Materialien 1987
Unrecht ist, was Strauß nicht passt
„Beleidigung, Staatsverunglimpfung“, tönt es aus der Staatskanzlei. Warum? Weil man sich von der Losung: „Die bayerische Staatsregierung ist schlimmer als jede Seuche!“, mit der das Anti-Strauß-Komitee zur Demonstration gegen die AIDS-Zwangsmaßnahmen am 4. April aufrief, beleidigt fühlt? Wer glaubt, die Herren der bayerischen Staatsregierung hätten die Richter gegen das Anti-Strauß-Komitee bemüht, weil sie sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen, der irrt. Denn auch unsere Ersatzlosung „Die bayerische Staatsregierung bekämpft das Volk und nicht AIDS!“ ist seit dem 22. Oktober beschlagnahmt und verboten. Nein, den Herren geht es nicht um ihre Ehre. Es geht ihnen darum, zu verhindern, dass die Menschen über den wahren Charakter der CSU-Politik aufgeklärt werden!
Im März dieses Jahren verschaffte sich die Polizei zeitgleich in München, Regensburg, Augsburg und Nürnberg Zutritt zu 5 Wohnungen von Mitgliedern des Anti-Strauß-Komitees. Die Wohnungen wurden durchsucht und unser Aufruf zur Demonstration am 4. April gegen die AIDS-Zwangsmaßnahmen der bayerischen Staatsregierung beschlagnahmt. Als Vorwand diente den Staatsschützern die Losung des Flugblatts: „Die bayerische Staatsregierung ist schlimmer als jede S…“ Begründung: Der Satz stelle eine „nicht mehr gerechtfertigte Schmähkritik gegenüber den Mitgliedern der bayerischen Staatsregierung“ dar. Messerscharf orteten sie auch noch eine Verunglimpfung des gesamten bayerischen Staats – nämlich in der Aussage: „In Bayern liegt die Gesundheitsfürsorge in Händen des obersten Polizisten …“
Offensichtlich „verunglimpft“ die Tatsache, dass der Chef der bayerischen Polizei sich zuständig gemacht hat für AIDS, ganz Bayern. (Dass dieser Sachverhalt eine Zumutung ist für die gesamte bayrische Bevölkerung, ist sicher richtig. Aber das ist nicht unsere Schuld, sondern die der bayerischen Staatsregierung.)
Die Verbreitung des Flugblatts ist seither untersagt, der presserechtlich Verantwortliche des Anti-Strauß-Komitees, Christian Lehsten, ist deshalb am 1. Dezember angeklagt wegen angeblicher Staatsverunglimpfung und Beleidigung. Dass diese Anwürfe ein reiner Vorwand sind, dafür haben die Richter am 22. Oktober schwarz auf weiß den Beweis geliefert:
Am 22. Oktober stand die Polizei wieder in der Wohnung von Christian Lehsten, wieder hatte sie die Tür aufgebrochen, wieder schnüffelte sie in Abwesenheit der Bewohner darin herum. Ziel der Suche: der Aufruf des Anti-Strauß-Komitees zu der zweiten Demonstration dieses Jahres gegen die AIDS-Zwangsmaßnahmen am 24. Oktober. Seit dem 22. Oktober ist nun auch unsere Ersatzlosung für „Die bayerische Staatsregierung ist schlimmer als jede S… !“ verboten. Dabei hatten wir uns bemüht, eine Formulierung zu finden, die die sensiblen Gemüter der bayerischen Staatsregierung nicht zu sehr in Wallung bringen würde. Die neue Losung („Die bayerische Staatsregierung bekämpft das Volk und nicht AIDS!“) fiel allerdings so präzise aus, dass die Staatsanwaltschaft wieder zuschlug.
Noch andere Passagen des Flugblatts fand Amtsrichter Fertl anstößig und verbot sie kurzerhand: Genau jene Stellen des Textes, in denen die Politik der bayerischen Staatsregierung entlarvt wird als das, was sie ist:
„Für den Polizeistaat ist Gauweiler zuständig. Statt Fürsorge für die Kranken
die Errichtung eines allgegenwärtigen Kontrollapparats, der uns alle ständig im Visier haben soll.“
„Wir meinen, dass die bayerische Staatsregierung schlimmer ist als AIDS, weil sie Gesetze schafft und Zustände vorbereitet, die das ganze Volk terrorisieren können.“
Wir haben diese Sätze geschrieben, weil der Maßnahmenkatalog nichts, aber auch gar nichts zur Eindämmung von AIDS beiträgt – dafür die Ausbreitung der Krankheit fördert. Im Gegenteil: AIDS ist der bayerischen Staatsregierung ein willkommener Anlass, um mit Zwangsmaßnahmen gegen das Volk vorgehen zu können. Willkür bestimmt, wer als ansteckungsverdächtig gilt, nach dem Maßnahmenkatalog kann das jeder sein.
Wir haben diese Sätze geschrieben, weil wir Rechtsbrüche, wie sie an Linwood B. verübt wurden, vorausgesehen haben; weil wir wussten, dass Strauß und Gauweiler nicht bei dem stehenbleiben, was sie haben. Gauweiler erklärte auf einem sogenannten juristischen Fachkongress in Mannheim am 22. November 1987, Bayern stehe mit den AIDS-Maßnahmen erst am Anfang. Er forderte die namentliche Meldepflicht und die Reihenuntersuchung. Geht es nach Gauweiler, wird das nicht das Ende sein.
Wer die CSU, wer Strauß, wer Gauweiler kritisiert – der „verunglimpft“ den Staat.
Richter Fertl erkennt zwar, dass die Kritik des Flugblatts sich gegen die bayerische Staatsregierung richtet, doch behauptet er dreist, dass damit „der Freistaat Bayern insgesamt getroffen und geschmäht werden soll.“ Die Logik ist infam: Da wird einfach die CSU-Politik mit dem gesamten Land Bayern gleichgesetzt, so dass jede Kritik an der CSU als Angriff auf „das Ansehen“ des bayerischen Staates verfolgt und bestraft werden kann. Das heißt Zensur, heißt das Verbot jeder Kritik an der CSU und ihren Vertretern schlechthin.
Insbesondere wirft uns Richter Fertl vor, wir hätten behauptet, „dass die freiheitlich demokratische Grundordnung in Bayern nicht mehr besteht.“ Das ist natürlich blanker Unsinn, denn wenn sie völlig abgeschafft wäre, würden uns die Flugblätter nicht nur verboten, sondern wir und alle anderen Demokraten säßen im Gefängnis. Wir sagen gerade nicht, dass hier in Bayern Faschismus herrscht, sondern wir sagen, dass Strauß und die CSU Machtmittel schaffen, die in den Händen von Faschisten tödlich sind und mit denen staatlicher Terror ausgeübt werden kann, ohne dass geltendes Recht gebrochen werden muss. Und das nicht nur mit dem Maßnahmenkatalog. Wir erinnern nur an die Massenverhaftungen der 141 Jugendlichen in Nürnberg im Jahr 1981, an die rassistische Hetze zur Aushöhlung des Asylrechts, an die Demontage des Demonstrationsrechts, die Durchsetzung der „Sicherheitsgesetze“ und die Anti-Terror-Gesetze und die Polizeieinsätze in und um Wackersdorf.
Weil diese Tatsachen nicht an die Öffentlichkeit sollen, weil verhindert werden soll, dass damit Menschen auf die Straße gebracht werden, wird beschlagnahmt, verboten, prozessiert gegen Antifaschisten.
Deshalb soll der Antifaschist Christian Lehsten 2.400 DM zahlen. Der Prozess gegen ihn hat am 1. Dezember begonnen. Wie zu erwarten war, kam die Richterin noch zu keinem Urteil, weil der Angeklagte und seine Verteidigerin die Verhandlung zu einer Anklage gegen Strauß und Gauweiler wegen Verstoß gegen das Grundgesetz durch den Maßnahmenkatalog machten. Der Prozess wird am 14. Dezember um 9.00 Uhr im Justizgebäude, Nymphenburgerstraße, Raum 219 fortgesetzt.
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Aus der Einlassung von Christian Lehsten,
gehalten vor Gericht am 1. Dezember 1987
Wie ist es zu diesem Prozess gekommen?
Betrachten wir das einmal konkret. 7 Richter, 5 Staatsanwälte, 4 Oberstaatsanwälte, 1 Ministerialdirigent, 1 Ministerialrat, mindestens 30 Polizisten, 15 Schreibkräfte, 5 Sachbearbeiter, 2 Schlüsseldienste und natürlich 1 Ministerpräsident sind laut 300 Blatt Verfahrensakten daran beteiligt, mind. 24 Beschuldigte zu ermitteln, 6 Hausdurchsuchungen, 1.051 Flugblätter von 100.000 verteilten zu beschlagnahmen und einen Strafbefehl über DM 2.400.— zu erlassen.
Ein weltberühmter Münchner sieht das so:
„In früheren Zeiten … war einer Rechtsordnung Genüge geschehen, an die sich alle innerlich gebunden fühlten. Jetzt war die Gerechtigkeitspflege von keinem lebendigen Gefühl mehr legitimiert, sie war zum bloßen Instrument der Macht und ihrer Bewahrung geworden. Ihre Maßnahmen wirkten schwächlich, willkürlich. Möglich, dass in Bayern die Justiz besonders bösartig und verbohrt gehandhabt wurde, aber viel anders war es ringsum auch nicht.“
Dieser Münchner heißt Lion Feuchtwanger und schrieb diesen Satz 1930 in seinem Buch Erfolg, einer überzeugenden Warnung vor dem Faschismus.
Demokratischer Informationsdienst 67 vom Januar 1988, 5 ff.