Materialien 1987
Krankes Volk
Franz Joseph Bieringer, frei vom Stammtisch weg
Der Biertischstratege, der Gschaftlhuber vom Dienst, der, der die Flöhe in Moskau husten hört, hat neuerdings wieder Konjunktur und ein neues Thema: die Lustseuche, die Lu—-hustseuche! AIDS, Sie verstenga scho’, Herr Nachbar!!
AIDS, das schleicht sich heimlich an, das kommt aus dunklen Ecken, wo die Homosexuellen mun-
keln, AIDS, das lauert wie eine gigantische Verschwörung hinter jedem noch so freundlichen Ge-
sicht und es schlägt überraschend unbarmherzig zu. Die Russen haben es gezüchtet als eine Strafe Gottes und jetzt, jetzt zerstören sie unseren Staat. Risikogruppen sind es, die das wollen, aber man erkennt sie nicht sofort. Risikogruppen, das sind Ausländer, Prostituierte, Homos, Fixer, Zucht-
häusler, Gastwirte, Richter und neue Beamte. Sie alle müssen untersucht werden! Aber reicht das, frag’ ich Sie, reicht das? Nein, auch streikende Arbeiter; weil, wer nix tut, hat Zeit, sich anzustek-
ken. Und Gesichtskontrollen müssen her. Wer schon ganz grün angelaufen ist und kurz vor der Kotzgrenze steht, weil abgefüllt, könnte auch AIDS haben, genau so wie der Geschichtslehrer, der immer so g’scheit daherredet, aber kein Bier verträgt. Nein, das hilft alles nichts, Herr Nachbar, da hilft nur die Volkszählung plus neuer maschinenlesbarer Personalausweis plus Vernetzung mit Krankenkassendaten plus Meldepflicht und Zwangstest für alle, und zwar wöchentlich. Ich mach’ da sofort mit!
Die ROSA LISTEN im Polizeipräsidium haben wir ja schon vorsorglich und dann heißt es: AB-
SONDERN! Am besten weit weg, nach Sibirien, wo’s herkommt, oder noch besser nach Australien. Das ist auf der anderen Seite der Erde. Prost, Herr Nachbar! Was schaun’s denn so, is’ eana schlecht?
Der Kelheimer CSU-Abgeordnete Gerhard Merkl hat selbst die Frage aufgeworfen: „Wenn die Infektionskette wirklich unterbrochen werden soll, muss da nicht kaserniert werden?“ Wissen’s, die sexuelle Revolution in den Sechzigern, der Kampf gegen die Ehe! Sartre hielt die Hure für emanzipierter als die monogame Ehefrau, Wilhelm Reich sah im Orgasmus einen Weg zur Revo-
lution, Marcuse pries das Lustprinzip als einen politischen Akt, und Rosa von Praunheim machte die Bi- und Homosexualität hoffähig und meinte, das mache noch mehr Spaß. Mit Geld und päpstlichen Worten konnten wir der zunehmenden Aufweichung der Kleinfamilie und dem Verfall unserer traditionellen Moral nicht mehr entgegensteuern.
Jetzt aber haben wir die Chance. Schulminister Zehetmair urteilt über Homosexuelle: „Diese Grup-
pe muss ausgedünnt werden, weil sie naturwidrig ist." AUSGEDÜNNT, Herr Nachbar, NATUR-
WIDRIG! Wo sans denn, Herr Nachbar? Ja, wo is’ er denn?
Zur Zeit jeden Dienstag 19.45 Uhr im Gewerkschaftshaus: „AIDS und der Schutz des Bürgers vor der Verwaltung“
Wir. DGB Kreis München 3 vom November-Dezember 1987, 13.