Materialien 1987

Ich habe mich dort aus zweierlei Gründen eingemischt

… Dürr: Ich habe mich dort aus zweierlei Gründen eingemischt. Zum einen war es mein Lehrer Edward Teller, der diese Star-Wars-Geschichte selbst vorangetrieben und auch das Ohr von Präsident Reagan gefunden hat. Das andere war aber, dass ich mir als Physiker Gedanken gemacht habe: Was sind denn eigentlich die Hintergründe dafür, dass wir in diese Rüstungsspirale hineingeraten sind? Selbstverständlich existiert eine Polarität in der Welt, aber woher kommt die Eigendynamik, die uns veranlasst, auf beiden Seiten immer weiter und weiter zu rüsten? Dann stellt man fest, dass man bei dieser Geschichte gar keine guten und bösen Buben braucht: Wenn es so ist, dass ich mich von der anderen Seite bedroht fühle, dann baue ich mir ein Verteidigungssystem auf. Aber ich achte nicht darauf, dass dieses von mir aufgebaute Verteidigungssystem auf den anderen wie eine zusätzliche Bedrohung wirkt, die er nun wiederum seinerseits zu kompensieren versucht, indem er seine Verteidigung verstärkt, die wiederum für mich bedrohlich ist. So komme ich in diese Spirale hinein.

Gruber: Das heißt, es geht nicht so sehr darum, ob auf diesem Gebiet etwas technisch-wissenschaftlich tatsächlich machbar ist, sondern es geht darum, welche Auswirkungen das in psychologisch-politischer Hinsicht hat.

Dürr: Ja, es kommt immer darauf an, wie das auf den gesamten Prozess wirkt. Ob dieser Prozess in dem einen Fall hinterher wie eine Lawine niedergeht oder ich ihn wirklich in den Griff bekommen kann. Damals war es eben wichtig zu fragen, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, sich so zu verteidigen, dass das auf den anderen nicht bedrohlich wirkt. Man hat das damals nicht-provokative Verteidigung genannt oder strukturelle Nicht-Angriffsfähigkeit – dieser Begriff wurde damals hier in München, genauer in Starnberg, kreiert. Dieser Begriff hat mich und andere in Kontakt mit Gorbatschow gebracht. Das ist der Punkt, an dem ein Physiker sagen kann: „Um ein Problem zu lösen, dürft Ihr nicht nur auf die unmittelbaren Konsequenzen achten, sondern auch darauf, ob die Wahrnehmung eurer Lösung dann nicht eine Lawine auslöst, die euch in Schwierigkeiten bringt.“

Gruber:   Die Konsequenz war damals ja wohl gewesen, eine wirkliche Verteidigungspolitik zu fördern – und keine Angriffspolitik.

Dürr: Ja, und man stellte dann fest, dass sich in diesen Abrüstungsverhandlungen etwas ändert, wenn man nicht mehr sagt, „ihr habt zu viele Panzer, zu viele Flugzeuge“, sondern wenn man sagt, „wir wollen beide nicht bedroht werden von der jeweils anderen Seite. Was müssen wir tun, um das zu bewerkstelligen?“ Und auf einmal wird hier eine Gemeinsamkeit gefunden. Im übrigen habe ich dann in diesen Diskussionen, in denen es nur um Rüstung ging, auch einmal den Vorschlag gemacht, warum wir uns eigentlich nur über Rüstung unterhalten sollten: „Warum können wir nicht auch einmal über ein ökologisches Problem sprechen: z.B. wie wir die Ostsee sauber bekommen können – das ist doch für euch schlecht und für uns schlecht. Warum können wir nicht dort anfangen, wo wir Gemeinsamkeiten haben? Dann werden wir nämlich sehen, dass wir ganz enorme Probleme haben, die wir lösen müssen und bei denen wir gar nicht Gegner sein dürfen.“ Wissen Sie, als Gorbatschow Reagan zum ersten Mal in Genf getroffen hat, wurde in der Presse berichtet, dass Reagan gesagt hat: „Herr Generalsekretär, wenn wir heute von einem anderen Stern angegriffen werden würden, dann würden wir uns doch sofort einigen.“ Und Gorbatschow sagte: „Ja, selbstverständlich.“ Aber man sollte hinzufügen: Wir brauchen doch gar nicht den Angriff aus dem Weltall, um gemeinsame Probleme zu finden, die wir dringend lösen müssen. Ein Beispiel sind doch schon die ökologischen Probleme.

Gruber:   Das heißt, in Gorbatschow hatten Sie in diesem Fall im Grunde einen seelen- oder geistesverwandten Politiker gefunden?

Dürr:   Ja, Gorbatschow war in diesem Punkt sehr hellhörig. Er war selbstverständlich auch wirtschaftlich unter großem Druck. Er wollte eigentlich die Produktivität seines Landes auch den Menschen zugute kommen lassen, anstatt dieses ganze Geld in die Rüstung zu stecken. Aber die UdSSR hat sich ja eben auch bedroht gefühlt: Russland war von den Deutschen überrollt worden. Da war es doch psychologisch verständlich, dass sie nicht einfach sagten, es wird schon nichts passieren … Ich sage auch den Leuten immer, wenn sie fragen, wer die Zukunft voraussehen kann, dass sie keine Gedanken darauf verschwenden sollen, die Zukunft zu prognostizieren. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft zu prognostizieren, sondern sie zu gestalten. Die Zukunft passiert nicht einfach und ist vorgegeben, es kommt vielmehr auf uns an, welche Art von Zukunft eintreten wird. Und deshalb ist es auch wichtig, dass wir davon abgehen zu sagen, eine Realist ist jemand, der das, was in der Vergangenheit an Erfahrung gesammelt worden ist und sich als richtig herausgestellt hat, einfach in die Zukunft extrapoliert, sondern ein Realist ist derjenige, der weiß, dass die Zukunft anders ist als die Vergangenheit. Das bedeutet auch, dass es hoffnungsvoll sein kann, das braucht nicht immer nur so ausgelegt werden, dass die Zukunft noch schlimmer sein wird, als wir es uns jetzt vorstellen können. Statt dessen kann die Zukunft ja auch besser sein, wenn wir uns vornehmen, dass sie besser werden soll …


Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Physiker, im Gespräch mit Reinhold Gruber; Alpha-Forum, Sendung vom 29. Mai 1998 in Bayern Alpha.