Materialien 1984

Eins gegen alle

Anarchos zwecks Redaktionsgründung gesucht! Mit ehrlichen Kleinanzeigen und provokanten Themen wurde das Münchner „Blatt“ in den Siebzigern zum Prototyp der Stadtmagazine. Doch die Macher brachen alle Regeln – und manchmal auch Gesetze. Ihre aufmerksamsten Leser waren deshalb Staatsanwalt und Polizei.

Das hatte noch gefehlt. Das Urteil gegen den Redakteur Anatol Gardner war rechtskräftig. Gardner hatte sich mächtig über eine Bemerkung des bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel (CSU) empört, wonach Mörder nicht begnadigt würden. Die bayerische Justiz habe bereits ehemalige SS-Leute begnadigt, schrieb der Redakteur in einem aufgeregten Artikel für die Münchner Alternativ-Postille „Blatt“. Goppel nannte er einen „senilen Weißwurst-Präsidenten“. Für die bayerische Justiz war das zu viel, sie verurteilte Gardner zu einer Geldstrafe von 1.800 D-Mark – wegen Beleidigung des Ministerpräsidenten.

Harte Zeiten für die Münchner „Blatt“-Redaktion, Mitte der siebziger Jahre. Wieder einmal würde das Kollektiv zusammenlegen müssen, um die Strafe zu bezahlen. Die Redaktion der 1973 gegründeten ersten alternativen Stadtzeitung für München teilte zu dieser Zeit nicht nur den Ruf einer fröhlich-anarchistischen Hippie-Gemeinschaft, sondern auch Tisch, Bett und Haushaltsgeld. Gerade erst hatten die Mitglieder der Redaktions-Kommune an der Münchner Münzstraße, in der Gardner wohnte, dessen Wunsch nach einem Paar neuer Schuhe widersprochen. Statt seiner kaputten könne er doch ein Paar gebrauchte tragen.

Die bald bundesweit bekannte Anarcho-Gazette gilt als Vorreiter späterer Stadtmagazine, die in frech-flapsigem Ton Szenegänger und Nachtschwärmer in Berlin, Hamburg, Frankfurt oder Hannover durch den großstädtischen Veranstaltungsdschungel von Kneipen, Konzerten, Partys, Filmen und Diskussionsforen lotsen. Auch der opulente Kleinanzeigenteil – redaktionsseitig gespickt mit spitzen, bissigen, immer humorvoll gemeinten Anmerkungen zu Kontaktgesuchen jeder Art – wurde zum viel kopierten Vorbild. Das „Blatt“ war so Vorläufer jener Blätter, die Ende der achtziger Jahre von verschiedenen Großverlagen als lukratives Geschäftsmodell entdeckt und, von ihrer Urwüchsigkeit befreit, zu edlen Hochglanzmagazinen durchgestylt wurden. Doch davon konnten die „Blatt“-Macher Anfang der siebziger Jahre nichts ahnen. Und wenn: Sie hätten es vermutlich zu verhindern gewusst.

Geniale Dilettanten

„Das ist erstaunlich schlecht!“, findet Gerd Hortmeyer, als er die erste Ausgabe von „Blatt – Stadtmagazin für München“ in den Händen hält, „eigentlich peinlich.“ Es ist Januar 2009, und er hat den Koffer geöffnet, in dem er die alten Zeitungen sammelt. „Blatt“ – das war seine Idee, damals 1973. Noch war Hortmeyer als Student an der Münchner Uni eingeschrieben, doch das Fach „Zeitungswissenschaften“ fand der 25-Jährige längst „blöd und langweilig“. Er schmiss das Studium. „Wir wollten lieber selber was machen.“

In Berlin waren gerade die ersten Veranstaltungsblätter erschienen, Stadtmagazine mit Kneipen-, Konzerttipps und Kleinanzeigen. Eine eigene Zeitung mit einem Veranstaltungskalender für München – „ich dachte mir, genau sowas fehlt!“ Das Geschäftsmodell interessierte den Ex-Studenten dabei kaum. Sein Ideal war die „Warentauschgesellschaft“. Seine Überzeugung: Wer es schaffte, seine Lebenshaltungskosten niedrig zu halten, konnte locker vom Überfluss der Wohlstandsgesellschaft leben. Der „Erwerbsgedanke“ spielte folglich auch für das Zeitungsprojekt keine Rolle. Das Startkapital – 5.000 D-Mark – lieh sich Hortmeyer von seinem Vater. Die ersten Mitarbeiter der Zeitung, persönliche Freunde, arbeiteten ohne Honorar. Das „Blatt“ sollte zu einer Plattform der undogmatischen Linken werden, ein Forum für alle, die gruppen- und parteigebundene Zeitungen ablehnten.

Doch die Praxis hatte ihre Tücken. Die ersten Redaktionssitzungen fanden in Hortmeyers Wohnung an der Knöbelstraße, Nähe Isartor, statt – und verliefen chaotisch. Das Projekt sprach sich rum, jeder wollte mitmachen, jeder wollte schreiben, nicht jeder konnte es. „Manche Leute musste man einfach rausschmeißen, das ging wirklich nicht“, erinnert sich Hortmeyer. Auch der damals 23-jährige Student Jürgen Ritter war von der neuen Zeitung begeistert: Endlich eine, „in der mal Betroffene zu Wort kommen“, ohne Regeln und ohne Chef. Ein Blatt, das für alle Ansätze und Gruppen offen war. In der Praxis rangen bald Schwule und Lesben, kommunistische Foren, Psycho- und Encountergruppen um den Platz in jeder Ausgabe. Alles „völlig anarchisch und super dilettantisch“. Trotz großer Sympathien für die Idee gab Ritter der Zeitung kein halbes Jahr. „Nach den ersten Ausgaben war’s für mich vorbei. Ich hatte kein Geld mehr und konnte meine Miete nicht bezahlen.“

Dauergast Staatsmacht

Der harte Kern hielt aus. Die Redaktion war in der Zwischenzeit in ein Ladenlokal an der Adelgundenstraße gezogen – und wuchs weiter. Ständig kamen neue Leute vorbei, eines Tages auch Anatol Gardner: „Ich wollte wohl nur eine Anzeige aufgeben, und dann bin gleich dageblieben.“ Auch der Zeichner Gerhard Seyfried stieß zum „Blatt“.

Immer öfter kam auch die Polizei. Am 15. April 1976 zum Beispiel, um auf Beschluss des Amtsgerichts die 68. Ausgabe der Zeitung komplett zu beschlagnahmen. Der Grund war eine Zeichnung, auf der eine Person einen Gegenstand wirft – nach Ansicht des Richters einen Molotow-Cocktail. Knapp ein Jahr später durchsuchten Polizisten die Redaktion und beschlagnahmten ein Brokdorf-Plakat mit der Aufschrift „Deutsche Polizisten sind Terroristen“. Gegen die presserechtlich Verantwortlichen wurden im Laufe der Jahre mehrere Strafverfahren wegen Beleidigung, Verunglimpfung des Staates, öffentlicher Billigung von Straftaten, Aufforderung zu strafbaren Handlungen oder Anleitung zum Cannabis-Anbau eingeleitet.

Es war die Zeit der Hausbesetzungen, der zweiten RAF-Generation, der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. In der angespannten politischen Situation und wegen offener Sympathiebekundungen für Straftaten aus der linken Szene standen die Redakteure des „Blatts“ unter ständiger Beobachtung. Ein Münchner Justizbeamter soll ausschließlich mit der Suche nach verdächtigen Äußerungen in der vierzehntäglichen Publikation, einschließlich ihres Kleinanzeigenteils, beschäftigt gewesen sein.

Günstige Mitfahrgelegenheit München-Poona-Goa

Die hochpolitische Zeit spiegelte sich auch im Kleinanzeigenteil wider. Dort inserierte Mitte der siebziger Jahre die „KKW-Nein-Gruppe“, die „Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft“, die „Gruppe internationaler Marxisten“, die „Sozialistische Frauenorganisation München“, das „Komitee für den Volksentscheid gegen den § 218“ oder die Selbstorganisation Zivildienstleistender (ZDL) – nicht ohne Selbstironie. Das las sich dann so: „Nachdem in letzter Zeit am ZDL-Stammtisch nur noch zwei der Gründer sitzen, würden wir gern wissen, ob auch von anderer Seite noch Interesse am Stammtisch besteht. Wir zwei können uns nämlich bei uns zuhause gemütlicher treffen.“

Der Kleinanzeigenteil spiegelte auch die alternativen Lebensentwürfe: Träume, Fantasien und Frust zwischen Gruppentherapie, Wohngemeinschaft und vergesellschaftetem Liebesleben. Etwa in dem Angebot: „Günstige Mitfahrgelegenheit München-Poona-Goa. Vollwertige vegetarische Verpflegung und Übernachtung inbegriffen“, oder unter Gesuchen: „Wer schenkt mir zum Geburtstag einen Plattenspieler oder ähnliches? Für die ganz Geldgierigen darf er auch ein ganz klein wenig kosten.“ Und in Hilferufen: „Letzten Sommer (vor ca. vier Monaten also) waren die Margret, der Kilian und noch’n paar Leute mit meinem Schlafsack im Süden. Da ich ihn vermisse, und er mich wahrscheinlich auch, hätt ich ihn gern zurück …“

Und er spiegelte die Folgen der unkonventionellen Lebensplanung: „Linker Schüler (erst 16, aber trotzdem ziemlich gefrustet) sucht Freundin für freie Kommunikation und politische Praxis.“ Oder auch: „Frau mit Kind sucht Halbtagsjob im Kindergarten oder ähnliches. Wichtig: Ich müsste das Kind mitnehmen können. (All diesen Arschlöchern, die meinen, dies wäre eine versteckte Kontaktanzeige, sei hiermit gesagt, dem ist nicht so, sie brauchen also gar nicht anzurufen.)“

Schreibmaschine statt Computer

In ihrer konsumkritischen Haltung blieben die „Blatt“-Macher konsequent – meistens jedenfalls. Inserate aus der Münchner Geschäftswelt waren willkommen. Doch als auch der Hersteller der Zigarettenmarke Roth-Händle Interesse bekundete, sorgte er damit für heftige Diskussionen im Kollektiv. Einige forderten, Inserate von „halsabschneiderischen Großkonzernen“ generell abzulehnen. „Geraucht haben wir aber trotzdem“, erinnert sich Hortmeyer. Und auch die Anzeige erschien irgendwann. Hinsichtlich ihrer eigenen Arbeitsbedingungen aber blieben die „Blatt“-Redakteure hart. Trotzig schrieben sie in den Achtzigern weiter auf IBM-Composer-Schreibmaschinen, während sie heimlich von den ersten Computern bei der lokalen Konkurrenz schwärmten, wo einige „Blatt“-Macher nebenbei jobbten, um sich den Lebensunterhalt für ihr Anarcho-Dasein zu finanzieren.

Zehn Jahre lang ging es gut. Die Auflage war von anfangs 3.000 auf – so hieß es jedenfalls – auf bis zu 25.000 Exemplare gestiegen. Mitarbeiter wie Gardner bemerkten den wachsenden Erfolg nicht zuletzt daran, dass es bei Redaktionssitzungen anfangs „nur Tee“, später aber „Leberkässemmeln und Sekt“ gab. Die Redakteure selbst begnügten sich, so erzählen sie, mit einem bescheidenen kollektiven Einheitslohn. Das „Blatt“ wurde bald über die Grenzen Bayerns bekannt – auch wegen seiner Naturwüchsigkeit. Dieser Charme machte die Gazette für viele Zeitungsmacher aus dem linken Spektrum zum Vorbild. Anders als der „Pflasterstrand“, das Frankfurter Agitationsblatt von Sponti-Chef Daniel Cohn-Bendit, sah „Blatt“ immer irgendwie selbstgestrickt aus und lehnte die von Chefideologen geforderte Theorielastigkeit ab.

Als Ende der achtziger Jahre aus dem „Pflasterstrand“ ein „Metropolenmagazin“ wurde, eine Stadtillustrierte mit professioneller Redaktion und gewinnorientierter Verlagsgesellschaft, war vom „Blatt“ schon nichts mehr zu sehen. Die Wende von der linken Untergrundpostille zum Hochglanzmagazin, wie sie der Hannoveraner „Schädelspalter“, der Nürnberger „Plärrer“, das „Bremer Blatt“ oder die Ableger des Bochumer Stadtmagazins „Prinz“ erlebt hatten, machte das Münchner „Blatt“-Kollektiv nicht mit. Nach Anzeigeneinbrüchen und sinkenden Abozahlen meldete die erste alternative Stadtzeitung Westdeutschlands 1984 Konkurs an. Am 14. Juni erschien mit Nummer 274 eine letzte „Notausgabe“. Dass sie die zum Überleben erforderliche Kommerzialisierung nicht schaffte – oder nicht wollte -, machte die Zeitung in den Augen ihrer Anhänger nur noch sympathischer, beinahe zum Mythos. Denn alles andere wäre Verrat gewesen.

Solveig Grothe

Zum Weiterlesen: Sonner, Franz-Maria (Hg.): Werktätiger sucht üppige Partnerin. Die Szene der 70er Jahre in Kleinanzeigen, München 2005.


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