Materialien 1985
Bewusstseinsverwüstung
„Die Überschwemmung mit Billigunterhaltung und Werbung als Mittel der Bewusstseinsver-
wüstung“ war ein Referat überschrieben, das Oskar Neumann vergangenen Herbst im Rahmen eines Seminars „Neue Medien – Kommerzfunk“ in München hielt. Veranstalter waren im Gasteig-Kulturzentrum die Filmgruppe „Das Team e.V.“ und das Kulturreferat der bayerischen Landes-
hauptstadt. Uns scheinen Oskar Neumanns Ausführungen, die sich im Seminar vor allem an Spiel- und Dokumentarfilmer richteten, für die aktuelle „Kunst-und-Medien“- Diskussion auch unter bildenden Künstlern von Bedeutung (Red. tendenzen).Billigunterhaltung und Werbung stehen in der Überschrift für diesen Teil unserer Tagung als gleichrangige Komponenten, deren mediale Vermittlung über den Kommerzfunk das Bewusstsein des Publikums verwüstet. Ich halte aufgrund der bisher vorliegenden Erfahrungen dafür, dass Werbung das eindeutig bestimmende Moment im System der Kommerz- bzw. Konzernmedien sein muss: anders ist nach den Marktge-
setzen, konform auch mit der Sicht der Betreiber, ihr Zweck – profitabel bis höchst profitabel zu sein – nicht zu realisieren. Die der Werbung in der Marktwirtschaft eigenen Gesetzmäßigkeiten müssen daher das Bestimmende, auch das Umfeld Prägende sein, zu dem Unterhaltung damit de-
gradiert wird.
Werbesendungen können nicht aufklärerisch sein. Aufklärung, dabei das offene Diskutieren von Vorteilen und Nachteilen, das Anbieten von Alternativen, alles übrigens Wesenselemente auch einer politischen Kultur, die sich an Arbeitnehmerinteressen orientiert, genau das läuft dem Wer-
bezweck zuwider, den potentiellen Kunden dahin zu bringen, dass er seine kaufkräftige Nachfrage auf Waren richtet, auch wenn er sie so nicht braucht, Dienstleistungen in Anspruch nimmt, auch wenn sie ihm nichts nützen. Nun darf aber diese Werbung von ihrem Umfeld nicht gekontert wer-
den, sie soll von ihm mittransportiert, bestätigt und bekräftigt werden – bis dorthin, wo die Film-
heldin, der Filmheld selbst Werbeträger für bestimmte Uhren, Koffer, Schmuckstücke, Kleider, Genussmittel, Autos, Sportartikel etc. werden. Daraus ergibt sich die Tendenz bis hin zum Zwang, Unterhaltung ebenfalls antiaufklärerisch wirksam zu machen. Das gilt um so mehr, als hier Profit-
interessen der Betreiber und konservatives Machtinteresse unbedingt Hand in Hand gehen: Wir erleben ja als zentrales Anliegen der Rechtswender ständig das Antiaufklärerische, den Antiratio-
nalismus, die Metaphysik der Werte, den Mystizismus, bis dorthin, wo laut Staatssekretär Spran-
ger nicht mehr die tatsächliche Millionenarbeitslosigkeit, die tatsächlich stationierten Erstschlag-
waffen Angst und Perspektivlosigkeit hervorrufen, sondern die solchen Gegenständen gewidmeten realistischen Sendungen (von denen es weiß Gott viel zu wenige gibt!) in öffentlich-rechtlichen Anstalten. Aus der Sicht von rechts bis rechtsaußen wird dabei schon nicht mehr unterschieden zwischen Nachrichtengebung, Dokumentation oder künstlerisch-fiktiver Gestaltung. Nicht erst die Tendenz, Änderungsbedürftigkeit und Änderbarkeit zu entdecken, sondern Realität schlechthin wird tabuisiert. Sie wird zugedeckt; und alle menschlichen Mittel zur Aneignung der Wirklichkeit drohen in den Kommerzmedien tabuisiert zu werden: die praktischen wie die theoretischen, die wissenschaftlichen wie die ästhetischen. Eben das rechtfertigt, ja zwingt, von Bewusstseinsverwü-
stung zu sprechen, einer Gefahr, die bei den Abnehmern aus der Arbeiterschaft am höchsten ist, weil dort aufgrund der Arbeitsbedingungen mit einem besonders hohen Maß an kompensatori-
schem Bedarf während der Freizeit zu rechnen ist. Und weil dort gleichzeitig durch die Mängel der Schule, infolge der vorenthaltenen Entwicklung der ästhetischen Ansprüche und der kulturellen Selbsttätigkeit, auch Widersprüche gegen Billigunterhaltung allemal gehemmt sind. Dazu kommt noch die Verteuerung von Kultur bei stagnierendem bis sinkendem Realeinkommen.
Dem Thema entsprechend kann das Bild, das ich hier zeichne, nur denkbar düster sein. Es wird sich so, da bin ich recht sicher, nicht herstellen lassen. Zum ersten aufgrund der heftigen inneren Reibungen und Widersprüche des Systems Kommerzfunk. Zum zweiten, weil der von Marcuse pro-
gnostizierte „eindimensionale Mensch“ nicht machbar ist; sekundäre – also auch medial vermittel-
te – Erfahrung ist nicht in der Lage, primäre Erfahrung, etwa am Arbeitsplatz, völlig zu verdrän-
gen. Das gilt vor allem dann, wenn ein organisiertes Verarbeiten dieser Erfahrung, etwa in den Gewerkschaften oder in Bürgerinitiativen, erfolgt und von daher gemeinsamer Widerstand gegen Entwicklungen geleistet wird, die derart eindeutig, wie eben der Kommerzfunk, vitalen Interessen der körperlich und geistig arbeitenden Mehrheit unserer Bevölkerung zuwiderlaufen.
Da mit der Erfahrung des Faschismus und des totalen Kriegs ein höchst fatales Modell von Medi-
enmanipulation bekannt war, ging die Schaffung der öffentlich-rechtlichen Medienstruktur von der Absicht aus, eine gewisse Distanz gegenüber den Zentren wirtschaftlicher und staatlicher Macht zu gewährleisten. Das konnte – und sollte wohl auch – nur sehr relativ gelingen. Dieser relative Fortschritt droht nun der Monopolisierung der Medien zum Opfer zu fallen, damit wenige Besitzer höchste Profite machen und damit sie durch ihre Verfügungsgewalt den generellen Typus Werbefernsehen herausbilden, der mehr als bisher geeignet erscheint, Abnehmer so zuzurichten, dass sie sich nicht nur dem Warenangebot. sondern auch dem Angebot von Politik gegenüber als Konsumenten verhalten. Und das nicht nur vor dem Fernseher, sondern auch im Betrieb, in der Gesellschaft, im Staat. Gerade die Gefährdung des Rechts auf Frieden, die Verweigerung des Rechts auf Arbeit verlangen, dass die entsprechende Politik „verkauft“ wird nach dem Angebots-
modell von Waren, die der aggressivsten, verdummendsten Werbung um so mehr bedürfen, je geringer ihr Gebrauchswert für ebendiesen Käufer ist. Also wird die Politik wie die Ware fetischi-
siert, entsachlicht, personifiziert, mystifiziert: Den Tennisschläger in der Hand von Boris Becker beim Sieg in Wimbledon – den muss ich haben, dann bin ich wer. Und die Wunderwaffen, die Reagan und Kohl für uns anschaffen wollen – die müssen wir haben, dann sind wir wer. Der Schlüssel, der die Welt der Erfolge aufsperrt, ist das Geld – der absolute Wert in der Hierarchie
der Werte, die Garantie für Potenz im Bett wie in der Weltpolitik. Was kann Kunst da noch für eine andere Aufgabe haben, als den Schein von Ewigkeit, Heiligkeit darüberzubreiten? Übrigens ein Wesen, das der künstlerischen Darstellung gerade von seiten der spätbürgerlichen Ästhetik ganz direkt zugeschrieben wird, bis dahin, wo „Heiligkeit der Kunst“ zum Kriterium gemacht wird gegen alles Kritische, Engagierte, gar Systemverändernde bei den „Entarteten“. Solche Künstler werden bei den Kommerzmedien nicht gebraucht werden – und keiner mache sich die Illusion, das Kunst-
privileg des Grundgesetzes schütze die Freiheit seines Arbeitens und seiner Arbeit, wenigstens im Bereich von „gehobener Unterhaltung“.
Da sind die Wegmarken schon anders gesetzt – in der Achternbusch-Debatte des bayerischen Landtags z.B., wo Kultusminister Maier im Werk Achternbuschs vielfach eine Entfernung aus dem Kunstraum, hin zu tagesaktuellen Bezügen konstatierte, womit es sich eben nicht um Kunst, die frei ist, sondern um Meinungsäußerung handele, die den Einschränkungen der Verfassung und der Gesetze unterworfen sei. Dass man das in den Häusern Siemens, Bertelsmann und Springer nicht lockerer sieht, darf vorausgesetzt werden. Das muss nicht unbedingt heißen, dass ein als werbe-
wirksam erwiesener „Pluralismus“ nicht auch weiterhin seine Reservate behält – am ausgefransten Rand der einen oder anderen Spielwiese. Das hängt gar nicht so sehr von den mehr oder minder edlen Absichten des einen oder anderen Betreibers ab, der vielleicht durchaus selber von Unabhän-
gigkeit, von Opposition träumen mag. Was sich durchsetzen wird, das sind die Gesetze des Markts, sobald man die Medien marktkonform strukturiert. Dann dominiert eben die Flut US-amerikani-
scher Krimi- und Westernreihen, der Hollywoodserien zwischen „Dallas“ und „Rambo“, die schon aus Kostengründen den Vorrang erhalten müssen, und ab und zu gibt es einheimische „Lebens-
freude“, einen kommerzialisierten Bajuwarismus etwa, zu dem alle Jubeljahre Oberammergau so gut gehören kann wie Bayreuth.
Zu der „Qualität“, die dann dominiert, gehört auch, dass die importierte Billigunterhaltung zerstö-
rerisch wirken wird gegen national-kulturelle Identitäten. Darauf hinzuweisen hat rein gar nichts zu tun mit chauvinistischer Borniertheit, wohl aber mit der Sorge, dass gerade wir nationales Erin-
nern, zu verstehen als kritische Aufarbeitung unserer Geschichte durch das Wirksamwerden unse-
rer demokratischen, antimilitaristischen und antifaschistischen Kulturelemente, lebens- und über-
lebensnotwendig brauchen. Dem Marktmodell müsste das zum Opfer fallen.
„Kulturangebote um die Ecke“, auf deren kreative Bedeutung die Hamburger Kultursenatorin Helga Schuchardt große Stücke hält, reichen dagegen nicht aus. Sie könnten dort so integriert werden, dass wir am Ende auch noch den Kakao saufen, durch den man uns zieht: will sagen, dass die Resultate der US-importierten und der gleichgewichtig BRD-gefertigten Raster so tief in die Denk-, Fühl- und Verhaltensstruktur eingegraben und der Aufnahmeapparat so desensibilisiert sind, dass nicht gänzlich Konformes kaum mehr positiv wahrgenommen oder schon im Sinne des Gesamtschemas umgedeutet und eingeordnet wird.
Dem Künstler dagegen Eindeutigkeit abzuverlangen, zeigt Vertrauen in die Macht der Kunst, macht indes wenig Sinn. Die IX. von Beethoven war spielbar im Programm der faschistischen Kriegsverlängerung. „Alle Menschen werden Brüder“ konnte dabei gesungen werden, nachdem „geklärt“ war, dass deutsche Antifaschisten und Kriegsgegner, Juden oder Slawen als „Untermen-
schen“ zu gelten hätten. Diese Erfahrungen zu verdrängen, zu vergessen, hieße Gefahr laufen, sie wiederholen zu müssen.
Wir brauchen das Bewusstsein des ganzen Umfangs möglicher Bewusstseinsverwüstung, nicht um uns vor der drohenden Gefahr wie das Kaninchen vor der Schlange zu verhalten, sondern um alle Chancen des Widerstands wahrzunehmen. Mit seinen schwachen Möglichkeiten jeder einzelne, mit ihren starken Mitteln die Organisation, auf deren Entwicklung ich dabei vor allem hoffe: unse-
re Mediengewerkschaft mit dem Rückhalt des DGB.
Oskar Neumann
tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 154 vom April 1986, 5 f.