Materialien 1984

Der Kämpfer

Rudi Ganseier war »total zu«. Er stand in der eiskalten Winternacht an einer Haltestelle und wartete auf die Straßenbahn. Aber um 3 Uhr fuhr keine Straßenbahn. Er zündete sich eine Zigarette an, hielt sich mit einer Hand an der eisernen Stange der Haltestelle fest und schaute gähnend auf den dunklen Häuserblock hinüber. Er stierte auf das einzige erleuchtete Fenster. Das Licht der Glühbirne flimmerte verschwommen in seinen Augen. Er blies den Zigarettenrauch in die Kälte, gegen die eiserne Stange. Er wusste nicht genau, wo er war. Irgendwo im Münchner Osten. An die letzte Kneipe konnte er sich noch erinnern, an den dicken Wirt und an den Saufkumpan, der ihn da hingebracht hatte; an die letzte Halbe, die sie im Stehen getrunken hatten, dann riss der Film. Er wusste nicht, wo sein Saufkumpan war, wusste nicht, wie er hierher an diese einsame Haltestelle gekommen war. Er fingerte zittrig seine Geldbörse aus der Hosentasche und durch-
suchte im Licht der Straßenbeleuchtung die leeren Fächer – nichts, wieder mal hatte er die letzte Mark versoffen. Er war zum Umfallen müde.

»Solln s’ mich doch alle am Arsch lecken«, murmelte er vor sich hin. In den letzten Tagen und Wochen war er in völlige Resignation verfallen; hatte die paar Mark Arbeitslosenhilfe versoffen und kaum noch was gegessen. Seine Kamera und ein paar Schmuckstücke hatte er längst verkauft und in Alkohol und Zigaretten umgesetzt. Nur seine Armbanduhr besaß er noch. Er war am Ende. Am liebsten hätte er sich in den Schneehaufen an der Haltestelle gelegt und wäre abgesegelt von dieser Welt.

Was sollte er noch hier?

Er schwankte auf den Schneehaufen zu. Der kalte Tod war schmerzlos, man schlief ein und wachte nie mehr auf, hatte endlich seine Ruhe.

Damals, gleich nach der Entlassung, hatte er fast eine Ferienstimmung verspürt, hatte an seiner Wohnung herumgebastelt. Dafür blieb ihm früher nie Zeit. Aber als er dann nach vielen Bewer-
bungsschreiben und Vorstellungen noch immer keine neue Arbeit bekam, war ihm seine Lage erst richtig bewusst geworden. In den Büros wurden neue Leute nicht eingestellt, sondern die alten herausrationalisiert. Das war die Wirklichkeit. Er gehörte mit 48 Jahren bereits zum alten Eisen, war ohne jede Chance.

Er begann zu trinken. Zuerst nur ein paar Bier am Tag. Doch die Kneipen waren zu teuer. Er kaufte sich bei Aldi eine billige Flasche Korn und verkroch sich in seine Wohnung, ließ sich vollaufen, anfangs in Abständen, später fast täglich. Er stahl in Supermärkten und Diskontläden den Schnaps flaschenweise. Die Seitentasche seines Wintermantels war ein gutes Versteck. Er wurde nie erwischt.

Jedesmal, wenn er seine Arbeitslosenhilfe bekam und ein paar Mark in der Tasche hatte, wollte er unter die Leute. Da ging er dann in Kneipen, suchte sich Saufkumpane, wollte reden, lachen, vergessen, richtig leben, bis die letzte Mark versoffen war.

Mit der Arbeitslosenhilfe war er gestern gestartet, oder war es vorgestern, oder vor drei Tagen?
Er wusste es nicht mehr. Jetzt, vor Kälte und Suff zitternd, vor dem Schneehaufen der einsamen Haltestelle wusste er überhaupt nichts mehr. Wusste nur, dass er ein hoffnungsloser Fall war, ein alkoholkranker Arbeitsloser mit null Mark in der Tasche.

Der Schneehaufen schimmerte verführerisch. Die Straßenbahnschienen liefen geradlinig unter der Straßenbeleuchtung ins Unendliche. Niemand war auf der Straße. Er kniete sich hin, wollte sich langsam in den Schneehaufen legen, da sah er ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern daher kommen. Er rappelte sich auf. Es war ein Taxi. Rudi winkte, das Taxi hielt. Rudi Ganseier stieg in das Taxi ohne Geld. Im Taxi war es warm.

»Wo wollen Sie hin?« fragte der Taxifahrer.

Rudi überlegte, er war am Ende, hatte nichts mehr zu verlieren. »Fahrn S’ mich in die Nervenklinik, Nußbaumstraße. Ich hab kein Geld, aber die zahlen das schon in der Nußbaumstraße. Sie kriegen schon Ihr Geld.«

Der Taxifahrer fuhr zur Nußbaumstraße direkt vor das Portal der Nervenklinik. Ganseier und
der Taxifahrer stiegen aus. Die schwere Holztüre war abgeschlossen. Aber neben der Tür war ein Klingelknopf. Rudi läutete. Der Portier der Nervenklinik öffnete die Tür, ließ die beiden eintreten. Das große Treppenhaus der Nervenklinik war abgedunkelt.

»Was wollen Sie?« fragte der Portier.

»Zahln S’ bitte das Taxi, ich muss in Behandlung, dringend, ich hab kein Geld, ich brauch einen Arzt, sonst bring ich mich um.«

Der Portier schüttelte den Kopf.

»Ich kann Ihr Taxi nicht bezahlen, das geht nicht, Sie sind ja betrunken. Eine Frechheit, sich einfach mit dem Taxi da her herfahren lassen.«

Der Taxifahrer deutete auf Ganseiers Armbanduhr: »Geben S’ mir Ihre Uhr, dann ist die Sache erledigt.«

Ganseier gab ihm die Uhr. Der Taxifahrer ging. Die schwere Holztüre der Nervenklinik fiel ins Schloss. Das große Treppenhaus hallte, als der Portier sagte:

»Kommen Sie mit!«

Ganseier musste im Gang vor einer Zimmertür warten. Er setzte sich auf die Bank.

»Der Arzt kommt gleich«, sagte der Portier. Dann war Ganseier allein in dem breiten, langen Gang der Nervenklinik. An der Wand hingen Automaten für Zigaretten, Süßigkeiten und alkoholfreie Getränke. Neben der Sitzbank stand ein runder Sandkasten, wo die Leute ihre Zigarettenkippen reindrücken konnten. Rudi grub einen Kippen aus dem Sand, zündete ihn an. Drei, viermal konnte er ziehen, dann kam der Arzt heraus und holte ihn ins Arztzimmer.

»Was wollen Sie?« fragte der Doktor. Auf dem Schreibtisch brannte eine Lampe. Das Zimmer war ziemlich dunkel. Rudi sah den Arzt nur verschwommen. Er sagte:

»Ich bin alkoholkrank, arbeitslos, ich mach Schluss, wenn ihr mir nicht helft.«

Der Arzt schrieb etwas auf.

»Wie lange trinken Sie schon?«

»Seit meiner Arbeitslosigkeit.«

»Wie lange ist das her?«

»Fast zwei Jahre, glaub ich, oder ist’s schon länger, ich weiß jetzt nicht so genau.«

»Setzen Sie sich draußen wieder auf die Bank, wir holen Sie dann.«

Rudi ging leicht schwankend raus zur Bank. Er grub nochmal einen Kippen aus dem Sandkasten, aber er hatte kein Feuer mehr. Er warf den Kippen in den Sandkasten und legte sich auf die Bank.. Er schlief ein.

Um 6 Uhr wurde er von einem Pfleger geweckt. Der Pfleger brachte ihn zum ersten Stock rauf, wo eine kleine Suchtabteilung eingerichtet war.

Rudi musste sich wieder auf eine Bank setzen und warten, bis der Arzt kam. Rudi Ganseier schlief ein.

Um 9 Uhr weckte ihn ein jüngerer Arzt. Sie gingen ins Arztzimmer. Dort nahm Rudi auf einem Stuhl Platz. Der Arzt und ein Psychologiestudent musterten ihn. Der Student hörte nur zu, der Arzt fragte. Rudi sagte wieder das gleiche wie vorher. »Ich bin arbeitslos, alkoholkrank, ich weiß nicht mehr weiter, bin am Ende, bitte helft mir.«

Der Arzt sagte: »Bei uns können nur Leute aufgenommen werden, die mindestens drei- bis viermal an unseren Mittwochsgesprächen teilgenommen haben. Das wäre also frühestens in vier Wochen.«

Rudi schwitzte jetzt, erste Entzugserscheinungen stellten sich ein. Seine Hände zitterten leicht.

»Das nutzt mir nichts«, fuhr er auf, »ich brauch jetzt Hilfe, nicht in 14 Tagen oder 4 Wochen, jetzt! Von mir aus schiebt ihr mich nach Haar ab.«

Bezirkskrankenhaus Haar, das war die Suchtabteilung, wo die Zwangseingewiesenen ihren Entzug machten. Rudi wusste das von einem Saufkumpan.

Der Arzt fragte ihn, was der Unterschied sei zwischen einem Zwerg und einem Kind. Rudi stammelte irgend etwas Verworrenes. Danach musste sich Rudi fünf Wörter merken, und,
nach einigen Zwischenfragen, die Wörter dann aufzählen.

»Ich kann das jetzt nicht, ich weiß nichts mehr.«

»Haben Sie schon mal ein Delir gehabt?«

»Was für ein Delir?«

»Haben Sie schon mal Stimmen gehört oder Tiere und Menschen gesehen im Rausch, die in Wirklichkeit gar nicht da waren?«

»Ja, Stimmen hab ich gehört, aus der Kloschüssel heraus hab ich Stimmen gehört und Gelächter.«

Der Arzt stand auf: »Ich komme gleich wieder«, sagte er, ehe er rausging.

Rudi saß zusammengesunken auf dem Stuhl. Durchs Fenster sah er den Schnee auf den Dächern. Er bereute es jetzt, dass er hierher gekommen war. Hätte er sich nur in den Schneehaufen gelegt, dann wäre er schon längst abgesegelt, hätte seine Ruhe, wüsste endlich nichts mehr von diesem beschissenen Leben, hätte seinen Frieden.

Der Student sagte: »Zu uns kommen jetzt viele Arbeitslose. Sie brauchen sich nicht schämen. Solche, die über die Alkoholkranken lachen, können in ein paar Monaten selber hier sitzen.
Die Verhältnisse, Arbeitslosigkeit, keine Lehrstellen, Wohnungsnot, Vereinsamung, Familien-
schwierigkeiten usw. sind meistens schuld an der Alkohol- und Tablettensucht. Sie brauchen
sich nicht schämen, sowas kann jedem passieren …«

Rudi sagte: »Hätte ich mich nur in den Schnee gelegt heut nacht, dann hätt ich jetzt meine Ruhe, bräuchte den ganzen Zirkus da nicht mitmachen.«

»Vielleicht können wir Ihnen doch helfen.«

»Helfen? Für ein paar Tage, und dann steh ich wieder vor derselben Scheiße.«

Rudi hatte jetzt starke Entzugserscheinungen, zitterte, stand auf, setzte sich wieder. »Und dann«, sagte er, »steh ich wieder da und weiß nicht weiter. Hätt ich mich nur in den Schnee gelegt. Der kalte Tod, da spürt man nichts, der tut nicht weh, da hat man endlich seine Ruh.«

Der Arzt rief den Studenten ins Nebenzimmer. Rudi war allein. Seine Beine, auf denen seine zittrigen Hände lagen, waren jetzt unheimlich lang. Sie reichten vom Stuhl bis zu dem weit entfernten Fenster.

Durchs Fenster einfach rausspringen in den weichen Schnee.

Der Arzt und der Student kamen wieder.

»Sie haben Glück«, sagte der Doktor, »wir haben zufällig ein Bett frei, ein Patient ist abgehauen. Wir können Sie aber hier nur entgiften, dann müssen wir weitersehn. Den Entzug müssen Sie jetzt durchstehn.«

Ein Bett wurde ihm angewiesen in einem 10-Mann-Zimmer. Die Betten waren leer, die Patienten schon weg zur Therapie.

Die ersten zwei Tage waren fürchterlich. Rudi brach am zweiten Tag auf dem Gang zusammen, sein ganzer Körper verkrampfte sich. Er verlor das Bewusstsein. Ein paar Mitpatienten hielten ihn fest, einer holte den Arzt. Der Doktor kam mit dem Notwägelchen angerannt. Solche Anfälle waren gefährlich, weil sich der Patient im Krampf die Zunge abbeißen konnte.

Rudi bekam eine Spritze, danach schlief er ein paar Stunden. Als er aufwachte, wusste er nichts mehr von dem Anfall.

Er stand auf und ging in den Aufenthaltraum, wo einige Patienten zur Gruppentherapie beieinander saßen.

Jeder erzählte seine Story. Einer hatte im Rausch seine ganze Wohnungseinrichtung zerschlagen. Am Schrank, an der Tür, am Tisch, überall hatte er Leute gesehen, auf die er mit einem Stuhlbein einschlug, bis die ganze Wohnung zertrümmert war.

Eine tablettensüchtige Frau nickte nur mit dem Kopf und rieb sich die schweißnassen Hände. Sie wollte nichts erzählen. »Später«, sagte sie, »später.«

Ein kaufmännischer Angestellter war nach einer halbjährigen Langzeitkur rückfällig geworden.
Er war fest davon überzeugt, dass er es nach einer kurzen Entgiftung diesmal endgültig schaffen würde, dass er für immer trocken bleiben würde. » Ich rühre keinen Tropfen mehr an, nie mehr! Das weiß ich jetzt ganz sicher. Als Alkoholiker darf man nicht einmal mehr riechen an dem Zeug.«

Ein jüngerer Arbeiter erzählte, dass er mit Distro, einem Medikament, den Entzug schaffte. Sein Arzt hätte ihm dann immer wieder Distro verschrieben, das sei immer noch besser, als wieder Alkohol zu trinken, habe der Arzt gemeint. Aber der Arbeiter wurde sehr schnell distrosüchtig.
»Da hat man keine Fahne«, erzählte er, »aber man ist genauso hei wie bei einem Rausch.« Hier
in der Nervenklinik habe er nach dem Distroentzug zwei Anfälle gehabt. Beim letzten hätte er sich
in die Zunge gebissen. Aber jetzt sei er über den Berg.

Dann saßen noch zwei junge Männer da, die waren schon seit acht Tagen mit der sechswöchigen Entziehungskur fertig, konnten aber nicht entlassen werden, weil sie keine Arbeit und kein Zimmer hatten, sie wussten nicht, wo sie draußen schlafen sollten. Sie blockierten hier die Betten, nur weil sie draußen keine Zimmer und keine Arbeit finden konnten.

Rudi erzählte seine Geschichte. Wie er nach der Entlassung ganz langsam zu trinken angefangen hatte. Zuerst nur ein paar Halbe Bier, dann Schnaps, bis er schließlich fix und fertig war. Eigentlich wollte er sich in einen Schneehaufen legen und absegeln. Der kalte Tod ist schmerzlos. Aber dann sei ein Taxi gekommen, und er habe sich hierher in die Nervenklinik fahren lassen. Er habe Angst, denn was nützt ein Entzug, wenn man nachher keine Arbeit kriegt. Da steht man doch wieder da, allein vor der ganzen Scheiße. Da dauert’s doch nicht lang, dann sauft man wieder.

Der Psychologe sagte: »Das stimmt schon, aber in dem Maß, wie Sie erkennen, dass die Verhältnisse schuld sind bei Ihnen, in dem Maß, wie Sie sich dagegen wehren, mit anderen zusammen, in dem Maß sind Sie nicht mehr allein, stehen Sie darüber und haben mehr Chancen, trocken zu bleiben.«

»Wie soll ich mich denn wehren, wenn ich keine Arbeit krieg?«

Der Psychologe deutete auf den Psychologiestudenten, der auch dabei saß.

»Er spricht nachher mit Ihnen im Behandlungszimmer. Kommen Sie gleich nach der Gruppentherapie hier zu einer Einzeltherapie.«

Einige Zeit später saß Rudi allein im Behandlungszimmer. Der Student war nochmal weggegangen, er komme gleich wieder, hatte er gesagt.

Rudi stand auf. Er blickte durchs Fenster in den verschneiten Hof der Nervenklinik. Die Entzugserscheinungen waren vorbei, aber die Schneehaufen draußen fand er immer noch verführerisch. Sich da rein legen im Rausch, dann hätte man für immer seine Ruhe, wäre erlöst. Dann gäb’s keine Arbeitslosigkeit, keine Zimmersuche, kein Absagen – man hätte seinen Frieden, endlich Ruhe und seinen Frieden.

Der Student kam zurück. Er setzte sich neben Rudi.

»Ich bin ein Psychologiestudent, aber bald fertig. Was ich Ihnen jetzt sage, ist nicht unbedingt die offizielle Therapiemethode dieser Klinik. Sie verstehn, die offizielle Therapiemethode ist das nicht. Wissen Sie, die Verhältnisse, die oft zur Alkoholkrankheit führen, die werden hier offiziell nicht entblättert. Die können die Ärzte und Psychologen nicht ändern. Das ist ein Teufelskreis, und
ich sag Ihnen ganz ehrlich, aus dem kommen Sie nur heraus, indem Sie diese Verhältnisse durch-
schauen und den Teufelskreis durchbrechen. Sie dürfen die Schuld nicht immer bei sich selber suchen. Es ist zum Beispiel wissenschaftlich nicht geklärt, warum einer, wenn er was trinkt, Alko-
holiker wird und der andere, der das gleiche tut, nicht. Man weiß nicht, warum das so ist. Aber eines wissen wir, und das dürfen Sie mir glauben, in dem Maß wie ein Patient die Verhältnisse durchschaut und gegen sie bewusst ankämpft, in dem Maß hat er auch Chancen, die Sucht loszu-
werden, trocken zu bleiben. Natürlich, die Rückfallquote ist hoch und der Kampf ist schwer. Aber kämpfen ist Ihre einzige Chance, werden Sie ein Kämpfer!«

Der Student schwieg. Rudi blickte auf die Schneehaufen, draußen im Hof der Nervenklinik.

»Gegen wen soll ich denn kämpfen? Ich bin ein alkoholkranker Arbeitsloser, ein Würstchen. Da ist man doch machtlos gegen diese Verhältnisse, wie soll man denn da kämpfen?«

»Erstens«, sagte der Student, »Sie sind nicht machtlos, denn Sie sind nicht allein, es gibt viele Arbeitslose. Schließen Sie sich einer Arbeitsloseninitiative an. Die Leute dort kämpfen bewusst; gehen Sie zur Gewerkschaft, zu entsprechenden politischen Organisationen. Sie können nicht allein kämpfen, da erreichen Sie nichts, aber mit den anderen, mit den vielen zusammen, die unter den gleichen Verhältnissen leiden, da haben Sie eine Chance. Und merken Sie sich: wer kämpft, kann verlieren, aber wer nicht kämpft, hat schon verloren. Ihre einzige Chance ist, bewusst zu kämpfen. Die wirklich Schuldigen – verstehen Sie, die lachen doch nur, wenn Sie saufen und
sich in einen Schneehaufen legen und absegeln von dieser Welt, in der Sie für überflüssig erklärt werden von diesen Leuten. Aber wenn Sie kämpfen, lachen die nicht mehr, dann haben die Respekt vor Ihnen. Da sehn die, sie haben einen Gegner, der kämpft, und sie können dann nicht mehr so leicht machen, was sie wollen. Ja, sie haben sogar Angst vor euch, wenn ihr zusammen kämpft, bewusst und klug und schlau mit allen euch möglichen Mitteln. Dieser Kampf ist lang, schwierig, aber er macht euch stark. Viele, die so dran sind wie Sie, die haben schon Erfahrung,
wie man am besten kämpft. Kämpfen Sie mit Ihresgleichen bewusst, dann haben Sie eine Chance. Natürlich sollten Sie auch andere therapeutische Möglichkeiten ausnützen. Gehen Sie zu den Anonymen Alkoholikern. Und denken Sie daran, wenn Sie saufen, sind Sie kein Gegner für die Schuldigen. Dann lachen die nur über Sie. Hier bei uns werden Sie jetzt entgiftet, das dauert 14 Tage bis drei Wochen. Vielleicht machen Sie später auch noch eine Kur. Aber fangen Sie schon
jetzt an mit dem Kämpfen. Informieren Sie sich darüber. Und nach der Entgiftung können Sie jede Woche zu einem Gespräch reinkommen. Ich bin sicher, Sie haben eine Chance. Geben Sie sich nicht auf, kämpfen Sie! Sie wissen, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, das ist nicht unbedingt die offizielle Therapie dieser Klinik. Sie verstehen, gewisse Kreise hätten kein Verständnis dafür, wenn wir die Patienten anhalten, sich zu wehren, zu kämpfen. Das macht aber nichts. Besuchen Sie mich nach der Entgiftung, so oft Sie glauben, dass es nötig ist. Sie sehen, ich kämpfe auch, um Sie und gegen die Verhältnisse, die Sie krank machen. Und vergessen Sie nie: Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren. Ein Trinker kämpft nicht mehr.«

»Kämpfen, das ist natürlich leicht gesagt, aber das ist schwer für unsereins.«

»Das stimmt, wir sprechen in der Einzeltherapie weiter darüber. Und seien Sie anderen gegenüber vorsichtig, wie gesagt, es ist nicht unbedingt die offizielle Therapie dieser Klinik, was ich Ihnen
da jetzt gesagt habe. Aber verstehen Sie, das gehört auch zu unserem Kampf, dass wir es schlau anstellen. Ich bin Ihr Verbündeter, ich stehe auf Ihrer Seite, auf mich können Sie sich verlassen.«

Rudi und der Student gaben sich die Hand.

»Ich versuch’s«, sagte Rudi, »ich glaub fast, Sie haben recht. Aber so ein Kampf, das wird schwer werden.«

»Aufgeben und Saufen ist natürlich leichter«, sagte der Student, »da würden unsere Gegner nur lachen, wenn wir aufgeben. Wir haben nur eine Chance, wenn wir kämpfen, gemeinsam, und es gibt viele, die auf unserer Seite stehen. Wir sind vielleicht mehr, wie Sie jetzt glauben. Sie werden sehen, wer die krankmachenden Verhältnisse und ihre Schuldigen durchschaut hat, der hat die beste Aussicht, trocken zu bleiben und sogar zu gewinnen. Während Sie hier entgiftet werden, können wir jeden zweiten Tag eine Einzeltherapie machen. Und später können Sie jede Woche ein- oder zweimal kommen, wenn Sie wollen.«

Rudi bedankte sich und ging raus.

Draußen, am Gang der Klinik, ging er auf und ab und dachte nach. Er blieb vor einem Fenster stehen und blickte zu den Schneehaufen im Hof der Klinik hinab. Vielleicht war es doch gut, dachte er, dass ich mich nicht in den Schnee gelegt habe. Sie hätten nur gelacht über so einen Dummen, der sich selbst umbringt, weil sie ihm die Arbeit verweigern.

Rudi ging ins Treppenhaus raus. Im Parterre, über dem Lichthof des Treppenhauses war ein Netz gespannt. Es sollte die Geisteskranken abhalten, sich in den Tod zu stürzen. Ich bin nicht geistes-
krank, krank sind die Verhältnisse, die mich dazu gebracht haben zu saufen.

Rudi hatte bei einem Gruppengespräch von Suchtverlagerung gehört und gesehen, wie Leute statt Alkohol nun 20 bis 30 Tassen Kaffee soffen, oder 100 Zigaretten rauchten am Tag.

Die tablettensüchtige Frau kam auch ins Treppenhaus. Sie stellte sich neben Rudi. Die beiden blickten schweigend in das aufgespannte Netz. Die Frau fingerte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und bot Rudi eine Zigarette an. Rudi kämpfte, er hatte schon drei Tage nicht geraucht, weil er kein Geld für Zigaretten hatte. Sucht ist Sucht, dachte er, und wer kämpfen will, muss im Kleinen anfangen.

»Nein«, sagte er, »danke, ich will mir das Rauchen abgewöhnen. Drei Tage hab ich schon keine geraucht, und wenn ich jetzt wieder eine rauche, bin ich wieder drin.«

Die tablettensüchtige Frau schüttelte den Kopf und ging den Gang zurück in die Suchtabteilung. Rudi bereute es fast, dass er die Zigarette nicht genommen hatte. Aber nach einer Weile war er stolz – er hatte zum erstenmal ein bisschen gekämpft und einen kleinen Sieg errungen. Er hatte
ein gutes Gefühl, er fühlte sich besser und etwas stärker als früher.


Artur Troppmann, Der Xaver . Münchner Typen und Originale, Dortmund 1986, 185 ff.