seine Möglichkeiten zu bestehen (sofern andere ihm dabei helfen) und macht von ihnen Gebrauch. Aber das gilt nicht für alle. Was bleibt der Mehrheit derer, die andere Voraussetzungen mitbringen und nicht zur Elite des Bodensatzes gehören? Nur Mitleid? Was kann ihnen (um Begriffe der psichiatria democratica zu gebrauchen, die, soweit ich sehe, in diesem Bereich bisher allein das Problem nicht nur thematisiert hat, sondern auch praktisch angegangen ist) ihre Geschichte – und das heißt auch: einen Anteil an gesellschaftlicher Macht – zurückgeben? Was sie über das „Machtniveau Null“ (Tranchina) erheben?

Das bleibt bei Döll offen. Ihm geht es, wie gesagt, primär um das eigene Überleben, die eigene Selbstbehauptung – in seiner Situation mit Recht. Aber die Frage ist aufgeworfen und darf nicht verstummen. Der Triumph, der sich auf andere als in Haar vorhandene Techniken und institutionelle Formen stützt, nenne man sie Psychotherapie, Gemeindepsychiatrie oder wie auch immer, ist solange Täuschung und Augenwischerei, als diese Frage nicht einbezogen wird. Was sich bundesweit als „soziale“ Psychiatrie geriert, wird auch daran zu messen sein.

Unter diesem Aspekt wirkt die Forderung eines „sozialen Humanismus“, den Döll der Herrschaft der Apparate entgegengesetzt sehen möchte, nicht nur recht abstrakt, sondern auch naiv-optimistisch; immerhin wird sie relativiert, als „provisorische Moral“ gekennzeichnet, als erste Hilfe angesichts der Selbstentfremdung, die die kapitalistische Gesellschaft im ganzen charakterisiert, sich im Bezirkskrankenhaus freilich besonders grotesk zeigt. Er überschätzt wohl auch den Beitrag, den die Human- und Gesellschaftswissenschaften dazu leisten können, die zwar unentbehrlich sind, aber noch immer bereit waren, sich von den jeweils Herrschenden missbrauchen zu lassen. Psychiatriereformen behalten ihre Alibifunktion, Wissenschaften den Charakter von Glasperlenspielen (wenn sie nicht sogar Unterdrückungsinstrumente werden), solange auf die Frage der Macht und ihrer Verteilung keine überzeugende Antwort durch die Praxis gegeben wird – d.h. keine politische Antwort.

Peter Suchanek


Materialien der AG SPAK (Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise) 54, Psychiatriejahrbuch 1. Psychiatrie und Antipsychiatrie im Ausland, hg. von Rolf Schwendter, München 1983, 163 ff.

Überraschung

Jahr: 1983
Bereich: Psychiatrie

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