Materialien 1987

Die Angst vor den Frösten der Freiheit

Kreon:
Wenn sie sich ungestraft das leisten darf,
Bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann!
… Drum gilt’s, das Ordnung-Schaffende zu schützen
Und ja nicht einem Weibe sich zu beugen!
Wenn’s sein muss, besser, mich verdrängt ein Mann,
Dann heißt es nicht, ich lasse Weiber herrschen.
Sophokles: Antigone

So wenig wir über das Matriarchat oder einzelne matriarchale Gesellschaften wissen, als gesichertes historisches Wissen, das sich von retrospektiver Träumerei unterscheidet, so sicher können wir annehmen, dass sich das Patriarchat als Herrschaft nur in langwierigen und blutigen Kämpfen durchsetzen konnte. In der europäischen Geschichte zeugen davon die antiken Dichtungen und Amazonenfriese, die Hexenverfolgung und noch die Ethik Rousseaus und der Code Napoleon. Erst mit dem nicht nur ökonomischen sondern gesamtgesellschaftlichen Sieg des Bürgertums ist die Unterwerfung der Frau und damit ihre Inferiorität in Europa besiegelt. Doch auch nach dieser vorläufig totalen Niederlage des Geschlechts begehren immer wieder einzelne Gruppen von Frauen gegen ihr nunmehr als »natürlich« definiertes Schicksal auf.

In Teilen Europas lebten im 16. und 17. Jahrhundert durchaus noch Frauen, die es nicht nötig hatten, sich einem sogenannten Beschützer zu unterwerfen. Grimmelshausen beschreibt in seiner »Courage« ein solches Frauenleben des frühen 17. Jahrhunderts, ein Leben, das hart war aber selbständig, bedroht, aber stets bereit, der Bedrohung zu trotzen. Unzählige Frauen schlugen sich in dieser Zeit selbständig durch, als Handwerkerinnen, Fahrende und Marketenderinnen, Hebammen und Trickbetrügerinnen. Von einer Unsichtbarkeit der Frauen, ihrem Verschwinden in der Reproduktion konnte keine Rede sein. Im Gegenteil, die Frauen stellten quantitativ die Mehrheit der Bevölkerung. Sie waren laut, frech und unbotmäßig, und sie mischten in allen Sekten und Aufstandsbewegungen aktiv mit. Sie stellten ein brodelndes Potential der Revolte, einer Revolte, die die geistliche wie die weltliche Macht gleichermaßen bedrohte. Die Hexenverfolgung, die den Aufstieg des Bürgertums begleitete und von der sich formalisierenden weltlichen Gerichtsbarkeit organisiert wurde, diente als Instrument zur Niederschlagung dieser latenten und gelegentlich akuten Revolte der unbotmäßigen Weiber. Nach der Ermordung von (je nach Schätzung) neun bis 30 Millionen Frauen in nur zwei Jahrhunderten waren die Überlebenden und Nachkommenden großteils so eingeschüchtert, dass sie sich dem Regime des nunmehr bürgerlichen Patriarchats mehr oder weniger beugten. Denn so, wie die Folter nicht nur der Erpressung von Informationen dient, sondern (unter anderem) auch der Einschüchterung der noch nicht Gefolterten, so diente die öffentliche Verbrennung der Hexe nicht nur der Bestrafung der Beschuldigten, sondern gleichermaßen der Einschüchterung der noch nicht Beschuldigten. In einem Klima, in dem jede Frau eine potentielle Hexe ist, erlernt sich ein Verhalten, das eventuell hilft, solchem Verdacht zu entgehen, schnell.

Die bürgerliche Revolution liquidierte den Rest an überlebender weiblicher Unbotmäßigkeit. Marie Antoinette wurde der Kopf nicht nur abgeschlagen, weil sie Königin war. Sie wurde auch enthauptet als Symbol für die »Sittenlosigkeit« der alten Gesellschaft. Lange vor ihrer Enthauptung wurde von den männlichen Revolutionären eine Kampagne angezettelt, in der die Königin zum Inbegriff der Verkommenheit stilisiert wurde: nymphoman und lesbisch, ehebrecherisch und machthungrig. Die Patrioten diffamierten sie überdies als Fremde, und last not least wurden ihr Beziehungen zu Giftmischerinnen, als Hexen, nachgesagt. Die Revolutionärin Olympe de Gouges ahnte den tieferen Sinn dieser Kampagne. Auch sie wurde geköpft. Die Masse der »Bürgerinnen« jedoch ließ sich betrügen, fiel auf den sexistischen Popanz herein und forderte das Haupt der Königin noch vor dem des Königs. Zur Belohnung erhielten sie das bürgerliche Regime des Ehemannes, versüßt durch das hymnische Lob ihrer weiblichen – bürgerlichen Tugenden: Sittsamkeit, Gehorsam und eheliche Treue

„Die Negation des Falschen bleibt noch falsch.Ihr fehlt der dialektische Umschlag, die Aufhebung also.“Bert Brecht

Den Frauen wurde aufgrund ihres Gebärvermögens die soziale Last der gesamten Reproduktion aufgezwungen, eine Last, die ihrer gesellschaftlichen und politischen Durchsetzung hinderlich war. Wird jedoch – wie in vielen, auch feministischen, Theorien – das Übel auf seinen Ursprung, die biologische Differenz zwischen den Geschlechtern, reduziert, so wird damit die Reduktion der Frau auf die Gattung unwillentlich affirmiert, wird die Zwecklüge des Patriarchats noch in ihrer Negierung übernommen. Diese Theorien ignorieren, dass die Reproduktionsarbeit, oder Gesellschaftsarbeit, keine unveränderliche Größe ist, sondern sich historisch verändert und formiert.

Die historische Entwicklung der Kindererziehung ist dafür exemplarisch. Bis in das 18. Jahrhundert wurden Kinder nicht erzogen. Sie wurden ernährt und wuchsen quasi nebenbei innerhalb des Familienverbandes auf oder innerhalb der sozialen Gruppe, in der die Mutter sich bewegte. Als Säuglinge wurden sie in Steckkissen gezwängt, um sie problemlos bei der Arbeit ablegen zu können: auf dem Feld, im Stall, in der Werkstatt, auf dem Trosswagen, auf dem Handkarren der fahrenden Händlerin. Ungewünschte bzw. überzählige Neugeborene wurden getötet. Frauen, die es sich finanziell leisten konnten, übergaben das Kind einer Amme, bis es alt genug war, um nicht mehr störend zu wirken. Die angeblich angeborene Mutterliebe ist eine bürgerliche Erfindung. Reproduktionsarbeit bedeutete nicht zu allen Zeiten, was sie für die bürgerliche Hausfrau bedeutet, die sie alleine bewältigen muss.

Die Mehrheit der Frauen war zudem nie auf die Reproduktion beschränkt. Frauen arbeiteten immer auch in der sogenannten Berufswelt. Sei es in der Landwirtschaft, sei es in Manufakturen bzw. Fabriken, sei es im Handel, sei es im Dienstleistungssektor. Sie waren stets präsent, phasenweise so präsent, dass sie von ihren männlichen Konkurrenten bekriegt wurden, wie die Zunft-Handwerkerinnen, die Hebammen, die Bierbrauerinnen, etc. Noch im 19. Jahrhundert kollaborierte die junge deutsche Arbeiterbewegung mit den reaktionären Schneidergesellen, um das von Frauen dominierte Schneiderhandwerk in Männerhand zu bringen.

Dem frühen Industrie-Kapitalismus war es noch ziemlich gleichgültig, wie sich die Ware Arbeitskraft reproduzierte. Entscheidend war ihre radikale Vernutzbarkeit, ihre »Befreiung« von jeder anderen Existenzmöglichkeit, um uneingeschränkt über sie verfügen zu können. Erst die technische Höherentwicklung der Produktion ergab die Notwendigkeit, den Arbeitenden bestimmte Qualitäten zu verschaffen bzw. anzuerziehen, wie Zuverlässigkeit, Gesundheit, bestimmte Grundkenntnisse, Pünktlichkeit, etc. Diese Qualitäten mussten im Rahmen der Reproduktion geschaffen und gesichert werden, also von der Haus- und Beziehungsarbeit der Frau, der dieser Bereich a priori zugewiesen war. Der Frau wurde somit faktisch enorme Mehrarbeit aufgebürdet, während der Mann durch Auszahlung des Familienlohnes in seine Hand zum Ernährer der Frau deklariert wurde. Die sich formierende Arbeiterklasse adaptierte das bürgerliche Ideal der Familie, die »nichtarbeitende«, d.h. nicht lohnarbeitende Ehefrau wurde zum Desiderat des männlichen Arbeiters, zum Signum des Aufstieges aus proletarischem Elend zu bürgerlicher Sittlichkeit.

Real konnte diese »Idylle« noch lange nicht durchgesetzt werden. Zum einen reichte der Familienlohn häufig nicht aus, um tatsächlich eine Familie zu erhalten. Zum anderen trugen auch die nicht (mehr) lohnarbeitenden Frauen wesentlich zum Einkommen bei. Sei es durch Heimarbeit, sei es, dass sie kleine Felder oder Schrebergärten bewirtschafteten. In jedem Falle aber durch ihre Sparsamkeit, die ihnen zusätzliche Mehrarbeit abverlangte: lange Wege, um billige Lebensmittel zu organisieren, eigenhändige Kleiderproduktion, die Versorgung von Untermietern etc. Was sich jedoch durchsetzte, war die Degradierung der Leistungen der Frau zum »Mit«. Sie war, nicht zuletzt aufgrund der niedrigen Frauenlöhne, bestenfalls »Mitverdienerin«. Ihre »Naturalienwirtschaft«, ohne die die Familie nicht hätte überleben können, drückte sich nicht in Geld aus und war somit wertlos.

Verschwunden ist also selbst in hochkapitalistischen Zeiten eventuell Madame Bovary. Nicht verschwunden ist die reale Frau des Volkes. Ihr Fluch liegt nicht in einer faktischen Reduktion auf die Reproduktion, sondern darin, dass sie realiter immer doppelbelastet arbeitet, in Produktion wie Reproduktion, gesellschaftlich aber so behandelt wird, als leiste sie gar nichts. Die patriarchale Theorie und Gesellschaftspolitik arbeiteten systematisch an der Unsichtbarmachung der Frauen, die im praktischen Leben nicht zu übersehen waren. Ihr Verschwinden wurde so lange behauptet, bis sie sich selbst als nichtexistent beziehungsweise als Anhängsel des Mannes begriffen.

Dies gilt für einen großen Teil der Frauen Europas. Auch in den Ländern der drei Kontinente setzte sich das Patriarchat durch, teils »selbständig«, teils als Frucht des Kolonialismus. Und auch dort etablierte sich die Macht der Männer in einer langen und widersprüchlichen Geschichte von Kämpfen, über die hier bezeichnenderweise noch sehr viel weniger bekannt ist als über die Schlachten und Gefechte des Patriarchats in Europa.

„Gerade die Fragen, die uns bedrängen, weigern wir uns zu formulieren.“Merleau-Ponty

Die historische Analyse leugnet nicht die vorhandene biologische Differenz. Tatsächlich unterscheiden sich die Körper der Geschlechter in ihren Funktionen zur Produktion der Gattung. Der Mann gibt lediglich den Samen ab, während der Körper der Frau alles weitere bewältigen muss, die Vereinigung des Samens mit dem Ei, das Reifen des befruchteten Eies, die Schwangerschaft, die Geburt des Kindes und die erste Ernährung des Kindes

In einer nach den simpelsten Gerechtigkeitsprinzipien organisierten Gesellschaft müsste es selbstverständlich sein, dass nach der Geburt des Kindes der Vater die Stafette übernimmt. Die Pflege und Aufzucht des Kleinstkindes wäre die logische Aufgabe des Vaters, der bisher quasi arbeitslos war. Es gibt keinen physischen und auch keinen psychischen Grund, der dem angeborenen Kind die leibliche Mutter unabdingbar machte.

Die Gebärfähigkeit der Frau fordert ihr neben Schwangerschaft und Geburt weitere Belastungen ab, die, obwohl naturgegeben, gleichwohl sozial regulierbar sind: Die monatlichen Blutungen, vor allem aber die permanente Fruchtbarkeit der Menschenfrau. Es wäre zu untersuchen, wie weit diese permanente Fruchtbarkeit nicht noch stärker zur Unterwerfung der Frau beigetragen hat, als die realisierte Mutterschaft. Ein, zwei Schwangerschaften, gegebenenfalls auch mehrere, wären – bei gerechter Organisierung der Gesellschaft – zu verkraften, ohne die soziale Stellung der Frau zu beeinträchtigen. Sofern die Frau aus freiem Willen Mutter würde, nicht aus direktem Zwang, noch, um eine ihr vorgeschriebene Rolle zu erfüllen.

Während jedoch die Fruchtbarkeit der Tiere auf wenige Zeiten im Jahr beschränkt ist, kann eine Frau quasi immer schwanger werden (die wenigen »unfruchtbaren Tage« ausgenommen), das heißt, sie kann immer schwanger gemacht werden. Eine unendliche Folge von Schwangerschaften und Geburten jedoch schwächt und zerstört ebenso den weiblichen Körper wie die gesellschaftliche Beweglichkeit der Frau. Frauen sehen sich so der ständigen Drohung ausgesetzt, allein durch den sexuellen Akt in ihrer gesamten Lebensweise beeinträchtigt zu werden. Diese reale Erfahrung der Frauen hat Konsequenzen für ihr soziales Dasein – und für ihre Sexualität, ihre Wahrnehmung der Sexualität. Sexualität wird zu einem Hebel ihrer Unterwerfung, sobald der Mann sich seiner Macht, die Frau zu schwängern und damit auch zu schwächenbewusst wird.

Allein diese Grundkonstellation erforderte eine gesellschaftliche Organisierung, die, um die biologische Schwäche (als die Kehrseite des Vermögens, die Gattung zu produzieren) auszugleichen, die Frauen kollektiv mit mehr Macht ausstattet als die Männer. In bestimmten historischen Epochen (der europäischen Geschichte) befanden sich die Frauen noch in der Lage, zumindest einen gewissen Ausgleich durchzusetzen. Sei es, dass die Geschlechter ihre generative Sexualität dem Gesetz des Ritus unterstellten, sich also in Nachahmung der Tiere nur zu bestimmten Zeiten paarten. Sei es, dass die Frauen Methoden der Schwangerschaftsvermeidung beherrschten und somit fähig waren, ihre Befruchtung zu steuern und damit zugleich ihre Sexualität dem Diktat des Generativen zu entziehen. Anders gesagt: sie als eigene Lust zu erleben.

Sei es, dass Föten abgetrieben wurden in Zeiten des Überganges, in denen Teilen der weiblichen Bevölkerung das Wissen um Verhütung bereits geraubt worden war, während einzelne Spezialistinnen, wie die Hebammen, noch in der Lage waren, eine gewisse Hilfe zu gewähren. Dass in der Epoche der Hexenverfolgung die Hebammen und sogenannten weisen Frauen mit als erste kriminalisiert wurden, liegt hierin begründet: Die Frauen sollten ihrer Möglichkeiten, autonom über ihre Fruchtbarkeit zu bestimmen, endgültig beraubt werden, anders gesagt: sie sollten der Macht des Mannes über ihre Körper und ihre gesellschaftliche Beweglichkeit endgültig ausgeliefert werden.

Später konnten heterosexuelle Frauen ihre Fruchtbarkeit nur noch um den Preis der Selbstbeschädigung regulieren: Indem sie auf Sexualität gänzlich verzichteten, indem sie sich brutalen und nicht selten mörderischen Abtreibungen unterzogen, indem sie faktisch und verbal die bürgerliche Ideologie ihrer Asexualität, ihrer Frigidität bestätigten, mehr noch: sie internalisierten. Die anständige bürgerliche Frau empfand keine Lust. Ihr Körper wurde zu einem Instrument sowohl der Befriedigung des Mannes als auch der Fortpflanzung der Gattung. Der Preis, den der Mann dafür zu bezahlen hatte, war – allerdings rein theoretisch – die lebenslange Versorgung der einen, ihm gesetzlich als Gattin unterstellten Frau. Oder der Stundenlohn für die Prostituierte.

Kants nüchterne Feststellung, die Ehe sei ein Vertrag zum gegenseitigen Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge, war bereits zum Zeitpunkt seiner Formulierung ein Anachronismus. Spätestens jedoch seit der französischen Revolution, spätestens seit der Domestizierung der promisken Pariser Fischweiber zu Bürgerinnen konnte von wechselseitigem Gebrauch keine Rede mehr sein. Gebraucht wurde nur noch der Körper der Frau: vom Mann zur Befriedigung seiner zunehmend autistischeren sexuellen Bedürfnisse; von der Frau zur Erlangung diverser sozialer »Vorteile«. Ihr Körper war der Frau nicht länger Quelle der eigenen Lust, er wurde zur Maschine, die sie verkaufen konnte, um für den Kaufpreis andere Güter zu erwerben. Sei es im einmaligen Verkauf an einen einzelnen Nutzer, sei es in wiederholten Verkäufen an wechselnde Nutzer. Die notwendige Wartung, Pflege, Reinigung der Maschine übernahm im Falle des einmaligen Verkaufes der Käufer Ehemann, im Falle der Mehrfach-Verkäufe hatte die Verkäuferin diese Kosten selbst zu tragen. Was sich entweder in erhöhten Kaufpreisen niederschlug oder in einer schnelleren Abnutzung der Maschine.

So erfuhr die Frau eine Entfremdung, die tiefer geht, als die Entfremdung durch kapitalistische Arbeitsverhältnisse. Während sie als weiblicher Lohnarbeiter lediglich ihre Arbeitsfähigkeit veräußerte, etwa die Geschicklichkeit ihrer Hände, verkaufte sie sich als Weib ganz und gar.

Das erniedrigendste Bild weiblichen Sklaventums und weiblicher Entfremdung ist das der Ehefrau, die voll Ekel und Widerwillen aber gottergeben unter ihrem Besitzer liegt und nur eines ersehnt: dass er rasch zuende kommen möge. Diese radikale Entpersönlichung der Frau als geschlechtliches Wesen hat Konsequenzen für ihre gesamte Identität. Und zugleich für die Identität des Mannes. Er weiß sich seiner »willigen« Gemahlin gewiss, gleichzeitig aber langweilt ihn ihre Gottergebenheit und lässt ihn nach Abwechslung suchen bei den »sittenlosen« Frauen, die ihm nicht nur ihren Körper verkaufen, sondern – bei entsprechender Bezahlung – auch noch die Illusion, er empfinde nicht nur, sondern erzeuge auch Lust. So pervertiert ein ursprüngliches Bedürfnis, Lust zu spenden und Lust zu empfangen, zu einer käuflich erwerbbaren Lüge. Zu einem quasi extraterritorialen regulierbaren und damit beherrschbaren Luxus, der eine Schimäre ist. Im Alltag wünscht der entfremdete Mann die autonome Lust der Frau gerade nicht, sie erscheint ihm gefährlich, Symptom für Selbständigkeit, für Unabhängigkeit, oder: ein Zustand, der dem weiblichen Geschlecht verwehrt werden muss, da er die Macht des Mannes in Frage stellt.

Auf dieser Grundlage, die Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung ist, doch bereits so tief im Unterbewussten verankert, dass sie beiden Geschlechtern zur zweiten Natur wurde, fühlt der Mann sich mächtig genug, um selbst noch Befreiungs-Anstrengungen der Frau für sich zu vereinnahmen. So schlug in der jungen Sowjetunion die in einer kurzen revolutionären Phase intendierte sexuelle Befreiung der Frau prompt in ihr Gegenteil um: Während Frauen wie Kollontai die Abschaffung der Zwangsinstitution Ehe und die Freie Sexualität propagierten, wendeten diejenigen Männer, die solche Forderungen nicht a priori ablehnten, sie sofort zu ihren Gunsten. Die Mädchen des Komsomol wurden von ihren männlichen Kollegen nun sexuell bedrängt bis genötigt. Weigerten sie sich, zur Verfügung zu stehen, wurden sie als Konterrevolutionärinnen diffamiert und damit faktisch erpresst.

Ähnliches spielte sich während der sogenannten sexuellen Revolution der 60er Jahre ab. Frauen, die sich weigerten, jedem zur Verfügung zu stehen, die sich weigerten, jede Sexualpraktik mitzumachen, wurden als reaktionär und frigide diskriminiert. Was sich damals noch in begrenzten quasi elitären Zirkeln abspielte, existiert heute, in einer durchpornographisierten Männergesellschaft als Massenphänomen.

„Eine Frau, die noch einen eigenen Willen hat,liebt nicht so sehr, wie sie sagt.“Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften„Sie wurde von ihren Freunden geliebt,von ihren Liebhabern vergöttert und von ihrem Gatten verehrt.“Diderot über eine Pariser Aristokratin

Die nüchterne Haltung des ancien régime fiel mit den Köpfen seiner Aristokratinnen. Diese Haltung war kein Privileg der Aristokratie, sie war auch den Frauen des niederen Volkes eigen, das von den sich an die Macht putschenden Bürgern gleichermaßen verachtet und gefürchtet wurde. Deren Ideologen, allen voran Rousseau, übernahmen es, die Realisierung der Erfordernisse des kapitalistischen Regimes – Selbstbeschränkung, Ordnung, geregelte Eigentumsverhältnisse – durch Vernebelung der Köpfe zu fördern. Da die klare Einsicht in die Brutalität der sexuellen Besitz- und Nutzungsverhältnisse die Sklavinnen hätte revoltieren lassen und die Herren einer schönen Illusion (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) beraubt hätte, reaktivierte die bürgerliche Ethik ein latent immer vorhandenes Betäubungsmittel: die Liebe.

Simone de Beauvoir stellte lakonisch fest: Da man den Frauen nicht einreden kann, es sei ihr höchstes Glück, Töpfe zu scheuern und Windeln zu waschen, macht man sie glauben, sie täten das aus Liebe. Mit der politisch-gesellschaftlichen Etablierung des Bürgertums wurden Ehen nicht mehr aus Vernunftgründen geschlossen, sondern aus Liebe. Zumindest sollten sich die Ehepartner das selbst suggerieren. Dem gemeinen Volk jedoch, dessen Verfügbarkeit eine bürgerliche Kleinfamilie eingeschränkt hätte, wurde die Ehe erschwert bis verweigert. Bis in das späte 19. Jahrhundert musste in Teilen Europas für die Eheschließung ein bestimmter Geldbetrag vorgewiesen werden, den Mägde und Knechte oder niedere Dienstboten zum Beispiel nie aufzubringen in der Lage waren. Das sexuelle Verhalten der untersten Schichten wurde weniger durch das Zivil- als durch das Strafrecht geregelt. Die zivilisierte Liebes-Fähigkeit wurde ihnen abgesprochen, ihre Sexualität als tierisch definiert und somit staatlicher Regulierung bedürftig.

Armenhäuser, Arbeitshäuser, Irrenhäuser wurden zur Endstation sexuell »auffälliger« Unterschichtfrauen, die Zuchthäuser füllten sich mit Kindsmörderinnen. Eine Praxis, die zunehmend verfeinert wurde und im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt sowohl an Perfektion der Erfassung als auch an Brutalität des Eingriffs erreichte

Der Arbeiterklasse wurde die auf Liebe gegründete kleinbürgerliche Familie als Insignie des Aufstiegs aus der Gosse propagiert, eine Propaganda, die auf fruchtbaren Boden fiel. Bei den Männern, weil sich damit sowohl ihr sozialer Status als auch ihre reale Macht über die eigene Frau erhöhte. Bei den Frauen, weil ihnen, angesichts ihrer exzessiven Doppelbelastung, die Befreiung von der Last Produktionsarbeit als tatsächliche Befreiung erscheinen musste. Und weil, wie Beauvoir festhielt, das Töpfescheuern aus Liebe erträglicher erscheint als das Töpfescheuern als Sklavendienst.

Unter dem gemachten der Ideologie wirkt jedoch ein reales Bedürfnis des Menschen nach Zuneigung, Zärtlichkeit und sexueller Lust. Dieses Bedürfnis, das sich historisch unterschiedlich äußerte und realisierte, wurde schließlich in die Zwangsjacke bürgerlicher Liebe kanalisiert und so – neben der direkten Gewalt – zu einem der effektivsten Hebel patriarchaler Macht. Das ist das radikalste, also tiefstverwurzelte Hemmnis, das die Frau gegen ihre Befreiung in sich trägt: dass sie ihren Unterdrücker liebt, dass sie vor dem fremden Vergewaltiger Schutz sucht beim privaten Vergewaltiger, dass sie ihre Identität in der Anerkennung durch den Gegner sucht.

Die Ausgeliefertheit der Frau, die weder über die gesellschaftliche Macht noch über die ausreichende Kenntnis von Verhütungsmethoden verfügt, um ihre Fruchtbarkeit autonom zu bestimmen, verbunden mit ihrer historisch fortschreitenden Entfremdung von ihrem Körper als Quelle eigener Lust bei gleichzeitiger Betäubung ihres Bewusstseins durch das Opiat Liebe, diese Konstellation bildet eine Basis bürgerlicher patriarchaler Macht. Diese Basis zu leugnen beraubt alle revolutionäre Theorie ihres revolutionären Gehalts.

Dass Männer von den sexuellen Herrschaftsverhältnissen schweigen, ist logisch. Ihr autistisches und usurpatorisches sexuelles Verhalten, das ihnen im Verlauf der Festigung und Erweiterung patriarchaler Macht zum scheinbar natürlichen Bedürfnis wurde, ist Teil ihrer Identität, dessen Aufgabe ihre Identität als solche bedroht. Dass Frauen davon schweigen, liegt unter anderem an ihrer Identifikation mit dem Aggressor und dessen Theorien. Und an der Angst der Sklavin vor den Frösten der Freiheit. So wird das zugleich verdinglichte und Gewalt-Verhältnis der Sexualität der Geschlechter, das den ökonomischen und sozialen Verhältnissen zugrunde liegt, und das damit der radikalsten Aufhebung bedürfte, auch von denen ignoriert, die intendieren, Gewalt- und Machtverhältnisse, Verdinglichung aufzuheben.

Figaro an Susanna: Mut!Susanna zu Figaro: Und du: Verstand!Mozart/Da Ponte: Figaros Hochzeit

In ihrer Alleinverantwortung für den gesamten Reproduktionsbereich erfüllt die Frau drei Funktionen zugleich: Sie ist Gebärmaschine und sex-machine; sie ist Hausarbeiterin, Kammerdienerin und Kindermädchen; sie ist Liebesarbeiterin, Refugium und zugleich Sandsack des Mannes, Objekt seines Bedürfnisses nach Zuneigung wie seiner Aggression. Dass von diesen drei Funktionsbereichen, wenn überhaupt, stets nur der eine erwähnt wird, der der Hausarbeiterin und des Kindermädchens, ist, wie gezeigt, kein Zufall. Und selbst in bezug auf diesen Bereich geriert sich auch revolutionäre Utopie seltsam beschränkt. Sie phantasiert allenfalls die Entprivatisierung dieses Bereiches durch Vergesellschaftung, also Kinderkrippen, öffentliche Küchen und Wäschereien etc. Zum einen werden dann diese Institutionen wieder mit weiblichem Personal ausgestattet, sei es in der Phantasie, sei es in realen Experimenten, wie etwa in der jungen Sowjetunion. Zum anderen sind diese Phantasien und erst recht die realen Experimente notgedrungen kurzlebig und lethargisch, denn sie ignorieren das Bedürfnis des (kapitalistisch geprägten) Menschen nach Privatheit und das Bedürfnis bzw. den Anspruch des Mannes nach persönlicher Versorgung, die nur die liebende Frau befriedigend gewähren kann.

Der Mann strebt nicht nach der faktischen Vernichtung des weiblichen Geschlechts, er hat nicht vor, die Geschlechterdifferenz zu liquidieren. Er trachtet im Gegenteil danach, die soziale Ausbeutung der biologischen Divergenz zu verlängern, zu verstärken, sie sich nutzbar zu machen, nicht nur im Ökonomischen, sondern auch im Privaten. Nur der lebendigen und in ihrer Geschlechterrolle funktionierenden Frau kann der Mann sein Herz ausschütten. Nur sie kann ihm die Illusion gewähren, ein Versorger und Beschützer und überdies ein Held zu sein. Nur im Stupor der lebendigen von ihm vergewaltigten Frau kann er seine Macht erleben, indem er sie in sexuelle Lust transponiert. Nur in den Augen der lebendigen Frau kann er sich als einzigartiges Individuum spiegeln und die Größe und Überlegenheit halluzinieren, an deren Mangel er im Umgang mit seinesgleichen leidet.

Seine Experimente zur Technisierung der Gattungsproduktion entspringen seiner Sehnsucht nach Omnipotenz, doch die Omnipotenz wird ihm nichtig, sobald er sich nur noch unter anderen Omnipotenten wiederfindet. Er braucht zu seiner Selbstversicherung als männliches Subjekt nicht nur eine Hierarchie unter seinesgleichen, er braucht die Gewissheit der existenziellen Überlegenheit über ein von Natur aus minderes Wesen, in dessen Kleinheit er sich spiegeln kann, dessen Bestrebungen nach Angleichung an das Höhere – an ihn – er eventuell gnädig fördern kann, das ihn jedoch letztlich nie wirklich erreicht. Er braucht nicht die Gleichheit und nicht die Nivellierung, er braucht die Differenz.

Die Gleichsetzung des Begriffes »Gleichheit« mit dem Manne »als Maß aller Dinge«, also mit der Angleichung der Frau an den Mann und somit ihrer Nivellierung als Geschlecht, erliegt der alten Lüge der Differenz-Ideologen. Sie übernimmt die Definition des Gegners und beugt sich so seiner Macht, die auch immer eine Definitionsmacht ist.

Das tertium comperationis ist nicht der Mann, sondern der Mensch. Ein bislang lediglich behaupteter, jedoch noch nicht erreichter Zustand, der sich erst realisieren kann in einer Gesellschaft, die jede Wertung von Geschlechtern, »Rassen«, Klassen, negiert. Die also die bislang herrschende Norm aufhebt, welche nicht nur das Verhalten der Menschen bestimmt, sondern auch – durch tiefe Verwurzelung – ihre Bedürfnisse und Träume.

Nicht die Feststellung biologischer Differenz und ihrer sozialen Folgen, aber das Beharren auf biologischer Differenz als Wert perpetuiert hierarchisches Denken, perpetuiert Norm. Solange Menschen, Frauen wie Männer, biologische Differenz als Wert an sich anerkennen, liefern sie die TrägerInnen der Differenzen der Bewertung durch Macht, der Bewertung durch die jeweils herrschende Norm aus. Das als das Andere Definierte ist immer das Höhere oder das Mindere, nie das Gleichwertige.

So wie es kluge Rassisten gibt, gibt es auch kluge Sexisten. Sie profilieren sich seit langem, indem sie Frauen suggerieren, ihr Gebärvermögen gebäre auch besondere Qualitäten, die Frauen qua Geschlecht zu besseren Menschen machten, zu liebevollen, geduldigen, fürsorglichen, das Leben bewahrenden, friedlichen Menschen. Eine Suggestion, die implizit gleichermaßen die Männer von der Sich-Aneignung solcher Qualitäten entbindet, wie sie den Frauen die Sich-Aneignung »männlicher« (als männlich definierter) Qualitäten verwehrt. Unzählige Frauen lassen sich von diesem Opiat betäuben, um ihre reale Lage als Ungleiche, als Abhängige, Ausgebeutete und Erniedrigte nicht klar zu sehen und nicht ändern zu müssen.

Die linksradikale Variante dieses klugen Sexismus ist die Romantisierung des Reproduktionsbereiches als eine vom kapitalistischen Kommando und dessen Rationalität nicht beschädigte Enklave der Subjektivität. Diese Variante des »frauenfreundlichen« Sexismus leugnet den abhängigen, den isolierten, verdummenden, abstumpfenden und zwangsneurotischen Charakter der Hausarbeit. Hausarbeit ist zum größten Teil repetitive Arbeit, Sisyphusarbeit. Der gewaschene Teller wird benutzt, wird wieder schmutzig, muss wieder gewaschen werden, ad infinitum. Der gewischte Boden wird betreten, wird beschmutzt, muss wieder gewischt werden, ad infinitum.

Der Betrug, und sei es ein Selbstbetrug, dieser linken Sexisten entlarvt sich auch in ihren Utopien. Sie fordern maximal eine Sozialisierung der Hausarbeit, nie aber eine Übernahme dieser Tätigkeiten durch den Mann, sei es privat, sei es kollektiv. Der männliche Revolutionär phantasiert sich nicht Wäsche waschend und Geschirr spülend und Windeln wechselnd und Toiletten putzend. So diese unverzichtbaren Tätigkeiten eigene Aktivität von ihm verlangen, erledigt er sie (meist erst unter dem Druck seiner weiblichen Mitbewohner) widerwillig, als Pflicht, als Zugeständnis. In seiner Theorie jedoch, die eben diese lästigen Pflichten automatisch wieder den Frauen zuweist, gelingt es ihm in seiner atemberaubenden Verdrängungsleistung, sie von ihrem Charakter als zwar notwendige aber unangenehme Tätigkeiten zu befreien und in autonome, tiefstmenschliche, die Subjektivität rettende und bewahrende Tätigkeiten zu verwandeln.

Diese Harmonisierung der Hausarbeit durch den männlichen Theoretiker korrespondiert der Verdrängung seines Bedürfnisses nach einem Refugium, in das er, der müde Krieger nach geschlagenen Schlachten zurückkehrt, auf dass ein liebend Weib seinen Körper bette, seine Wunden salbe, seinen Hunger stille und seinen Heldentaten die Reverenz erweise. Als moderner Revolutionär muss er sich diesem Traum, den seine historischen Genossen noch ungebrochen träumen/träumten, verbieten. Für dieses Verbot wiederum rächt er sich, indem er die Frau als unsichtbares passives Opfer definiert, das vom allgewaltigen und männergemachten Apparat Imperialismus gnadenlos ausgesaugt und aufgesogen wird. Es sei denn, er, der edle Ritter, schwingt sich auf sein Schlachtross, um die Wehrlose dem Rachen des Monsters zu entreißen.

Spätestens seit dem Sieg der bürgerlichen Tugend über das Ich des europäischen Menschen existiert die Frau ohne Mann nur noch als lächerliche Figur, bestenfalls als tragische Gestalt. Als Tragödin hat sie dahinzusiechen oder sich selbst umzubringen. Als lächerliche Figur wird sie bemitleidet oder verhöhnt. Eine Frau ohne Mann ist eine Frau, die von keinem Mann begehrt wurde und damit eine Frau ohne Wert. Bekennt sie sich zu ihrer Entschließung gegen die Besitzansprüche eines Mannes, wird sie, egal ob sie tatsächlich lesbisch lebt oder nicht, als Lesbierin bekämpft. Dem Hagestolz, dem Junggesellen, der sich »seine Freiheit bewahrt« entspricht kein weibliches Pendant. Auf weiblicher Seite gibt es lediglich das Mauerblümchen, die Verlassene, die alte Jungfer.

Die Frau in der Männergesellschaft bedarf, um als »vollständiger Mensch« anerkannt zu werden, nicht nur des Mannes, sondern auch des Kindes. Die Frau ohne Kind wird wie die Frau ohne Mann bemitleidet oder verhöhnt: sie gilt als unfruchtbar – also bedauernswert oder als widernatürlich – also verachtenswert. Sie verstößt in jedem Fall gegen die Norm, und dieser Normverstoß wird wo nicht geahndet so doch immer registriert. Die Frau ohne Kind steht wie die Frau ohne Mann unter permanentem Legitimationsdruck.

So wird die Frau ohne Mann, ohne Kind, ob sie es will oder nicht quasi automatisch zur Rebellin. Sie kann versuchen, diesen grundlegenden Normverstoß »wiedergutzumachen«, indem sie sich in allen anderen Lebensbereichen der Norm, den Gesetzen der Gesellschaft unterwirft. Sie kann sich aber auch aus der Rebellion gegen die Fundamente der Norm entwickeln zur Kämpferin gegen die Gesellschaft, die die Norm setzt und bewahrt.

Gleichzeitig wird die Revolutionärin, die die herrschende Gesellschaft bekämpft – selbst wenn sie Mann und Kind »vorweisen« kann – quasi automatisch des Normverstoßes bezichtigt. Indem sie ihre »weibliche« Passivität aufgibt, Aktivität nicht einzig auf Mann und Kind richtet, sondern auf die »Sache« der Revolution, verstößt sie tatsächlich gegen die Geschlechterregeln. So liegt der Verdacht, selbst wo er unbegründet wäre, nahe, sie verstoße auch im Privaten gegen die Norm, verhalte sich anormal.

An der Diskriminierung und Verfolgung von Frauen, die gegen die Norm verstoßen, sind nicht nur Männer, sondern auch Frauen beteiligt. Die herrschende Norm ist nicht ein von raffinierten Herrschern erfundenes Konstrukt, das den Menschen irgendwann aufgezwungen wurde und das mittels besserer Einsicht und guten Willens beseitigt werden könnte. Sie basiert vielmehr auf tiefverwurzelten Ängsten und Bedürfnissen, die unter dem Druck der jeweiligen Herrschaftsverhältnisse in deren Sinne forciert, verfälscht, geformt wurden. Das Staunen über den Fremden wurde zum Misstrauen gegen den Fremden, zur Xenophobie, zum Rassismus. Das Gebärvermögen der Frau wurde zur Quelle ihrer Erniedrigung und Ausbeutung, und diese schließlich zu ihrem »natürlichen Schicksal«. Das jeweils andere, als Anderes behandelt, wird zum Anderen.

Es ist naiv zu meinen, diese Normierung des Menschen, die ihm zur zweiten Natur geworden ist, könne per Beschluss, könne in einem revolutionären Akt aufgehoben werden. Sie ist träge wie die Materie, sie zieht selbst den revolutionären Impetus auf »die Erde« zurück. Sie kann auf unabsehbare Zeit nur unermüdlich in stetigen und beharrlichen Kämpfen thematisiert und damit in Frage gestellt werden. Sie bringt die Revolutionärin in Widerspruch zu ihren Genossen und die RevolutionärInnen in Widerspruch zu den »normalen« Menschen. Sie ist die Advokatin der Bequemlichkeit, denn es ist in jedem Falle weniger anstrengend, sich ihr zu unterwerfen als sie zu bekämpfen, gesellschaftlich wie in sich selbst. Sie suggeriert den RevolutionärInnen: ihr könnt euch den normalen Menschen, den Massen, nur verständlich machen, wenn ihr euch selbst wie normale Menschen verhaltet.

Sie ist kein äußerer Feind, den der Revolutionär als ein ihm Fremdes bekämpft, sie nistet in seiner eigenen Seele, sie ist verwoben mit dem Material, aus dem er als gesellschaftlicher Mensch gemacht ist. Er muss, will er sie bekämpfen, einen Teil seiner selbst vernichten. Dies gilt ebenso für die Revolutionärin, doch während sie die Sklavin in sich liquidiert, muss der männliche Revolutionär den Herren in sich vernichten. Während sie sich Wunden schlägt im Kampf um ihren Sieg als Mensch, kämpft er um seine Niederlage als Mann. Die Norm, die in seiner Seele nistet, macht ihn blind für das Ziel, das die Revolutionärin anstrebt: die Schaffung des Menschen. Die realen Vorteile seines Mann-Seins verstellen ihm den Blick auf die ihm unvorstellbaren Vorteile des Mensch-Seins. Deshalb weicht der männliche Revolutionär stets aufs Neue aus auf das überschaubare Terrain der reinen Ökonomie, deshalb leugnet er das Politische im Privaten, die sexuelle Dimension von Herrschaft, seine eigene Involviertheit als Profiteur der Machtverhältnisse. Deshalb verfällt er in bürgerlichen Idealismus, in totale Personalisierung, sobald es um den Geschlechter-Antagonismus und seinen persönlichen Beitrag zu dessen Aufhebung geht: Während er als Revolutionär die gesellschaftlichen Bedingungen des menschlichen Seins erkennt und den Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, eher dogmatisiert als dass er ihn leugnet, vermeint er, sich als Mann der Geschichte entziehen zu können, indem er mit dem Eigensinn des kleinen Kindes behauptet: »Aber ich bin doch nicht so!« Schlimmstenfalls sind alle Männer böse, er jedoch ist ein Freund und Helfer der Frauen.

Frauen, die das Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern bekämpfen, Frauen, die der patriarchalen Norm, diesem zähen und erbitterten Feind des Mensch-Seins den Krieg erklären, Frauen, die die herrschenden Verhältnisse, die Herrschaft im wahren Sinne des Wortes radikal aufheben wollen, bedürfen nicht so sehr der männlichen Genossen, die sich für ihre Freunde halten, als der männlichen Genossen, die bereit sind, zum Feind des Mannes zu werden.

Ingrid Strobl

Verwendete Literatur:
Aischylos: Die Orestie
Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe
Emilie Emilie. Weiblicher Lebensentwurf im 18. Jahrhundert
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, Auge um Auge
Wilhelm Blos: Die Französische Revolution
Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarisch zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen
Diderot: Sur les femmes (Oeuvres completes Band X)
Edmond und Jules de Goncourt: Die Frau im 18. Jahrhundert
Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen: Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courasche
Homer: Ilias, Odyssee
Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung
Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften
Maurice Merleau-Ponty: Humanismus und Terror
Wolfgang Amadeus Mozart/Lorenzo Da Ponte: Le nozze di Figar
Jean Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung
Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums
William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung
Sophokles: Antigone
Peter Weiß: Notizbücher I und II


Aus dem Buch: Ingrid Strobl, Klaus Viehmann und GenossInnen, autonome l.u.p.u.s.-Gruppe / Drei zu Eins – www.sterneck.net/gender/strobel-freiheit/index.php.

Überraschung

Jahr: 1987
Bereich: Frauen

Referenzen