Flusslandschaft 1985
Kunst/Kultur
„Erst wenn der letzte Künstler Politiker geworden ist, wird man begreifen, dass es nicht an Poli-
tikern gemangelt hat.“ Alexeji Sagerer
Am 10. November eröffnet die Stadt mit einem Konzert in der Philharmonie das Kulturzentrum Gasteig. 1971/72 begannen die Planungen. 1977 fand der Bauwettbewerb statt. Die Baukosten stie-
gen von anfangs 80 auf inzwischen 380 Millionen Mark. Ob der „Verschwendung“ von Steuergel-
dern rumorte es im Volk. So stieß 1981 die Stadt das halbfertige Bauwerk ab. Heute ist der Haus-
eigentümer eine Leasing-Gesellschaft; die Stadt München ist lediglich Mieter eines Großteils der Räume. Am Ende muss vor allem die Kasse stimmen.
Frieder Köllmayr, der vor allem auch mit dem DGB-Bildungswerk zusammenarbeitet, formuliert ein neues heimatverbundenes Geschichtsverständnis und einen Kulturbegriff, der einige Linke er-
staunt.1
BILDENDE KÜNSTE
HA Schults Aktion „Zerbrochene Träume“ von 1984 provoziert zwiespältige Resonanzen. Das Kunstmagazin art fragt: „Dürfen Künstler so weit gehen?“ Heinz Anger aus München antwortet: „Ich würde die Frage so verändern: Wie weit müssen Künstler gehen? So weit, bis sie mit ihrem Werk in Übereinstimmung stehen. Wann dieser Punkt erreicht ist, fühlt meiner Meinung nach nur der Künstler selbst, und ich sehe es als Verpflichtung an, diesen Punkt immer wieder zu suchen, egal, wie weit weg er von Gewohntem oder ,Normalem’ ist. Ich setze es als selbstverständlich vor-
aus, daß er dabei nicht das Leben anderer gefährdet. Speziell zu der Aktion ,Zerbrochene Träume’ von HA Schult: Ich kann diese Aktion sehr gut verstehen. Ich sehe auf dem Foto einen Porzellan-
hund, massenweise hergestellte 08/15-Gläser, billig und einfallslos gebaute Möbel, lieblos und leblos hergestellten Ramsch, Kaufhausware sozusagen. Ist es nicht eigentlich traurig, daß da Men-
schen beschäftigt sind, diesen ganzen Kram herzustellen, zu transportieren) zu kaufen und zu verkaufen? Klar, man muß solch hohle Ware akzeptieren, schließlich gibt es ja genug Leute, die Freude empfinden am Besitz solcher Gegenstände. Meiner Meinung nach wird durch die Produkti-
on und den Verkauf dieser Kitsch-Einrichtungsgegenstände eine Geistlosigkeit am Leben erhalten, die sich überall im öffentlichen Leben auswirkt und es auch größtenteils bestimmt. Könnte man darüber sich nicht manchmal so wütend und ohnmächtig fühlen, daß man Lust hätte, wie HA Schult, diesen ganzen Schrott zu zerdonnern? … Ich sehe diese Aktion als eine der wichtigsten und zeitgemäßesten der letzten Monate an.“2
3
In der Edition Staeck erscheint Daniel Spoerris München-Ansicht. Ganz offensichtlich potenziert der Künstler Triviales mit Trivialem; der Marienplatz entblößt sich nur noch als Kulisse.
„»Weichenstellungen«: Ab aufs Einheitsgleis? Der Münchner Kunstverein hat einen neuen Leiter: Zdenek Felix, 47, vorher Oberkustos und Ausstellungsleiter des Folkwang-Museums Essen. Jubel in den lokalen Feuilletons: »Ein Gewinn für München« (SZ), »Man darf sich freuen« (AZ). Der Freude war im Boulevardblatt »Abendzeitung« eine rüde Kampagne gegen den Felix-Vorgänger Wolfgang Jean Stock vorausgegangen, der seinen Direktorenposten aufgab, nachdem sich die ge-
gen ihn engagierte Fraktion im Kunstverein durch eine wundersam angewachsene Zahl von Neu-
eintritten erstaunlich vergrößert hatte. Die Vorwürfe aus diesen Reihen gegen Stock (fast wort-
identisch mit den AZ-Anwürfen): er habe es als Direktor an Innovationsdrang mangeln lassen, Kunstvereins-Eigenproduktionen seien ebenso wie Münchner Künstler zu kurz gekommen. – Daß dem nicht ganz so gewesen sein konnte, registrierte jetzt rückblickend auch die SZ: immerhin stieg in der siebenjährigen Amtszeit Stocks der Gesamttaushalt des Vereins von 90.000 auf 430.000 Mark im Jahr, von den 60 Ausstellungen. die er organisierte, waren die Hälfte Eigenproduktionen. »Die Umsätze bei den Jahresgaben der Bildleihstelle stiegen von 40.000 auf 120.000 Mark. Münchner Künstler kamen also in den Jahren seit 1978 nicht zu kurz« (SZ, l.7.85). Was war also los? Kurz vor dem endgültigen Eklat hatte es im Kunstverein eine Ausstellung südafrikanischer Fotografen gegeben: »Nichts wird uns trennen« (vgl. auch tendenzen Nr. 147, S. 76 f.). Offizielle Organe des Apartheid-Regimes intervenierten, unterstützt von ihrer großbürgerlich-bayrischen Sympathisantenszene. Natürlich will jetzt niemand aus dieser Richtung zu den »Weichenstellun-
gen« im Kunstverein (so der neue Vorstand in einer Presseerklärung) motiviert worden sein, auch nicht durch die realistische und gesellschaftskritische Orientierung etlicher vorangegangener Ausstellungen. – Vom neuen Direktor jedenfalls braucht man in dieser Richtung kaum etwas zu befürchten. Seine bisherigen Visitenkarten-Künstler heißen Kirkeby und Kounellis, Merz und Kiefer, Cucchi und Dokoupil. Markt hoch drei – aber vielleicht ist das gerade das »Innovative«, das »München-spezifische«, woran es bisher angeblich gemangelt hat. Wer mag diese »Weichenstel-
lungen« schon Wende nennen – führen sie doch lediglich aufs bundesdeutsche Kunst-Einheits-
gleis.“4
Überall Kulissen, simuliert und heroisch aufgeladener Plunder, selbstgefällige Hochstilisierung von Malerfürsten, abgrundtiefe Theoriefeindschaft bildender Akteure und naive Kunstwissenschaftler, die dem inszenatorischen Spuk auf den Leim gehen, kein Ort, nirgends. So das vernichtende Urteil von Bazon Brock, zur Zeit Professor für Gestaltungstheorie an der Gesamthochschule Wuppertal. Halt, zwei Münchner Inszenierungen sind zu gutieren.5
LITERATUR
Manche Gedichte verrätseln, schaffen gewollt Uneindeutigkeit, können aber andererseits auch Assoziationen auslösen und führen mit Andeutungen des Unbehagens zu kritischen Haltungen.6 Oder?
THEATER
Die Vereinigung deutschsprachiger Bürgerinitiativen zum Schutz der Menschenwürde erhebt gegen das Theaterstück „Bauern Sterben“ von Franz Xaver Kroetz (Uraufführung am 9. Juni) Strafanzeige wegen pornographischer und gotteslästerlicher Äußerungen. Kroetz: „Manche
Leute regen sich dann auf, wenn ein Künstler die Obszönität der Wirklichkeit schildert. Über
die Obszönität der Wirklichkeit aber regen sie sich nicht auf. Sie zeigen den Künstler an, nicht
die Wirklichkeit!“7
Sepp Bierbichler spielt in Herbert Achternbuschs „Gust“, verlässt während der Aufführung die Bühne und protestiert dagegen, dass die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung Politiker aus Südafrika eingeladen hat. Dies ruft das Kultusministerium auf den Plan.8 Franz Xaver Kroetz initiiert inzwi-
schen eine Gruppe „Künstler gegen Apartheid“. „Letzten Ausschlag dazu gab das »Politik- und Strategiesymposium« der CSU-Hanns-Seidel-Stiftung im vergangenen Herbst in einem Münch-
ner Nobelhotel, zu dem der Polizei- und Informationsminister Südafrikas geladen waren, rechte Politprominenz von Strauss bis Wörner, ZDF-Löwenthal, Ex-SA-Mann und Bundespräsident Carstens, der Generalinspekteur der Bundeswehr Wolfgang Altenburg, der Präsident des Bundes-
nachrichtendienstes Wieck, Herr Rogers aus den USA, die Spitzenmanager Engelberg und Hort von MBB, Lothar Müller von der Landeszentralbank und Graf Preysing von BMW. Eine überdeut-
liche Dokumentation von Interessenidentitäten.“9
Am Sonntag, 1. Dezember, veranstaltet das Bayerische Staatsschauspiel um 11 Uhr eine Südafrika-Matinee im Theater im Marstall. Die Schauspieler setzen damit ihren Protest gegen die „mittler-
weile offenkundig faschistischen Zustände in Südafrika“ fort, der ihnen auf der Bühne des Resi-
denztheaters vom Kultusministerium untersagt worden ist.
(zuletzt geändert am 14.5.2025)
1 Siehe „Schwierige Heimat: Bayern“ von Friedrich Köllmayr.
2 art. Das Kunstmagazin 3 vom März 1985, Hamburg, 128.
3 Privatsammlung
4 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 151 vom Juli – September 1985, 82 f.
5 Siehe den Ausschnitt aus „Rückblick auf ein Jahr der Flaute“ von Bazon Brock.
6 Siehe „München“ von Harald Kaas.
7 Zitiert in: Datenbank zum Literarischen Leben in den deutschsprachigen Ländern, www.literarischesleben.uni-goettingen.de/frame_einfachesuche.html.
8 Siehe „Südafrika-Protest im Münchner Residenztheater – und die Reaktion“ von Josef Bierbichler sowie „Der letzte Terrorist?“ von Helmut Schödel und „Wir müssen einen Schmerz erzeugen. Im Gespräch: Josef Bierbichler“ von Doris Heselberger. Vgl. tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 153 vom Januar 1986, 4 f.
9 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 153 vom Januar – März 1986, 3.
10 Süddeutsche Zeitung 296 vom 24./25./26. Dezember 1985, 24.