Flusslandschaft 1962

Kunst/Kultur

BILDENDE KÜNSTE und AKTIONEN

Dieter Kunzelmann intensiviert seine Kontakte mit Christofer Baldeney (theologische Vergan-
genheit, liest psychoanalytische Literatur und Herbert Marcuse) und Rodolphe Gasché (Luxem-
burger, Soziologie-Student), und bringt mit ihnen die Unverbindlichen Richtlinien I (1962) und II (1963) heraus. Im September trennt sich Kunzelmann von der Gruppe SPUR „wegen ideologischer Differenzen“. – Ab April 1965 arbeitet die Gruppe SPUR mit der Gruppe WIR zusammen und gibt im Dezember die Zeitschrift „SPUR-WIR“ heraus. Im Frühjahr 1966 schließen sich beide Gruppen zu der Gruppe „Geflecht“ zusammen. Siehe auch „Alternative Medien“.

Was ist an der „Großen Kunstausstellung“ im Haus der Kunst eigentlich groß? „… Die aufsehener-
regenden Novitäten haben wir gehabt, und es ist lange her – ein halbes Jahrhundert etwa … Nach-
dem das steile Aufwärts des Revolutionären in Breitenstreuung niedergefallen ist wie ein viel äuße-
re Kraft spendender Regen, hätte es in Tiefen eindringen und dann reife Frucht geben sollen. Dass dies aber – aufs Ganze gesehen – nicht eintrat, lehren schmerzlich viele jenes zweiten Aufgebots der modernen Kunst, das nach dem Zusammenbruch des Zweiten Weltkrieges zukunftsgläubig auf den Plan trat, und es lehrt vor allem das neue, das heutzutage junge deutsche Künstlergeschlecht. Kein Geschlecht von ‚zornigen jungen Männern‘ übrigens, sondern – wenn nicht alles trügt – wohl mehr eine Generation der zahmen Jünglinge, für die es sich nicht unwesentlich darum handelt, im Rahmen zu bleiben, bei Prominenz und Publikum kein Ärgernis zu erregen. Speziell nun zu dieser Ausstellung: Aufmerksamkeit weckende Taten weder bei den großen Alten noch beim Gros der Mittleren, noch bei den eifrigen Jungen, welche vor allem die artige Kunst zu beherrschen schei-
nen, es sich leicht zu machen. Keine Höhen, natürlich auch keine besonderen Zumutungen an Ni-
veaulosigkeit, sondern die weithin sich dehnende Ebene des Mittelmäßigen … Eberhard Ruhmer“1

Die Liga für Menschenrechte e.V. protestiert gegen die Aufstellung eines Denkmals für Aloys Kreittmayr.2

FILM

„Mach’ dir ein paar schöne Stunden, geh’ ins Kino.“ Dieser Slogan begleitet die meisten deutsche Filmen der 50er Jahre. Der kommerziell sehr erfolgreiche, aber anspruchslose „Heimatfilm“ lenkt ab vom Alltag, hilft bei der Verdrängung der Vergangenheit, klopft Rollenklischees und stereotype Handlungen fest und imaginiert ohne jeden künstlerischen Anspruch die idyllische heile Welt. Neben dieser reaktionären Unterhaltungsware haben kritische Produktionen, die inhaltlich und formal Neuland betreten, keine Chance. In Frankreich dagegen drehen Regisseure wie Jean-Luc Godard oder Éric Rohmer Streifen, die die eigene Herstellung thematisieren, den Zuschauer zur kritischen Auseinandersetzung herausfordern und neue Lebensentwürfe zeigen.

In München entstehen vergleichsweise viele Kurz- und Dokumentarfilme. In Schwabinger Kneipen hat sich um Haro Senft mit seiner 1959 in München gegründeten „Doc 59 – Gruppe für Filmgestal-
tung“ und Alexander Kluge eine Gruppe von Filmern geschart, die ein Manifest des neuen deut-
schen Films verfassen. Die Gruppe sieht es als vergebliche Liebesmüh an, damit in München an die Öffentlichkeit zu gehen. Hier befindet man sich medial in der Konkurrenz zur Yellow-Press und zur traditionellen Medienöffentlichkeit. Besser geschieht dies anlässlich der „8. Westdeutschen Kurz-
filmtage“ am 28. Februar 1962 in Oberhausen.3 Das Manifest begründet die Geburtsstunde des „jungen deutschen Films“. In den darauffolgenden Jahren wird der Begriff „Münchner Schule“4 oder „Münchner Gruppe“ meistens durch den Begriff „Oberhausener Gruppe“ ersetzt, weil die Öffentlichkeitswirkung des in Oberhausen verkündeten Manifests weit über das bisher von der Stadt München als Filmzentrum erworbene Ansehen hinausreicht.

Am 20. Juni 1962 gründen vierzehn Mitglieder der Gruppe in München eine gemeinnützige Ge-
sellschaft mit beschränkter Haftung mit dem Titel „Stiftung junger deutscher Film“, die später 1965 in die öffentliche Filmförderungseinrichtung Kuratorium junger deutscher Film umgewan-
delt wurde; Geschäftsführer wird Norbert Kückelmann. In der Gründungsurkunde sind die Ziele der „Oberhausener Gruppe“ noch ausführlicher formuliert als im so genannten Manifest.5 1965 wird das Kuratorium Junger Deutscher Film gegründet.

LITERATUR

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KABARETT

Es war der CSU-Politiker Hermann Höcherl, der am 14. November 1961 zum Bundesinnenminister ernannt wurde. Er war noch nicht fünf Tage im Amt, als er beschloss, den zivilen Bevölkerungs-
schutz und die Notstandsgesetzgebung zum Kern seiner Agenda zu machen. Als bald danach die erste amtliche Zivilschutzfibel des Ministeriums „Jeder hat eine Chance“ an alle Bundesbürger kostenlos verteilt wurde, las der überraschte Zeitgenosse, dass im Falle, wenn er einen Atomblitz wahrnehme, er sich doch auf den Bauch legen und seine obligatorische Aktentasche oder eine Zei-
tung über den Kopf halten solle. Wenn er in der Wohnung sei, möge er unter einen Tisch kriechen. Das war beruhigend. Nur nicht für die „Lach und Schießer“, die ihr 9. Programm 1962 unter das Motto „Überleben Sie mal!“ stellen. Hatte doch 1961 Karl Friedrich von Weizsäcker und andere ein Buch mit dem Titel „Kernexplosionen und ihre Wirkungen“ veröffentlicht, die die Höcherlschen Ratschläge als höchst absurd erscheinen ließen. Ursula Noack, Hans Jürgen Diedrich, Dieter Hil-
debrandt und Jürgen Scheller machen sich gleich in der Eröffnungsnummer mit Aktentaschen über dem Kopf über den Innenminister lustig und die Leute schlagen sich vor Lachen auf die Schenkel, obwohl es da eigentlich nichts mehr zum Lachen gibt. Die Premiere findet am 21. Febru-
ar statt.7

(zuletzt geändert am 2.6.2021)


1 Die Kunst und das schöne Heim 12 vom September 1962, München, 490.

2 Siehe „Ein Leimsieder war er nicht … München verbannt kritische Kunst“ von Reinhard Müller-Mehlis.

3 Siehe „Oberhausener Manifest vom 28. Februar 1962“ sowie www.oberhausener-manifest.com.

4 Für Thomas Brandlmeier gilt die „Münchner“ und „Neue Münchner Schule“ der Jahre 1962 bis 1967 als „Vorgeschichte des jungen deutschen Films“. Vor allem fällt ihm auf, dass Frauen, die in den Filmen auftreten, auf den ersten Blick wie aus den 1950er Jahren erschienen, dabei aber Dinge täten, die man ihnen nie zugetraut hätte. Ihre Widerparte wären „ausge-
flippte und versoffene Jungmänner“, die „mit der Vätergeneration permanent auf Kriegsfuß“ stünden. Thomas Brandlmei-
er: „Die Münchner Schule. Zur Vorgeschichte des jungen deutschen Films 1962 – 1968“, 64, in: Hilmar Hoffman/Walter Schobert (Hg.), Abschied vom gestern. Bundesdeutscher Film der sechziger und siebziger Jahre. Schriftenreihe des Deut-
schen Filmmuseums, Frankfurt am Main 1991, 50 – 69.

5 Vgl. dazu auch Michaela S. Ast, Der Junge Deutsche Film 1960 bis 1967. Ein Beitrag zur Genealogie. Inaugural-Disserta-
tion zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie in der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum, Bochum 2007. – Am Sonntag, 26. Februar 2012, findet um 11 Uhr im Münchner Filmmuseum zum 50. Jahrestag des Oberhausener Manifests ein Festakt mit Produzent Rob Houver, Alexander Kluge, Ronald Martini, Produzent Hansjürgen Poland, Edgar Reitz und Wolfgang Urchs statt. Vom 29. Februar bis 27. März zeigt das Filmmuseum Kurz- und Spielfilme der Unterzeichner und ihrer Nachfolger. Siehe www.filmmuseum-muenchen.de.

6 Komma-Klub, Umschlag eines Programmzettels vom Dezember 1962, Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbei-
terbewegung.

7 Im Netz ist eine Schallplatte mit der Programm-Nummer zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=CRS4UhF8WNw