Materialien 1984

Alle 17 Sekunden ein Arbeitsunfall

der nicht zu verschweigen ist, z.B. Ibrahim Gök
Alter: 23 Jahre, Beruf: in Ausbildung zum Offsetdrucker, Firma: F.C. Mayer Verlag, Kunigundenstraße 19, München, ca. 30 Beschäftigte

Bis Rosenmontag, den 5. März 1984 um 17.30 Uhr konnte Ibrahim die Hand seines rechten Armes zur Faust ballen. Dazu hatte er an diesem Tag auch allen Grund.

Weniger als eine Stunde ist es noch bis Feierabend. Ibrahim will seine Druckmaschine reinigen, er will pünktlich aus dem Laden kommen, er will sich abends mit seiner Freundin treffen.

Meister: Nein, zwei Farben des Auftrags werden heute noch gedruckt, da er morgen ja nicht arbeiten muss.

Ibrahim: An der Maschine müssen die Wischer neu überzogen werden. (Die Wischer sind Walzen, die die nicht farbtragenden Stellen auf der Druckplatte mit Wasser befeuchten.)

Meister: Nein, es handelt sich nur um ein kleines Format, wenn es da links und rechts auf der Platte schmiert, macht es nichts, ansonsten gibst du halt Wasser von Hand auf die Wischer.

Es hat immer wieder geschmiert. Ibrahim muss mindestens zehnmal von der Papierauslage zum Walzenwerk laufen, um Wasser auf die Wischer zu geben.

17.30 Uhr. Ibrahim hat jetzt schon 9¾ Stunden Arbeitszeit hinter sich. Die aufgebrummte Arbeit wird noch weitere ein- bis anderthalb Stunden dauern.

Doch dazu soll es nicht kommen.

Als Ibrahim zum wiederholten Male Wasser auf die Wischer gibt, rutscht er auf dem schmalen Trittbrett aus – verliert das Gleichgewicht. Dabei gerät die rechte Hand in das Walzenwerk. Sein Arm wird bis zum Ellbogen zwischen die Walzen gezogen. Mit letzter Kraft gelingt es ihm, mit der linken den Ausschaltknopf zu erreichen.

An der Stelle, wo Ibrahims Arm in das Walzenwerk gerät und zerquetscht wird, haben andere Druckmaschinen, neuere Modelle, ein Schutzgitter. Es hätte verhindern können, dass Ibrahim heute verstümmelt ist.

Ibrahim hängt noch mit seinem Ellbogen in der Maschine. Der Arm bricht ab! – schreit er, als der Unterarm mit seiner Hand schon am anderen Ende des Walzenwerks herauskommt. Ibrahims Meister ist zu dem Zeitpunkt, als der Unfall passiert, schon umgezogen, scheinbar gerade im Begriff nach Hause zu gehen. Nach zehn Minuten kommt die Feuerwehr, die noch ungefähr weitere zehn bis fünfzehn Minuten benötigt, bis die Walzen soweit abmontiert sind, dass das, was von einem gesunden Arm, der Hände schütteln, einen Kugelschreiber halten oder zärtlich sein konnte, noch erhalten war, herausgenommen ist.

Im Krankenhaus wird sein arm wieder angenäht, die erste Woche verläuft die Entwicklung auch positiv. Nach zwei Wochen Intensivstation, am 20. März wird Ibrahims Arm bis unterhalb des Ellbogens abgenommen.

Ibrahim kann inzwischen wieder lachen. Er übt sich in der Fertigkeit, jetzt mit links alles machen zu müssen, was vorher mit der Rechten ein Kinderspiel war. Er lässt sich nicht unterkriegen.

Die Geschäftsleitung des Mayer-Verlages hat sich bis heute weder bei ihm noch bei seiner Familie gemeldet – aber bei dem zweiten Lehrling der Firma. Ihn holt die Geschäftsleitung eine Woche eher aus der überbetrieblichen Ausbildung zurück in den Betrieb und lässt ihn Überstunden machen.

Die Maschine hat kein Schutzgitter . Der sie besitzt, braucht keines. Hauptsache er hat Arbeiter, die für ihn auch an der letzten Schrottmaschine arbeiten. Wenn es ein billiger Lehrling ist – umso besser für seinen Profit.

Aber die Maschine hat einen Knopf zum Ausschalten.


Kämpfende Jugend , hg. vom Bund Deutscher Pfadfinder im Bund Demokratischer Jugend Landesverband Bayern 2/1984, 4.