Materialien 1984

Schicksalhafter Ablauf

Strafvollzug
Der krebskranke Schriftsteller Peter Schult, dem die Justiz die Freilassung aus der Haft verwei-
gert hat, ist ins Ausland geflohen

Der Häftling ist todkrank. Ein bösartiger Bronchialtumor hat Tochtergeschwülste gebildet und den Körper geschwächt. Atmen und Bewegung fallen schwer, die Ärzte geben dem Patienten eine Le-
bensfrist von knapp einem Jahr.

Doch dem krebskranken Schriftsteller Peter Schult, 55, wegen homosexueller Delikte mit Kindern und Jugendlichen vom Landgericht München zu 34 Monaten Haft verurteilt, wird kein Tag ge-
schenkt. Die Freiheitsstrafe endet im Herbst.

Anträge auf Haftverschonung und ein Straferlass nach zwei Dritteln der Gefängniszeit wurden ab-
gelehnt. Auch ein durch 4.500 Unterschriften bekräftigtes Gnadengesuch und Appelle des Schult-Anwalts, den Kranken außerhalb des Gefängnisses „in Würde sterben zu lassen“, bewegten bei der Justiz nichts.

Anfang letzter Woche machte sich Schult ohne Genehmigung davon. Einen Aufenthalt in der Berli-
ner städtischen Lungenklinik Heckeshorn nutzte er zur Flucht. Von Ost-Berlin aus flog Schult in ein südeuropäisches Land. Eine Justizaffäre, bei der Anstaltsschikanen, kleinliche Gerichtsbe-
schlüsse und versagende Gefängnisärzte fatal zusammenwirkten, ist vorerst abgeschlossen.

Mehrfach war Schult wegen sexueller Beziehungen zu männlichen Jugendlichen vorbestraft. Stets hatte er den Richtern erklärt, dass er die umstrittene Schutzvorschrift des Strafgesetzbuch-Para-
graphen 175, die Männern Sexualkontakte zu männlichen, nicht aber weiblichen Jugendlichen unter 18 Jahren verbietet, nicht akzeptiert. Auch linksliberale Rechtspolitiker forderten vergeblich die Abschaffung der Norm, Christdemokraten widersetzten sich.

Schult lebte seit Anfang der sechziger Jahre in ständigem Konflikt mit der Justiz. Als eine Art „Lehrmeister der Münchner Sponti- und Anarchoszene“ („Frankfurter Rundschau“) fiel der Anar-
chist („Traumberuf: Totengräber des Systems“) unliebsam auf. Staatsanwälte nannten ihn „Kin-
derverderber nicht nur im sexuellen, sondern auch im gedanklichen Bereich“.

Entsprechend kontrovers entwickelte sich die öffentliche Debatte um den Häftling, der mit seiner Knabenliebe auch „in der linken Szene“, wie er klagt, nur „betretenem Schweigen“ begegnete. Die „Humanistische Union“ verteidigt Schult als „schwerkranken Mann, der aufgrund einer überholten Sexualstrafgesetzgebung verurteilt worden ist“, das Berliner Landgericht dagegen stuft ihn als „un-
belehrbaren Täter“ ein, der trotz Krankheit womöglich „erneut einschlägig straffällig“ werde.

Die Berliner Richter wollten eine Strafaussetzung „der Allgemeinheit gegenüber nicht allein schon deswegen vertreten, weil der Verurteilte möglicherweise nur noch kurze Zeit leben kann“.

Das Gnadengesuch für Schult unterstützten am Ende Filmemacher, Theologen und Politiker, da-
runter Helmut Gollwitzer, Heinrich Albertz, Volker Schlöndorff und der SPD-Bundestagsabgeord-
nete Rudolf Schöfberger. Doch den Justizbeamten war der politische Druck wohl mehr ein Anlass zum Zusammenrücken. „Es mag sein, dass Herr Schult und auch Außenstehende die Fortsetzung der Vollstreckung als Härte empfinden“, schrieb der Münchner Oberstaatsanwalt Goldmund, aber „die Verteidigung der Rechtsordnung“ gebiete es, weiterzumachen.

Münchner und Berliner Justizstellen bis hin zum Kammergericht verweigerten Schult die Freilas-
sung, obwohl die Leitung der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, wo Schult einsaß, schon im Septem-
ber letzten Jahres eine vorzeitige Entlassung „ohne Einschränkungen“ empfahl – unter Hinweis auf den ärztlichen Befund.

Schults Erkrankung hatte sich im Herbst 1981 erstmals mit Symptomen wie Herzbeschwerden und Schwindelanfällen bemerkbar gemacht. „Alles, was notwendig ist, wird getan“, beteuerte die Lei-
tung der Justizvollzugsanstalt Kaisheim bei Augsburg. Die Krankengeschichte belegt das Gegenteil.

Den Lungenschatten auf dem Röntgenbild deuteten die Kaisheimer Mediziner als Überbleibsel einer Tuberkulose, das „nicht mehr behandlungsbedürftig“ sei. Warnungen der Schult-Verteidiger taten sie als „Ferndiagnose“ und „Schreckensvisionen der Herren Rechtsanwälte“ ab.

Externe Ärzte, deren Einschaltung Schult-Anwalt Jürgen Arnold erzwang, verlangten stationäre Untersuchung des Patienten im Zentralklinikum Augsburg. Doch die Leitung von Kaisheim weiger-
te sich und bot statt dessen anderweitige Untersuchungen an. Schults Anwalt startete öffentliche Protestaktionen, beantragte Haftunterbrechung und drängte weiterhin auf Untersuchung in einem Großklinikum.

Die bayrischen Justizbehörden blockten ab. Der Kaisheimer Anstaltsarzt Ludwig Netz lehnte noch im Januar 1983 eine Haftunterbrechung ab: „Der Strafgefangene“, entschied er, „ist zum gegen-
wärtigen Zeitpunkt mit Sicherheit haftfähig.“ Auch die Ärzte der Münchner Vollzugsanstalt Sta-
delheim begnügten sich sechs Monate später mit der Empfehlung, den Patienten „auch weiterhin unter ärztlicher Kontrolle“ zu lassen.

Am 18. Juli 1983 wurde Peter Schult nach Berlin verlegt und eine Woche darauf von Vollzugsmedi-
zinern noch einmal geröntgt. Resultat: ein kastaniengroßer bösartiger Tumor an der Lunge, genau dort, wo die Kaisheimer Ärzte die Tbc-Reste geortet haben wollten.

Kaisheims Doktor Netz kann sich das nur als „schicksalhaften Ablauf“ erklären. Der von Schult-Anwälten mobilisierte Internist Thure von Uexküll spricht von „Fehldiagnose“. Durch das Versa-
gen von Justiz und Medizinern, so Uexküll, habe Schult womöglich für eine erfolgreiche Operation „den Termin verpasst“.


Der Spiegel 12 vom 19. März 1984, 121.