Materialien 1985

Südafrika-Protest im Münchner Residenztheater - und die Reaktion

Sepp Bierbichler
Persönliche Stellungnahme

Ich habe den Intendanten des Münchner Residenztheaters Frank Baumbauer um eine Ensemble-
vollversammlung gebeten, weil ich nicht nur per Vertrag Ensemblemitglied bin, sondern weil ich mich diesem Ensemble auch zugehörig fühle.

Die Resolution zur Inhaftierung von Pfarrer Kraatz ist durch mich ausgelöst worden. Als Auslöser für die Reaktionen gilt nicht der vom Theaterensemble angenommene Text, sondern die von mir gemachten privaten Anmerkungen. Deshalb habe ich gebeten, mich nach den Ereignissen der letzten Tage dem Ensemble erklären zu dürfen.

Ich war in meiner Schulzeit und den danach folgenden Halbstarkenjahren sehr intensiv mit einem Freund zusammen, der später Medizin studierte und vor etwa 15 Jahren mehrere Monate im Rah-
men seiner Medizinerausbildung ein Praktikum in einem südafrikanischen Missionshospital machte. Als er von diesem Auslandsaufenthalt zurückkehrte, hatte er sich in meinen Augen stark verändert. Die Gespräche mit ihm reduzierten sich fast nur mehr auf seine Erlebnisse in Südafrika. Er trat kurz nach seiner Rückkehr in die Antiapartheidbewegung ein, ich war gerade im ersten Jahr in der Schauspielschule. Von diesem Freund, der bis dahin politisch so desinteressiert war wie ich, erfuhr ich zum ersten Mal den Begriff Apartheid und was damit verbunden ist. Vermutlich, weil ich gerade am Beginn meiner Theatertätigkeit war und weil Theater für mich überhaupt etwas ganz Neues war, wurde für mich der Begriff Theater damals u.a. sehr stark geprägt vom Einfluss dieses mittlerweile in seiner Freizeit fast nur mehr politisch aktiven Freundes.

Politik ist für mich die Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens zur Verhinderung eines Chaos. Unter Chaos verstehe ich das enthemmte Zusammenprallen der Individuen zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Das organisierte und bewusst kalkulierte Chaos aber ist der Krieg. Krieg ist für mich die Umdrehung, also die Perversion von Politik. Da die Kriege der Ge-
schichte aber bisher immer von der herrschenden Politik und damit den jeweils Mächtigen aus-
gelöst wurden – auch den Bürgerkrieg betrachte ich letztendlich als das Produkt der im jeweiligen Lande herrschenden Politik -, begriff ich, dass Politik, wenn sie nur von einigen wenigen ausgeübt wird und nicht von allen, letztendlich zur Verwirklichung der Interessen dieser wenigen führt, auf Kosten aller anderen. Der Begriff Politik, so wie ich ihn verstehe, degeneriert zu einer Auffassung von Politik als „Maßnahme zur Führung und Erhaltung eines Gemeinwesens“ (Duden), selbst wenn dieses Gemeinwesen und seine Führung aufgrund der entstandenen Ungleichheit schon völlig verrottet sind. Politik dient nicht mehr zur Verhinderung des Chaos, sondern wird zum Vehikel des organisierten Chaos. Unsere eigene Geschichte hat es bewiesen durch den bisher schlimmsten aller Kriege.

Die Organisation des menschlichen Zusammenlebens beginnt im kleinsten Bereich, kann sich aber unmöglich auf diesen Bereich begrenzen. Wenn sie es aber aufgrund von Desinteresse und aus einem Gefühl von allgemeiner Zufriedenheit heraus trotzdem tut, dann ist das, gerade in einer De-
mokratie, der noch unsichtbare Beginn des Chaos.

Aus Angst vor dem Chaos und seiner kalkulierten Anwendung wurde ich, wie es heißt, ein politi-
scher Mensch. Und weil Politik nicht nur im kleinsten, sondern in allen Bereichen des menschli-
chen Lebens auftaucht, kann sie auch vor dem Theater nicht halt machen. Ich meine, Theater muss – so wie Heiner Müller das ausdrückt – subversiv sein gegen Desinteresse und das gefährliche Ge-
fühl allgemeiner Zufriedenheit. Aus diesem Verständnis von Theater habe ich nie einen Hehl ge-
macht, auch nicht, als ich hierher engagiert wurde.

Vor fünf Jahren trat ich selbst in die Antiapartheidbewegung ein. In Südafrika hat eine weiße Minderheit von ca. 18 Prozent das alleinige Wahlrecht gegenüber der farbigen Mehrheitsbevöl-
kerung. Die Aufteilung des Bruttosozialproduktes entspricht diesem Missverhältnis wie der Un-
terschied der Farben schwarz und weiß. Weil die schwarze Bevölkerung seit Jahrzehnten erfolg-
los versucht hat, ihre mittlerweile haustierhaften Lebensumstände mit gewaltlosen Mitteln zu verbessern und immer wieder durch den gewaltigsten Militär- und Polizeiapparat ganz Afrikas gewaltsam daran gehindert wurde, hat sich bei den schwarzen Afrikanern eine Situation ent-
wickelt, die ein südafrikanischer Geistlicher so beschrieb:

Sie haben vor nichts mehr Angst.

Die Folge sind sich täglich häufende, gewaltsame Demonstrationen mit immer mehr Toten und Inhaftierten. Die Polizei hat mittlerweile freie Hand, d.h. Polizeibeamte können für Übergriffe, die sie während ihres Dienstes begehen, gesetzlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Vereinten Nationen haben die Apartheidpolitik als Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt und den Naziverbrechen gleichgesetzt. Sie haben jetzt zu einem wirtschaftlichen Totalboykott ge-
gen Südafrika aufgerufen, als einzige Möglichkeit, ein furchtbares Blutbad zu verhindern. Die Re-
gierung der Bundesrepublik verweigert nach wie vor diesen Boykott. Deshalb habe ich als Mitglied der Antiapartheidbewegung am Ende der letzten Spielzeit eine Unterschriftenaktion an den beiden großen Münchner Theatern organisiert, zusammen mit Hanspeter Egel, gegen ein nur noch zwi-
schen Südafrika und der BRD existierendes Kulturabkommen. Die meisten von euch haben unter-
schrieben, und ich glaube, dass diese Haltung der beiden Theater auch ein Teil dazu beigetragen hat, dass das Kulturabkommen im Augenblick eingefroren ist.

Die Situation in Südafrika aber hat sich weiter verschärft. Die Boykottmaßnahmen der westlichen Industrieländer bleiben ganz aus oder werden nur zögernd verfolgt.

Weil es nötig ist, für einen gemeinsamen Protest zuerst einen gemeinsamen Nenner zu finden, ha-
be ich euch im vergangenen Sommer die Unterschriftenaktion ans südafrikanische Konsulat und unser Außenministerium und vor einer Woche die Solidaritätserklärung mit Pastor Kraatz als unseren möglichen Beitrag vorgeschlagen, die Südafrikapolitik unserer Regierung zu beeinflussen. Dass es dabei nicht um irgend eine parteipolitische Rechthaberei ging, sondern um die Frage: Mensch oder Vieh, die in unserer Geschichte schon einmal für zwölf Jahre offengehalten wurde, das war sicher allen klar.

Das war die Vorgeschichte, und zu der stehe ich nach wie vor. Zum Modus der Durchführung ge-
stehe ich ein, dass ich mich im Rahmen des Ensembles zumindest missverständlich verhalten habe. Aber ich glaube, nur als Mitglied eines Ensembles, das einen gemeinsamen Beschluss gefasst hat, nicht als Beschäftigter irgendeines Theaters, in diesem Fall des bayerischen Staatsschauspiels, und schon gar nicht als Schauspieler. Denn was Theater darf und was es nicht darf, hängt für mich von der jeweiligen Situation ab, sonst kann ich meine Ansicht von Theater, dass es subversiv zu sein hat gegen die Wirklichkeit, vergessen. Die Wirklichkeit aber verändert sich laufend. Niemand würde es wagen, einem von uns vorzuwerfen, er dürfe das nicht, wenn er während der Vorstellung seinen Monolog unterbricht, weil die Ablehnung des Publikums tumultartig geworden ist und ein Weitersprechen unmöglich, der Regisseur des Stückes aber den Monolog als ein durchgehendes Ganzes inszeniert hat. Das als Beispiel.

Ebenso gibt es den Tumult der Gefühle, wenn die Augen außerhalb des Theatergebäudes, in dem Bereich, aus dem wir unsere Informationen holen, um überhaupt spielen zu können, Schweinerei-
en ausmachen, die derartig schlimm sind, dass es nicht mehr zu ertragen ist. Natürlich hängt das, was die Augen sehen, davon ab, ob man es sehen will und wie es gesehen wird.

Hanspeter Egel hat mir am Abend des 19. November 1985, an dem ihr nachmittags die Resolution beschlossen habt, davon Kenntnis gegeben, ich solle bei der „Gust“-Vorstellung mit Robert Spitz zusammen die Resolution und den Antigone-Text verlesen.

Wir standen zusammen mit etwa 80 anderen vor dem Hotel „Vier Jahreszeiten“ in einer genehmig-
ten Demonstration gegen die Hanns-Seidel-Stiftung, die mit einer Delegation südafrikanischer Re-
gierungsmitglieder dort tagte. Die Demonstration war beantragt worden von der Antiapartheidbe-
wegung und den evangelischen Frauen gegen Apartheid. Diese Frauen stehen seit etlichen Mona-
ten einmal wöchentlich vor dem südafrikanischen Konsulat in München, um gegen die Apartheid zu demonstrieren. Seither haben sie vergeblich versucht, die Presse auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Was schlechte Presse für uns bedeutet, weiß jeder. Was eine ausbleibende Presse bei der Behandlung eines öffentlichen Ärgernisses bedeutet, müssten wir uns vorstellen können. Wir standen dort etwa zwei Stunden und sahen die Betroffenen aus- und eingehen, als wäre nichts, oder besser: als befänden sie sich in Pretoria.

Am Donnerstag vor der betreffenden „Gust“-Vorstellung las ich in der Frankfurter Rundschau einige Bemerkungen von Mitgliedern der Hanns-Seidel-Stiftung, die während der Sitzung gemacht wurden:

„… Hans Graf Huyn erläuterte die CSU-Position zu Südafrika, wo es zu keinem Zeitpunkt mehr Reformansätze gegeben habe als unter der Regierung Botha: ,Nicht Boykott üben, sondern die Hand reichen und helfen.’ Huyn lehnte erneut die Luxemburger EG-Beschlüsse ab und zeigte ,kein Verständnis’ dafür, dass EG-Außenminister mit der Forderung nach Südafrika gefahren seien, zuerst mit Inhaftierten wie Nelson Mandela, dem Führer der verbotenen Befreiungsbewegung Afrikanischer Nationalkongress (ANC), sprechen zu können. ,Wie würden wir reagieren’, fragte der CSU-Politiker, ,wenn der Außenminister bei uns verlangen würde, zunächst mit inhaftierten Mitgliedern der Baader-Meinhof-Bande zu sprechen?’“

Der ANC wurde 1912 gegründet zur Verteidigung der Rechte des afrikanischen Volkes, die durch das Südafrikagesetz von 1909 stark eingeschränkt waren. Die Organisation kämpfte 37 Jahre lang mit strikt verfassungsmäßigen Mitteln. Ich zitiere den Friedensnobelpreisträger Häuptling Luthuli, ehemaliger Präsident des ANC: „Wer kann leugnen, dass ich 30 Jahre meines Lebens damit ver-
brachte, vergebens, geduldig, gemäßigt und bescheiden an eine verschlossene und verriegelte Tür zu pochen? Welche Früchte hat diese Mäßigung getragen? Während der letzten 30 Jahre sind immer wieder Gesetze erlassen worden, die unsere Rechte und unseren Fortschritt mehr und mehr einschränkten, bis heute ein Stadium erreicht worden ist, in dem wir fast überhaupt keine Rechte mehr besitzen.“

In seiner Verteidigungsrede vor dem Hochverratsprozess zitiert Nelson Mandela aus dem 1961 beschlossenen Manifest des ANC: „Im Leben einer jeden Nation gibt es einen Punkt, an dem nur noch zwei Möglichkeiten zur Wahl stehen, nämlich entweder sich zu unterwerfen oder aber zu kämpfen. Südafrika ist an diesem Punkt angelangt. Wir werden uns nicht unterwerfen und haben daher keine andere Wahl, als mit allen in unserer Macht stehenden Mitteln zu kämpfen, um unser Volk, unsere Zukunft und unsere Freiheit zu verteidigen.“

Die politische Willensäußerung einer kleinen Gruppe in unserem Land wird vermutlich von weit über 90 Prozent der Bevölkerung nicht angehört und schon gar nicht unterstützt. Wenn diese Gruppierung aus Überzeugung oder Verzweiflung darüber Gewalt gegen Sachen und Menschen anwendet, dann ist das eine Methode, die wohl zu Recht mit dem Wort Terror beschrieben wird. Ich persönlich halte es für den falschen Weg zur Durchsetzung des eigenen Willens. Das ändert aber nichts daran, dass die Ursachen dieser Handlungsweise nicht nur bei den einzelnen Terrori-
sten zu suchen sind, sondern vor allen Dingen auch in der gesellschaftlichen Verfassung des je-
weiligen Landes. Das Recht, darüber laut nachzudenken, lasse ich mir nicht nehmen. Die Regie-
rung aber will diesen Gedanken tabuisieren, sobald er nicht in der von ihr vorgegebenen Weise gedacht wird.

Wenn aber die letztmöglichen Mittel von 80 Prozent schwarzer Bevölkerung zur Erhaltung der eigenen Würde als Terror bezeichnet werden, dann ist das freislerische Demagogie, bewusst ver-
wendet, um die Wahrheit zu verdecken. Derart beeinflusst, traf ich mich dann am Abend, eine Stunde vor der „Gust“-Vorstellung, mit Hanspeter Egel, der mich bat, ich möge die Resolution vor der Vorstellung verlesen, weil es für die folgenden Vorstellungen leichter sei, nachzuziehen. Ich sagte Hanspeter, wenn es keinen Beschluss gäbe, den Text unbedingt vor der Vorstellung verlesen zu müssen, dann würde ich ihn lieber während der Vorstellung einfügen, weil ich mir davon mehr Wirkung versprach. Und um jemand derart helfen zu können, wie wir es vorhatten, war es wichtig, Wirkung zu erzielen. Alles schien mir im Sinne meiner Theaterauffassung, denn was soll Theater anderes tun als wirken? Sei es im Hirn oder im Bauch.

Hanspeter sagte mir, einen derartigen Beschluss gäbe es nicht. Wenn, dann gäbe es nur die An-
nahme, dass so etwas nur vor der Vorstellung passieren könne. Das war von Hanspeter nicht spitzfindig gesagt, und so ist es auch jetzt nicht von mir gemeint. Einige Leute vom Ensemble haben das später bestätigt, während Frank Baumbauer der Ansicht war, es handle sich um einen Beschluss. Ich war für die Verlesung des Textes während der Vorstellung, weil ich eine entspre-
chende Erfahrung in den Kammerspielen gemacht hatte, wo wir vor einem Jahr während einer Kroetz-Vorstellung ebenfalls unterbrachen, um gegen ein anderes öffentliches Ärgernis zu prote-
stieren, die Stationierung amerikanischer Raketen in unserem Land. Die Zustimmung des Publi-
kums war einhellig, wogegen zur gleichen Zeit eine ähnliche Aktion von Erich Hallhuber im Cuvi-
lliés-Theater zu Beginn einer „Don Juan“-Aufführung zu erheblichen Protesten führte. Das ist keine Kritik an Erich, im Gegenteil. Da ich mittlerweile weiß, wieviel Angst es zu überwinden gilt, so etwas zu machen, fühle ich mich Erich sehr nah.

Das ist nur eine Beschreibung von Wirkungen. Jetzt zu der Stelle, an der ich den „Gust“ unter-
brach. Ich hatte mir ursprünglich eine andere Stelle ausgedacht, nämlich nach dem Schluss, der während des Stückes einmal abgegeben wird, der aber zu nichts führt. Hier hätte er endlich einmal zu etwas führen können. Ich hatte aber noch die Worte des Grafen Huyn im Ohr und sie bereits transzendiert, und dadurch entstand jene Situation, die bestimmt, was Theater darf und was nicht. Ich war so in Fahrt, dass ich die Vorstellung auch unterbrochen hätte, wenn es noch keinen Ge-
danken an eine gemeinsame Unterstützung der Opfer der südafrikanischen Mörderregierung ge-
geben hätte. Die Stelle für die Unterbrechung war durch die Behandlung des Wortes „Terrorist“ aus dem Munde des Grafen Huyn vorgegeben.

Der Satz in Achternbuschs Stück heißt: „Der letzte Terrorist ist mir lieber als der Erste von der CSU.“ Um Theater begreifen zu können und es zu verteidigen gegen die nie endenden Angriffe seiner Zensoren, muss dieser Satz im Zusammenhang mit dem Stück als auch außerhalb dieses Zusammenhangs untersucht werden.

Frank Baumbauer hat mir vor allen Dingen zum Vorwurf gemacht, dass ich durch Unterbrechung an dieser Stelle den Angriffen der Zensoren Vorschub geleistet und seine Bemühungen, diesen Satz als Teil eines künstlerischen Gesamtproduktes gegen die Zensoren zu verteidigen, unterlaufen hät-
te.

Die Argumente von Frank, warum dieser Satz als zugehöriger Teil des Ganzen gesehen werden muss, sind auch die meinigen. Wenn ein achtzigjähriger Bauer, nach einem entbehrungsreichen und von hitlerstaatlichen Würgemalen gezeichneten Leben, über Politik räsoniert und dabei tagespolitisch gesteuert zu diesem Satz findet, so ist daran nichts Besonderes, weil es der Logik des zuvor zwei Stunden lang geschilderten Lebens entspricht. „Gust“ ist ein Tonbandprotokoll mit dem Original, das zu fast drei Viertel wörtlich wiedergegeben ist. Ich habe mir einige Tage vor der Premiere das Band angehört und erinnere mich noch genau, wie ich diesen Satz vom Original gehört habe:

Als einen nebensächlichen Zusatz, als ob er sagen würde, das schöne Wetter hat der Bauer lieber als Regenwetter. Als ich das Stück zum ersten Mal gelesen habe, ist mir der Satz, das mag man mir glauben oder nicht, überhaupt nicht aufgefallen. Wer das Stück gesehen hat, und wer bei den Pro-
ben dabei war, der weiß, dass wir diesen Satz immer so behandelt haben, wie er im Stück steht: ohne besondere Aufmerksamkeit, als einen Ausschnaufer. Von dem Interesse an diesem Satz er-
fuhren wir erst nach der Begegnung mit dem Publikum und den nachfolgenden Reaktionen aus der Staatskanzlei.

Die Zensoren haben aus diesem Satz ein Plakat gefertigt, nachdem sie eine außerordentliche Wachsamkeit des Publikums registriert hatten. Der Skandal wurde nicht von uns gemacht. Der Skandal ist das gezielt auf den Markt geworfene Produkt der Getroffenen. Spricht heute noch jemand von den Inhalten der Flick-Geschichte? Man kennt doch nur noch die Namen Brauchitsch und Lambsdorff.

Weiß heute noch einer, wer Langemann ist? Der Name ist noch geläufig. Aber was war? Schwarz-Schilling? Kennt jeder. Und jeder denkt sofort an Sonnenschein. Und schon ist er bei seinem nächsten Urlaub. „Der Durchschnittsbürger verliert schlagartig sein Interesse, ohne dass die Schweinereien aufgehört haben. Ihm reicht es nach kurzer Zeit, wenn sie bekannt geworden sind, wenn es einen Skandal gab und er sich aufregen konnte. Das erscheint ihm als die wahre Freiheit.“ Das weiß die Staatskanzlei, und ich weiß es auch von meinem Freund Dario Fo aus Italien.

Aber muss ich mit dem zurückhalten, was ich weiß? Glaubt ihr, ich war blöd und wollte am Don-
nerstag einen Skandal? Im Theater ist nichts dergleichen passiert. Wo ist der Skandal entstanden? Doch erst in den folgenden Tagen. Und durch wen? Stoiber hat uns als verrückt bezeichnet.

Jetzt zum Satz aus dem Zusammenhang genommen: „Der letzte Terrorist ist mir lieber als der Erste von der CSU.“ Der letzte Requisiteur ist mir lieber als der erste Intendant. Der Requisiteur wird mich vielleicht als Freund betrachten. Aber habe ich dadurch den Intendanten beleidigt? Wenn sich der Intendant aber beleidigt fühlt, dann hat es doch etwas mit seiner Anschauung vom Requisiteur zu tun.

Der Oberste von der CSU ist offizielle Politik. Der letzte Terrorist wird von ihm nicht als einer anerkannt, der auch an der Organisation des menschlichen Zusammenlebens teilnehmen will. Wenn auch auf äußerst verzweifelte und zweifelhafte Weise. Er ist für ihn nichts anderes, als der Satz sagt: Das Letzte. Warum regt er sich aber auf? Weil für ihn das Letzte nichts Menschliches mehr ist. Deshalb hat er auch vor Jahren gesagt: „Sie haben sich nicht benommen wie Menschen, sie haben sich benommen wie Tiere. Deshalb dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie wie Tiere behandelt werden.“

Für den „Gust“ scheint die Sache anders zu liegen. Für ihn als Bauern läge es nahe, den Vergleich aus seinem naheliegenden Stall zu ziehen, wenn er wirklich, um noch markanter zu vergleichen, Tierisches herbeidenken wollte. Er tut es nicht. Also muss er doch an einen Menschen gedacht haben. Das ist der Unterschied zwischen dem Künstler und jenen Politikern, die nicht mehr kon-
trolliert werden können, weil sich schon zu lange zu viele an der Organisation des menschlichen Zusammenlebens nicht mehr beteiligt haben.

Die Kunst hat sich mit dem Phänomen Terrorismus so befasst, wie es das Phänomen „menschliche Vielfalt“ erfordert. Die offizielle Politik hat das nie gemacht. Sie unterscheidet zwischen Freunden und Gegnern. Und wenn es sich um Gegner handelt, die bereits in der Verzweiflung leben, weil sich die offizielle Politik bereits auf dem Wege zur Organisation des aufkommenden Chaos befindet, dann hat sie das Wort „Terrorist“ parat, und sie weiß, dass die Propaganda funktioniert hat und alle das Wort so verstehen, wie es von ihr, der offiziellen Politik, gemeint ist. Deshalb heißen die Baader-Meinhofs genauso wie die ANCler, die Palästinenser heißen genauso wie die ETA und die IRA.

In Afghanistan aber heißen sie Freiheitskämpfer, in Angola heißen sie prowestliche Befreiungsor-
ganisation, weil sie mit unserem Geld das machen, wofür sie das Geld erhalten, und in Nicaragua heißen sie Konterrevolutionäre, kurz Contras, weil in unserem Land im Jahre 1919 die Konter-
revolution siegreich war und bis heute siegreich ist. Deshalb wurden Achternbusch und ich von Stoiber für verrückt erklärt – vorerst -, und in Russland sitzen sie – bereits – in psychiatrischen Anstalten.

Ich will nicht werten, und ich will nicht sympathisieren.

Ich will nur sagen: Die Machtverhältnisse entscheiden über den Begriff, und wie man ihn zu verstehen hat. Nur zur Erinnerung, Graf Stauffenberg war damals auch ein Terrorist.

Und weil ich noch etwas Menschliches retten wollte, weil ich dieser nazihaften Demagogie, die Vertreter der 80 Prozent schwarzen Bevölkerung in Südafrika seien Terroristen, an die Gurgel gehen wollte, deshalb habe ich an diesem Abend den umstrittenen Satz aus dem Zusammenhang genommen und ihn frei wiederholt: „Der letzte Terrorist ist mir lieber als der Erste von der CSU.“ Dass ich dazu einen Missbrauch des Theaters betrieben hätte, mag ich nicht einsehen. Mit Trage-
lehn zusammen, bei unserer ersten Arbeit in Stuttgart, haben wir mehrmals einen Shakespeare-Text, dem Ort entsprechend, an dem wir gerade spielten, aktualisiert. Natürlich mit dem Regisseur zusammen. Im Fall des „Gust“ hocke ich täglich zu Hause mit dem Regisseur beim Mittagessen. Generalintendant Everding sorgt sich plötzlich um das künstlerische Seelenheil von Achternbusch. Wenn ich wirklich falsch war an diesem Abend, dann ist das schon manische Verlogenheit.

Es gab das Argument, wenn so etwas durchginge, dann könnte das morgen jeder machen. Wenn das so wäre, dann würde es mich auch nicht stören. Aber es wird sowieso nicht passieren. Einer, der in der allgemeinen Zufriedenheit lebt, der hat ja gar nicht den Grund, soviel Mut aufzubringen, um so was zu machen. Ich habe ja keine Werbung betrieben. Ich habe nur auf für mich unerträgli-
che Zusammenhänge hingewiesen.

Dass ich mich mit diesem Gefühl der Unerträglichkeit in der Minderheit befinde, war in diesem Fall mein grundgesetzlich gesicherter Vorteil.

Die Minderheit wird immer zu radikaleren Darstellungsformen finden, weil sie die Wirklichkeit radikaler erfährt. Ihr Protest wird lauter sein, um überhaupt gehört zu werden, und er wird sich logischerweise immer gegen die Mehrheitsverhältnisse richten. Die Verfassung aber gewährt ein Recht für Minderheiten.

Robert Spitz und ich haben an diesem Abend einen Fehler gemacht, und den gestehe ich ein. Wir haben den Beschluss des Ensembles eigenmächtig erweitert. Wir hätten vermutlich an diesem Abend auf den Beginn der allabendlichen Verlesung verzichten sollen. Gut.

Aber ich garantiere euch: Das Verbot des Ministeriums wäre immer gekommen, weil die die Sache als solche nicht brauchen können, und nicht nur die von uns gewählte Form.

Wenn wir aber den Vorgaben der Zensoren nachgeben, dann sind wir als Theater tot. Wer aber will schon an einem toten Theater spielen? Das ist doch erst für den nächsten Herbst angesagt.

In Brechts Stück sagt am Schluss der Galilei:

„Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die Astrono-
mie die Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen hervorrufen können.“

Die Kenntnis von den Verbrechen in Südafrika hat mittlerweile wirklich buchstäblich die Markt-
plätze erreicht. In England haben 100.000 Menschen demonstriert, in Amerika lassen sich Künstler vom südafrikanischen Konsulat weg einsperren, Musiker auf der ganzen Welt verweigern mittlerweile ihre hochdotierten Auftritte in Sun City und überweisen ihre Gagen an den ANC. Unter diesen ganz besonderen Umständen ist die Zusammenrottung von Politikern, Militärs, Banken und Rüstungsindustrie unterm Dach der Hanns-Seidel-Stiftung zu sehen (es dreht euch die Zehennägel um, wenn ihr die Namensliste durchlest). Und diese ganz besonderen Umstände diktieren auch die Reaktion aus dem Ministerium, um ja keine Standhaftigkeit aufkommen zu lassen, die auch in unserem Land ansteckend wirken könnte. In der Abendzeitung vom 24./25. November 1985 ist der bayerische Kultusminister als Präsident der deutschen Katholiken zitiert. Dort muss er nämlich schon etwas anders reden, weil die sogenannte Basis schon etwas anders denkt. Die Berichte der katholischen Missionare sind nicht mehr zu ignorieren: „… Hans Maier (CSU) forderte die ,wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kräfte’ der Bundesrepublik auf, sich mit Nachdruck für Reformen in Südafrika einzusetzen.“


kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 2/1986, 114 ff.

Überraschung

Jahr: 1985
Bereich: Kunst/Kultur

Referenzen