Materialien 1985

SEK-Kommandos stürmen die Pariser Straße

Die ca. 20 Mann starken SEK-Rollkommandos hatten sich inzwischen gesammelt. Der Verkehr war mittlerweile zum Stillstand gekommen, die Ampeln abgeschaltet, die Rosenheimerstraße an der Orleansstraße und am Rosenheimerplatz abgesperrt. Herr Schweinoch, der Leiter der Polizei-
abteilung im Innenministerium, tauchte um diese Zeit auf.

In wellenartigen Bewegungen stürmten die SEK-Kommandos, gefolgt von 15 Mann starken Trupps von Zivilbeamten auf das Straßenfest zu, prügelten auf alles ein, was sich regte, und nahmen fest, was liegen blieb. Tränengas und lange Schlagstöcke wurden eingesetzt.

Dazu ein Augenzeugenbericht:

»Plötzlich stürmte eine Handvoll mit Helmen und Schildern bewaffnete Polizisten in die Straße hinein. Die Leute, die vor ihnen zurückwichen, wurden zum Teil von 2 – 3 Polizisten eingeholt und niedergeknüppelt, auch wenn sie keine Gegenwehr leisteten. Besonders dabei aufgefallen ist ein kleiner, untersetzter, krummbeiniger Polizist, der keinen Kopf mit seinem Knüppel ausließ, der in seine Nähe kam. Dieser Mann ist auch im weiteren Verlauf des Abends aufgefallen, weil er sich besonders provokativ verhalten hat. Er lief die meiste Zeit herum, den Knüppel in der Hand, als suche er weitere Opfer.

Nachdem die Handvoll Polizisten mehrere Leute zusammengeschlagen hatte, versuchte eine Gruppe von ca. 20 Leuten, sie zurückzudrängen, um die am Boden liegenden zu schützen. Darauf stürmten mindestens 50 weitere Polizisten in die Straße und prügelten darauf los. Ich entging dem gerade nur, weil ich mich noch an eine Haustür zurückziehen konnte, und dank meiner un-
auffälligen Kleidung.

Als die Polizisten, nachdem sie einige Leute zu dritt und zu viert verprügelt hatten, langsam be-
gannen, sich wieder zurückzuziehen, marschierte dafür ein Haufen Zivis in die Straße. 7 oder 8 von ihnen griffen sich scheinbar wahllos einen Punk und schlugen ihn zusammen. Als er am Bo-
den lag, wurde er von mindestens 5 Zivis mit den Stiefeln zusammengetreten. Diese machten nicht unbedingt den Eindruck von Polizisten, sondern eher den von betrunkenen Schlägern, die mal eben ihre Brutalität ausleben wollten. Solche Szenen wiederholten sich mehrmals. Ich wäre in der Lage, mindestens 3 dieser Schläger wiederzuerkennen, da ich nur ca. 5 Meter daneben stand. Ich hatte unwahrscheinliches Glück, da ich normal aussah. Die Polizisten stürzten sich nur auf Punks und Lederjacken wie abgerichtete Hunde. Die Szenen, die ich sah, erinnerten mich stark an Szenen aus der Gestapo-Zeit, so massiv und brutal war der Polizeiterror.«

(Ende des Augenzeugenberichts)

Der erste SEK-Trupp stoppte an der Balanstraße, die anderen Trupps trieben die Leute durch die Pariserstraße zurück, während die Veranstalter die Bühne und die Essensstände abbauten. Ein skurriles Bild …

Weitere 62 Leute wurden von den zivilen und uniformierten SEK-Greifern und sonstigen Polizisten festgesetzt. An der Balanstraße versuchten die Fliehenden, Ketten zu bilden. Die kurz verweilenden SEKs griffen sofort wieder an und jagten die Demonstrationsteilnehmer die Balanstraße hinunter. Ein wie ein Punk aussehender Mann zerschlug die Fensterscheibe der »Gaststätte Flieger«. Er wird noch in Erscheinung treten.

Die polizeiliche Prügelorgie ging bis zur Franziskaner-/Ecke Rablstraße und dauerte bis 21.15 Uhr. Es entstand eine kurze Pause. Die Festgenommenen wurden zu den Aufnahme- bzw. Gefangenen-
wägen gebracht. Die Pariserstraße war beidseitig betretbar. Einige Festteilnehmer hatten über die Hinterhöfe, z.B. Pariserstraße 12, das Weite gesucht.

Gegen 21.30 Uhr wurde die Pariserstraße an beiden Seiten durch die Polizei abgeriegelt. Leute wurden zwar noch reingelassen, aber nicht wieder hinaus. Einzelne, die aus der Falle heraus woll-
ten, wurde Tränengas ins Gesicht gesprüht. Die Gaststätte »Lyon« wurde unter Tränengas gesetzt. Aus dem »Griechen« wurden punkähnliche Personen herausgezogen. Kein Vorwand war den fest-
nehmenden Beamten zu dumm, um die Leute aus der Pariserstraße bzw. den Lokalen festzusetzen.

Einsatzleiter Baierl verkündete den Mitorganisatoren der Demo, dass alle Leute festgenommen werden würden, die sich in der Pariserstraße befänden. Auch das ZEF wurde umstellt, die noch anwesenden Festteilnehmer wurden von der Polizei aufgefordert, sich freiwillig festnehmen zu lassen, andernfalls würde der Laden zwangsweise geräumt. Weitere 43 Leute wurden festgenom-
men, nach Art. 16 PAG (Sicherungsgewahrsam), wie es am nächsten Tag hieß. Im Polizeifunk kam rüber, dass die Einsatzleitung über eine Stunde nach der Rechtsgrundlage gesucht hat. Dann end-
lich zur Erleichterung aller Beamten wurde das PAG hervorgezaubert. Das ZEF wurde durchsucht, der Hinterhof durchkämmt, schließlich das ganze Haus. An beiden Seiten des ZEF standen nun Polizeiketten, an den Straßenenden war ebenfalls alles dicht. Es wimmelte gerade so, wo Mensch hinsah: Polizei. Der Abtransport der Gefangenen machte Schwierigkeiten. Es standen nicht genug Gefangenenwagen zur Verfügung. Die Formblätter mit dem Festnahmegrund »Landfriedens-
bruch« und dem Verwahrschein für die Haftanstalt bereiteten den bürokratischen Polizisten Schwierigkeiten. Zwanzig Leute wurden wieder freigelassen, da nicht genügend Aufnahmekapazi-
tät vorhanden war.

Hier zwei Berichte von Augenzeuginnen, die ihre Festnahme schildern:

»Nachdem ich festgenommen war, fragte ich die Polizisten nach dem Grund meiner Festnahme. Sie konnten mir keinen nennen. Als ich sie daraufhin bat, mich doch wieder loszulassen, sagten sie, das ginge nicht. Sie sagten weiter, sie sähen den Grund ihres Einsatzes auch nicht ein, trö-
steten mich jedoch, und meinten, mir werde nichts passieren, ich hätte nichts gemacht, sie könn-
ten das bezeugen … Erst nach 15 Minuten wurde mir der Verhaftungsgrund mitgeteilt, nachdem sich mehrere Personen beratschlagt hatten. Die Polizisten sagten, es müsste ,Landfriedensbruch’ ausgefüllt werden …«

Augenzeugenbericht 2:

»Gegen 1 Uhr des 13.10.85 wurde ich zur ED-Behandlung gebracht. Der Polizist schrieb alles von einem kleinen Zettel ab, der bereits an der Tankstelle hinter der Balanstraße angefertigt wurde. Als es darum ging, ob es unter ,Festnahme’ oder ,Gewahrsam’ laufen sollte, fragte der Polizist, der den Zettel ausfüllte, seinen Kollegen, was er schreiben sollte. Dieser antwortete ihm: ,Das, was auf dem kleinen Zettel steht.’ Auf dem kleinen Zettel stand ,Gewahrsam wegen Landfriedens-
bruch; und der Polizist wollte es gerade schreiben, als ein höherer Beamter kam und ihm sagte, dass alles in der Ettstraße unter Festnahme läuft. Der Polizist schrieb also ,Festnahme’ auf den Zettel.«

Gegen 23 Uhr war die Polizeiaktion in der Pariserstraße abgeschlossen. Über Polizeifunk gab die Einsatzleitung durch, die Autonomen würden sich in den umliegenden Kneipen sammeln. Die Polizei riegelte daraufhin im »Müsliviertel« mehrere Kneipen ab, durchsuchte sie aber erfolglos nach sogenannten »Autonomen«. In 15 – 20 Autos starken Konvois rasten die Einsatzfahrzeuge der Polizei mit überhöhter Geschwindigkeit durch das eroberte Stadtviertel. Man hatte Flagge ge-
zeigt! Gegen 1 Uhr des 13.10.85, nachdem die Pariserstraße von den Mitarbeitern der Veranstalter, Anwohnern und Versammlungsteilnehmern besenrein gefegt worden war, hatte sich die Lage eini-
germaßen entspannt.

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Bilanz des Polizeiüberfalls am Abend:
110 Festnahmen
67 nach dem StPO wegen Landfriedensbruch u.a.
43 nach PAG (Sicherungsgewahrsam)
insgesamt 155 Festnahmen am 12.10.
Es ergingen 10 Haftbefehle, davon wurden 5 außer Vollzug gesetzt.
Der Großteil der Leute wurde am 13.10.85 zwischen 6 Uhr und 13 Uhr entlassen, nachdem sie die Nacht unter unmenschlichen Bedingungen in vollkommen überfüllten Zellen im Polizeipräsidium und den Haftanstalten Neudeck und Stadelheim verbracht hatten.


Ein bayerisches Lehrstück. Fotodokumentation Demonstration gegen die WAA in München 12.10.85 und Bauplatzbesetzung Wackersdorf 14.12.-16.12.85, München 1986, 52 ff.

Überraschung

Jahr: 1985
Bereich: Atomkraft

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