Materialien 1986
Die Vergangenheit in der Versenkung verschwinden lassen ...
… wir können nicht aussteigen aus unserer Geschichte, wir können auch nicht die guten Kapitel raussuchen und die schlechten Kapitel rausreißen.
Aber, die deutsche Geschichte hat nicht mit Adolf Hitler begonnen und ist mit Adolf Hitler zu Ende gegangen. Die deutsche Geschichte ist mehr als nur eine Kette von Fehlern, Irrtümern, Katastrophen, Skandalen, Zusammenbrüchen. Sicherlich hat die deutsche Politik in diesem Jahrhundert schreckliche Fehler begangen, Fehler bis in den Bereich des Verbrecherischen hinein. Aber, zur deutschen Geschichte gehört nach Hitler auch Konrad Adenauer …
Wir müssen auch schrittweise, ich darf sagen, Meile für Meile auf einem Weg zurücklegen, in dem die Vergangenheit allmählich bewältigt und in der Versenkung, oder Versunkenheit besser gesagt, verschwindet. Denn die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftspolitische Dauerbüßeraufgabe lähmt ein Volk! Das sage ich, der ich eingeschworener Feind des damaligen Systems war, bis zum letzten Tage meiner Militärzeit und das mit großen Risiken und mit einigen geretteten Menschenleben, um mich noch sehr bescheiden auszudrücken.
Deshalb ist es auch falsch, wenn die Deutschen sich immer als die Prügelknaben der Welt betrachten müssen und wenn immer wieder die unzähligen Geister der Vergangenheit beschworen werden. Wir sind eine normale, tüchtige, leistungsfähige Nation, die das Unglück hatte, zweimal schlechte Politik an der Spitze ihres Landes zu haben.
Auch der Frage weichen wir nicht aus, auch wenn ich sie hier nicht länger behandeln kann, wie es zu Hitler kommen konnte. Es kommt ja immer wieder die Frage, angeblich von den Jungen gestellt, an uns. Meine Kinder stellen sie nicht, weil ich sie von Anfang an als Geschichtslehrer aufgeklärt habe über die Zusammenhänge. Wie konnte es zu Hitler kommen? Ich bitte niemanden, beleidigt zu sein. Ich bin alles andere als jemand, der eigene Schuld abwälzt und auf fremde Schultern hinüberträgt. Aber ohne den törichten Vertrag von Versailles und ohne dieses Massenelend der damaligen Arbeitslosigkeit in den Jahren 1930, 31, 32 wäre Hitler nicht an die Macht gekommen.1 Es ist kein Vorwurf gegen Frankreich und England, es ist nur das Fazit, das der Historiker zieht, wenn man die Zusammenhänge sieht. Hitler konnte sowohl das deutsche Volk täuschen, er hat auch die Westmächte getäuscht, bis zum Frühjahr 1939, bis zum Tag des Einmarsches in Prag … Darum kann man nicht den kleinen Leuten bei uns anlasten, dass sie etwas hätten erkennen müssen, was die weisesten Geister der Menschheit größtenteils damals nicht erkannt hatten.2
Und damit – Verbrechen sind nicht nur von Deutschen begangen worden. Es sind auch Verbrechen in gewaltiger Zahl und schrecklicher Brutalität an den Deutschen und ihren Verbündeten begangen worden, ohne dass ich hier in Einzelheiten gehen will. Wir haben ein Zeitalter der Barbarei erlebt. Die Barbarei ging aus von der brutalen Politik Hitlers, aber die Faszination der Barbarei hat auch andere dann angesteckt. Wir wollen jetzt nicht in der Barbarei oder ihrer Bewältigung fortfahren, wir wollen ein Zeitalter der Humanität, der Freiheit und des Rechtes aufbauen für alle Menschen in ganz Deutschland und in Europa, und darum kämpfen wir gegen das sowjetische Machtsystem.
Franz Josef Strauß
Rede auf dem Wahlkongress der CSU am 21./22. November 1986 in München
Bayernkurier vom 29. November 1986, 22 f.
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1 Strauß verlagert die Ursachen auf außerdeutsche Voraussetzungen. Die Siegermächte, vor allem die Franzosen, haben den Versailler Vertrag erzwungen. (Und kein Wort davon, dass die Folgen des Versailler Vertrags im Laufe der Zwanziger Jahre Schritt für Schritt abgemildert wurden.) Schließlich hat das Naturereignis der international wirkenden Wirtschaftskrise die Not Ende der Zwanziger Jahre verursacht. Damit verschweigt Strauß gleichzeitig die entschiedene Mitverantwortung der konservativen politischen Eliten und der Unternehmer und ihrer Verbände in der Weimarer Republik an der Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Horkheimer meinte einmal, wer vom Faschismus reden wolle, müsse auch vom Kapitalismus sprechen. GG.
2 Wie verträgt sich diese Wahrnehmung mit der Überlieferung im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, die an Beispielen aufzeigt, dass viele der so genannten „kleinen Leute“ vor 1933 warnten, „Hitler zu wählen bedeutet den Krieg zu wählen“, und dass viele der so genannten „kleinen Leute“ die ersten waren, die in die Konzentrationslager eingeliefert wurden? GG.