Flusslandschaft 1987

Schwule/Lesben

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Am 25. Januar wird der neue Bundestag gewählt. Schwule rufen zu einer Wahlentscheidung auf.

Das bayrische Kabinett verabschiedet am 25. Februar die von Innenstaatssekretär Peter Gauweiler erarbeiteten Maßnahmen zur AIDS-Bekämpfung. Ab sofort werden alle Personen in Bayern, bei denen eine AIDS-Infektion vermutet wird, von den zuständigen Behörden zu einem HIV-Test vorgeladen. Es besteht eine Meldepflicht für Infizierte. Ab Mai sollen sich alle Bewerber für den Staatsdienst oder das Richteramt einem AIDS-Test unterziehen.

„Jeder ‚Ansteckungsverdächtige‘, das kann einer mit 14 und einer mit 84 sein, soll nach Ermitt-
lungen durch die Polizei oder aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung zwangsvorgeführt werden können. Staatssekretär Peter Gauweiler, im Strauß-Kabintt eine Art Hoher Kommissar für Hygiene und Hysterie: ‚Wir lassen niemand ungeschoren.‘ Was sich CSU-Politiker im einzelnen darunter vorstellen, deuten sie in ihren Reden an. Infizierte und Kranke, schlug der CSU-Bundes-
tagsabgeordnete Horst Seehofer vor, müssten künftig ,in speziellen Heimen’ gesammelt werden. Er sprach von ,konzentrieren’, sein Parteifreund und neuer Bonner Staatssekretär Erich Riedl von ,ab-
sondern’.“ Ergebnis dieser „Öffentlichkeitsarbeit“: Denunziationen angeblich aidsinfizierter Mitar-
beiter oder Nachbarn, verbale Angriffe auf Aids-Aufklärer, eine Prügelattacke gegen einen angeb-
lich infizierten Mann in der U-Bahn. Angst macht sich breit: Schwule tauchen ab, lassen sich nicht mehr testen. Guido Vael von der Münchner Aids-Hilfe: Viele ließen sich aus der Kartei streichen, die Zusammenarbeit mit den Kliniken sei schwer gestört. „In Bayerns Gefängnissen sollen sich die 10.000 Häftlinge, obwohl der Maßnahmenkatalog noch keine Rechtsgrundlage bietet, in den näch-
sten Tagen einem freiwilligen Test unterziehen. Wer sich weigert, gilt als infiziert und kommt in Einzelhaft. Essen und Trinken werden dann nur noch mit Handschuhen gereicht, das Bewachungs-
personal wird mit ,chemischen Keulen’ nachgerüstet.“2

„Bei Herrn Gauweilers Amoklauf, wie zuvor schon bei Herrn Wörners wüsten Attacken gegen Ge-
neral K., fällt es schwer, nicht an klassische Fälle von Homophobie beziehungsweise unbewusstem homosexuellem Selbsthass zu denken. Die Lektüre psychoanalytischer Fachliteratur zu diesem Thema sei beiden Herrn anempfohlen. München – Hans Rillow“3

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„4. April: Auf dem Marienplatz findet eine Demonstration gegen die umstrittenen Maßnahmen der Bayerischen Staatsregierung zur Eindämmung der Virusseuche AIDS statt. Zu der Veranstaltung hatten u.a. die Münchner AIDS-Hilfe, linksextremistische Gruppen (sic!), die Grünen und einige SPD-Stadträte aufgerufen. Die ‚Zwangsmaßnahmen’ der Staatsregierung werden als gesundheits-
politisches Verbrechen bezeichnet, da sie einerseits Beratung, Aufklärung und Betreuung erheblich erschwerten, andererseits die übrige Bevölkerung ‚in eine falsche Sicherheit wiegten’.“ – Zehntau-
send Menschen demonstrieren am 4. April gegen polizeiliche Vorführung zum Zwangstest und gegen Berufsverbot und Kasernierung von HIV-Infizierten. Im Aufruf zur Demonstration hieß es unter anderem: „Die bayerische Staatsregierung ist schlimmer als jede Seuche.“ Die Flugblätter wurden beschlagnahmt. Auf Transparenten der Demonstration heißt es jetzt: „Wer oder was ist schlimmer als jede Seuche?“ „Die bayerische Staatsregierung bekämpft das Volk und nicht AIDS.“ „Weg mit den Zwangsmassnahmen! Weg mit Gauweiler!“ – Peter Gauweilers „Bayerischer Maß-
nahmenkatalog“ sieht u.a. Zwangstests an so genannten Risikogruppen, den „Ansteckungsver-
dächtigen“, Reihenuntersuchungen für Schwule, obligatorische Testung von Beamtenanwärtern sowie Berufsverbote vor. Gauweiler denkt an Absonderung oder zumindest Meldepflicht für In-
fizierte5 und spricht „von ‚Seuchenherden‘, die er ausmerzen wolle.“6 Infizierte und Kranke, schlägt der CSU-Bundestagsabgeordnete Horst Seehofer vor, müssten künftig „in speziellen Heimen“ ge-
sammelt werden. Er spricht von „konzentrieren“, sein Parteifreund und neuer Bonner Staatssekre-
tär Erich Riedl meint, es müsse erreicht werden, „dass erkrankte und nichterkrankte Personen dort abgesondert werden können, wo die infizierten Personen häufig zusammenkommen, zum Beispiel in Fabriken, Schulen und Vereinen.“7

„Was der Münchner Szene Jahre später einen Schub bescherte, war die AIDS-Krise, die Mitte der 1980er-Jahre ihren Höhepunkt erreichte und Bayern besonders hart traf. Die Lederszene und mit ihr der MLC waren von der Krankheit und den Todesfällen in Folge von HIV besonders betroffen. Statt zu resignieren, bewies man Kämpferqualitäten: Selbsthilfe, Information und Aufklärung wa-
ren die Gebote der Stunde. Man beschloss, diese Dinge selbst in die Hand zu nehmen. So war der MLC bei der Gründung der Münchner AIDS-Hilfe, der ersten regionalen AIDS-Hilfe Deutschlands, maßgeblich beteiligt. Zwar drohte die CSU unter dem damaligen Kreisverwaltungsreferenten Peter Gauweiler diese Bemühungen zu torpedieren, doch seine Politik bewirkte das Gegenteil. Als Sau-
nen geschlossen und kostenlose Kondomausgaben verboten wurden, als der Bayerische Maßnah-
menkatalog drohte und HIV-Positive mit Begriffen wie ‘Virusschleudern’ und Schwule als ‘Motor der Seuche’ belegt wurden, war nicht Resignation, sondern Kampfgeist die Folge. Die schwule Sze-
ne Münchens wurde durch diesen Druck aufgerüttelt, geeint und politisiert –- sichtbar in Aktionen wie der Großdemo gegen den Maßnahmenkatalog 1987 am Stachus.“8

1986 wurde Hans Zehetmair (CSU) Staatsminister für Unterricht und Kultus. Homosexualität be-
zeichnet er 1987 im bayrischen Fernsehen als „contra naturam, nicht nur contra deum … und im Grunde … krankhaftes Verhalten“ und ergänzt, dass „dieser Rand … ausgedünnt werden“9 muss. Er beschreibt bereits zuvor den Aids-Erreger als „Symptom einer maroden Gesellschaft“ und ver-
ortet Homosexualität im „Randbereich der Entartung“. Er empfiehlt auch in diesem Zusammen-
hang erneut: „Das Umfeld der ethischen Werte muss wiederentdeckt werden, um diese Entartung auszudünnen“.10 Daraufhin Eckhard Henscheid: „Die Aids-»Entartung«, Johann Baptist Zehet-
mair, nicht nur »ausdünnen«! Ausmerzen, Zehetmair, ausmerzen! Verstehst? Ausmerzen!“11

Im Sommer: Christopher-Street-Day (CSD).

„24. Oktober: Unter dem Motto: ‚Weg mit dem AIDS-Maßnahmen-Katalog der Bayerischen Staatsregierung’ demonstrieren rund 1.500 Personen in der Innenstadt. Zu der Veranstaltung hatten unter anderem SPD, Grüne, mehrere AIDS-Hilfen und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft aufgerufen. Auf Flugblättern, die verteilt werden, steht unter anderem zu lesen: ‚Statt über das Infektionsrisiko aufzuklären, wiegt der Maßnahmen-Katalog die Bevölkerung in falsche Sicherheit. … Wir fordern: Keine Absonderungskliniken für AIDS-Kranke, sondern Ausrüstung möglichst vieler Krankenhäuser zur Betreuung von AIDS-Kranken.’ Auf dem Zug durch die In-
nenstadt kommt es zu erheblichen Verkehrsstauungen. Zahlreiche Kundgebungsteilnehmer tragen Plakate gegen Ministerpräsident Strauß, in Sprechchören wird verlangt ‚Weg mit Strauß.’ Von Seiten der Bayerischen Staatsregierung wird kritisiert, SPD und Grüne schürten durch eine Desin-
formation über den wahren Inhalt des AIDS-Bekämpfungskonzepts nur Ängste, statt sich einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Weltseuche zu stellen.“12 – Für eine Massenpetition, die den bayrischen Landtag auffordert, den Maßnahmenkatalog aufzuheben und stattdessen „sozial-
verträgliche“ Maßnahmen zur Bekämpfung von AIDS und zur Pflege von AIDS-Kranken einzufüh-
ren, werden bisher 15.000 Unterschriften abgegeben.13

Siehe auch „Gedenken“.

(zuletzt geändert am 23.8.2020)


1 Schwules Museum, Berlin

2 Der Spiegel 12 vom 16. März 1987, 131 f.

3 A.a.O., 8.

4 Schwules Museum, Berlin

5 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 80, 1, 17; siehe „Krankes Volk“ von Franz Joseph Bieringer; 2 Fotos: Schwule Demo vom 4. April 1987, Standort: www.einestages.spiegel.de.

6 Stern vom 19. Februar 1987, 28.

7 Der Spiegel 7 vom 9. Februar 1987, 32.

8 35 Jahre Münchner Löwen Club, München 2009, 14 f.

9 Der Spiegel 43 vom 21. Oktober 1991, 72.

10 Der Spiegel 17 vom 20. April 1987, 56.

11 Eckhard Henscheid, Polemiken, Frankfurt am Main 2003, 615.

12 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 246, 1, 17.

13 Siehe dazu auch „Gauweilers Richter: Zwei Jahre Gefängnis für HIV-Positiven“ sowie „Unrecht ist, was Strauß nicht passt“.