Materialien 1983

Frau Spindler und die Halsabschneider

Schon auf dem Weg zur Arbeit steht Frau Spindler so eingezwängt in der Straßenbahn, dass sie nichts mehr sieht von der Welt als das kleinkarierte Sakkomuster eines breiten Männerrückens. Von hinten keucht ihr eine Marktfrau in die Ohren; von links schaukelt ihr eine scharfkantige Aktentasche an die Waden; und von rechts schwingt ihr ein überlanger Gymnasiast, der an zwei Halteschlaufen hängt, bei jeder Bremsung gegen die Hüfte. Beim Aussteigen stempelt ihr auch noch die automatisch schließende Trambahntür einen kleinen Bluterguss in den Oberarm: so wird Frau Spindler abgestempelt wie ihre Vierfahrtenkarte, für die sie den hohen Tarif berappen muss.

Wenn später im Büro der Rolladen des Aktenschrankes herunterrasselt, kommt es ihr manchmal vor, als wären die Grifflöcher der Leitz-Ordner Kanonenrohre, die alle auf sie gerichtet sind. In den Ablagekästen auf dem Schreibtisch liegen die Tagesbefehle schon parat. Daneben glänzt das Haustelefon, das sie mit der »Obersten Heeresleitung« in Verbindung hält.

Heute ist Mahntag. Sie muss den ganzen Tag Mahnungen verschicken. Die Texte hat der Chef persönlich formuliert:

»Letzte außergerichtliche Mahnung! Auftrag Nr. … / vom …

Von unserer Buchhaltung erhielten wir heute Ihren vorbezeichneten Auftrag zur weiteren Verfolgung. Sie bezahlten weder die fälligen Beträge noch hielten Sie es für nötig, auf unsere diversen Mahnungen zu antworten. Dieses Schweigen wird Sie jetzt teuer zu stehen kommen. Abgesehen von den Unannehmlichkeiten und Aufregungen, die ein solches Verfahren mit sich bringt, entstehen für Sie hierbei beträchtliche Gerichts- und Anwaltskosten. Bei der Zwangsvollstreckung geht der Gerichtsvollzieher bei Ihnen ein und aus, die Auskunfts- und Kreditschutzorganisationen werden über alle Vollstreckungsmaßnahmen informiert, Ihr guter Ruf und Ihre Kreditwürdigkeit werden dadurch erheblich geschädigt.

Sollten Sie sich in letzter Minute doch noch anders besinnen, dann müssten Sie uns allerdings schnellstens davon überzeugen, denn wir werden – Ihrer bisherigen Haltung entsprechend – nach Ablauf von 8 Tagen beim hiesigen Amtsgericht Zahlungsbefehl gegen Sie veranlassen. Vielleicht entsinnen Sie sich daran, dass Sie sich die Erledigung Ihrer Verpflichtungen etwas gar zu einfach gemacht haben. Auch wenn Sie keine pfandbare Habe Ihr eigen nennen, sollten Sie sich dieses Risiko überlegen. 30 Jahre Verjährungsfrist ist ein halbes Menschenleben, also entscheiden Sie sich.

Hochachtungsvoll

Rückst. Betrag / Mahnspesen / Zahlungsrückstand

DM…………………DM…………………DM…………………«

Frau Spindler schaut auf der Karteikarte nach – die Mahnung geht an eine 74jährige Frau. Vor acht Tagen hat sie den Mahntermin für die alte Frau schon einmal übersprungen, aber diesmal muss sie ihr nun so einen unverschämten Wisch ins Haus schicken. Sie schüttelt den Kopf und arbeitet weiter.

Im Laufe des Vormittags taucht der Chef auf. Er fährt einen Zweihundertachtziger auf den für ihn reservierten firmeneigenen Parkplatz. Frau Spindler kann vom Fenster aus beobachten, wie er die Treppe heraufsteigt. Er gibt sich seriös, lächelt jovial. Wer würde schon in diesem höflich nickenden Geschäftsmann den Halsabschneider erkennen?

Frau Spindler kennt ihn, sie weiß Bescheid. Sie kennt auch die vielen Stundungs-Bittbriefe der alten Frauen und Opas, denen die Gesellschaft Waren andrehen ließ, die diese alten Leute meist überhaupt nicht gebrauchen können, aber für die sie nun monatelang abzahlen müssen.

Der Karteikartenstoß auf ihrem Schreibtisch, das sind gleichsam lauter Opfer, auf denen die gelben Mahnreiter der GmbH wie Parasiten hocken.

Frau Spindler steht auf, sie muss mal raus. Im Toilettenvorraum wäscht sich ein Lehrmädchen gerade die Hände. Frau Spindler geht in die Klozelle; draußen rauscht das Wasser, raschelt das Papierhandtuch. Was soll ein Lehrmädchen in diesem Betrieb schon lernen? Außer ein paar Büro-Fertigkeiten vielleicht noch – wie man die Leute übers Ohr haut. Wie man ungestraft und auf legale Art und Weise alte Leute begaunert.

Ihr selber sind hier die Augen aufgegangen. Und sie hat nachgedacht, nicht nur über die Firma, sondern auch über eine Wirtschaftsordnung, die solche Firmen hervorbringt.

Sie weiß ziemlich genau, was die beiden Gesellschafter wöchentlich profitieren. Sie kann es jeden Montag ausrechnen, wenn die Vertreteraufträge eingehen. Sie kennt die Lieferantenrechnungen und die Vertriebspreise. Sie ahnt auch, wie die GmbH die Bilanz frisiert und steuerlich manipuliert.

Letzte Woche profitierte die GmbH rund 33.000 Mark. Dabei sind die beiden Gesellschafter noch kleine Würstchen. Sie weiß es. Sie hat auch schon in größeren Firmen gearbeitet.

Sie zieht die Lokuskette, wäscht sich die Hände, geht wieder rein, setzt sich an den Schreibtisch. Während sie fast automatisch die Mahnungen schreibt, nimmt sie sich vor, in Zukunft allen Bekannten und Verwandten die Wahrheit zu sagen, ihnen einfach zu sagen: »Seht, so ist das Geschäftsleben hier wirklich.«


Artur Troppmann, Der Xaver. Münchner Typen und Originale, Dortmund 1986, 164.