Materialien 1987
Die „Marienplatz-Rapper“
In München verübten zwischen 1987 und 1990 bis zu 86 Jugendliche einer gewaltbereiten Gruppe Straftaten verschiedenster Art.1 Was ursprünglich als kleine delinquente Gruppe auf dem Münchener Marienplatz begann, wurde aber bald zu einer kaum noch zu überschauenden gewaltbereiten Jugendgang.
Die Mitglieder der Marienplatz-Rapper gehörten nicht einer einheitlichen Ethnie an. Zwar besaßen über die Hälfte der Jugendlichen die deutsche Staatsbürgerschaft, insgesamt umfassten die Marienplatz-Rapper aber Mitglieder mit 17 verschiedenen Staatsangehörigkeiten. Allerdings gehörten die meisten der ausländischen Jugendlichen zur zweiten Generation von Gastarbeiterkindern, so dass sie die Heimat ihrer Eltern selbst kaum kannten.2
Aufgrund der besonderen Größe der Marienplatz-Rapper gab es keine einheitliche Machtstruktur. Im Laufe der Zeit schlossen sich andere Jugendgangs vom Stachus u.ä. der Marienplatz-Gang an. Die Rapper waren jedoch stark hierarchisch strukturiert. Der hierarchische Aufbau der Gruppe ist sehr widersprüchlich. Einerseits gab es keine feste Führungsspitze, andererseits waren durchaus einzelne Gruppenmitglieder anderen über- oder untergeordnet. Es gab die „Führer“, den „festen Stamm“ um jeden Führer, „Sklaven“, „Mitläufer“ und Frauen.3 Die für eine Jugendgruppe wichtigen Werte wie Solidarität und Gemeinschaft galten dabei nur innerhalb einer Ebene, bei Auf- oder Abstieg innerhalb des hierarchischen Systems mussten neue Freundschaften geknüpft werden.4 Die Straffälligkeit wurde durch diese hierarchische Struktur gesteigert, da die Führer durch immer neue gewagte Diebstahlsdelikte ihre Kompetenz beweisen mussten, Sklaven konnten nur durch Mut und Erfolg beim Diebstahl aufsteigen.5
Die Hauptdelikte der Jugendbande waren Kaufhausdiebstahl, Raub, Hehlerei, Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz und Körperverletzung. Die Diebstahlsdelikte dienten zunächst noch als Mutproben oder für den Eigenbedarf, später wurden die Raubzüge durch die angrenzenden Geschäfte immer professioneller und dienten der Finanzierung eines möglichst luxuriösen Lebensstils. Die geklauten Waren wurden dann zum Teil im Auftrag gruppenfremder Hehler geklaut. Durch einige Hehler kamen einige Mitglieder der Gruppe auch in Kontakt mit Rauschgift. Zunächst gaben die Hehler vor, nicht genügend Bargeld für die gestohlene Ware zu besitzen. Als Ausgleich gaben die Hehler den Mitgliedern harte Drogen, meist Kokain.6 So wurden einzelne Mitglieder süchtig gemacht, was den Finanzbedarf dieser Gruppenmitglieder weiter erhöhte. Dies führte wiederum zur Ausdehnung räuberischen Überfälle oder Diebstahlsdelikte.
Die Jugendlichen lernten recht schnell, dass man sich mit einer handwerklichen oder kaufmännischen Ausbildung nicht den Lebensstil leisten kann, den sie sich erwünschten. Viele der „Rapper“ brachen daher die Schule oder Ausbildung ab, nachdem sie einige Zeit in der Gruppe waren. Auch nach der Zerschlagung der Marienplatz-Rapper durch die Polizei ist eine Rückkehr einiger Mitglieder in die Gesellschaft nur schwer möglich. […] manche haben sich so an dieses Leben gewöhnt, […] also viel Geld mit wenig Aufwand, […] die können sich wahrscheinlich gar nicht mehr vorstellen, acht Stunden zu arbeiten“,7 so die ernüchternde Prognose eines mit dem Fall betrauten Staatsanwaltes.
Durch aufwendigen Kleidungs- und Lebensstil sowie Drogen war der Finanzbedarf der Gruppe erheblich; die betroffenen Geschäfte in der Münchener Altstadt ergriffen gegen die zunehmenden Überfälle Abwehrmaßnahmen wie Telefonketten oder bestellten privaten Wachdiensten, so dass sich das Revier der Rapper immer weiter ausdehnen musste. Durch Kontakt mit benachbarten Gangs wuchs die Zahl der Rapper stetig. Die Berichterstattung durch die Medien steigerte zudem die Faszination der anderen Jugendlichen für die Rapper, so dass mit der Zahl der Mitglieder die Zahl der Gesetzesverstöße exponentiell wuchs.
Die Jugendlichen kopierten in ihrer Gruppe einzelne Aspekte der bundesdeutschen Leistungsgesellschaft. So genügte es innerhalb der Gruppe nicht, bei Raubüberfällen erfolgreich zu sein. Der Erfolg musste auch präsentiert werden. Verschwenderischer Umgang mit Geld, teure Markenklamotten und ein aufwendiger Lebensstil waren daher für die die Mitglieder der Marienplatz-Rapper selbstverständlich.8 Auch die bereits beschriebene hierarchische Struktur der Gruppe ahmt den Leistungsgedanken der eigentlich verhassten bundesdeutschen Gesellschaft nach.
Ein besonders gewaltsames Vorgehen zeigten die Mitglieder der Marienplatz-Rapper gegen Homosexuelle. In großer Überzahl wurde dabei auf Personen eingeprügelt, die homosexuell aussahen. Ob es sich dabei tatsächlich um Homosexuelle handelte, spielte dabei keine Rolle. Es ging dabei auch nicht um ein Kräftemessen oder einen regelgeführten Schlagabtausch. Vielmehr stand bei derartigen Prügeleien im Vordergrund, dem Opfer so viel Schaden als möglich zuzufügen.9
Eine weitere Form der Gewalt zeigte sich bei den sogenannten Sturmaktionen. In innerstädtischen Modeboutiquen mit nur wenig anwesendem Personal wurde mit einer zahlenmäßigen Übermacht ungeniert alle Gegenstände mitgenommen, von denen anzunehmen war, dass sie leicht weiterzuverkaufen waren. Leistete das Personal Gegenwehr, wurde aus dem Diebstahl schnell ein Raubüberfall.10
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1 Siegfried Lamnek/Otto Schwenk: Die Marienplatz-Rapper. Zur Soziologie einer Großstadt-Gang, Pfaffenweiler 1995, 16.
2 A.a.O., 88.
3 A.a.O., 53.
4 A.a.O., 46.
5 A.a.O., 62.
6 A.a.O., 125.
7 A.a.O., 163.
8 A.a.O., 67.
9 A.a.O., 69.
10 A.a.O., 111 f.